Erste Szene

[252] HANS in Paletot und langen Stiefeln, kommt vom Scheibenstand. Er dreht sich in der Tür um und ruft zurück. Heinrich!


Er geht ins Zimmer und beginnt sich auszuziehn.


HEINRICH kommt. Er ist ihm eilig und schweigend beim Ausziehen behilflich.

HANS nachdem er abgelegt und abgeschnallt hat, geht ins Schlafzimmer, dessen Tür er offen läßt. Ruft heraus. Die Litewka.

HEINRICH nimmt aus dem Kleiderschrank die Litewka und bringt sie ins Schlafzimmer.

HANS im Schlafzimmer. Mach Licht!

HEINRICH kommt zurück und steckt die Lampe auf dem Schreibtisch an.

HANS ruft. War jemand da?

HEINRICH. Nein, Herr Leutnant. Er nimmt einen Brief vom Schreibtisch. Aber ein Brief ist gekommen.


Er geht mit ihm zur Tür.


HANS von drinnen. Brief? Woher?

HEINRICH sieht nach dem Poststempel. Aus Köln, Herr Leutnant.

HANS. Na laß man. Ich komme.

HEINRICH legt den Brief auf den Tisch zurück.

HANS kommt in Litewka und langen Hosen. Er ist nervös erregt.

HEINRICH zwei Briefe in Geschäftskuvert vom Schreibtisch nehmend – lächelt.

HANS. Na, was grinst du denn, du alter Esel?

HEINRICH. Auch zwei Rechnungen, Herr Leutnant. Eine grüne und eine blaue.

HANS winkt ab. Weg damit. Du weißt ja, wo die Rechnungen hinkommen.

HEINRICH zur Kommode, zieht eine Schublade auf und wirft die beiden Briefe hinein.

HANS setzt sich.

HEINRICH springt herbei, kniet und knöpft ihm die Strippen zu.[252]

HANS. Ist das Parolebuch schon dagewesen?

HEINRICH. Nein, Herr Leutnant.

HANS. Weißt du schon, was morgen los ist?

HEINRICH mit dem linken Bein beschäftigt. Jawohl, Marschübung im Bataillon mit eingetretenen Rekruten.

HANS. Lieblich. Sehr lieblich!

HEINRICH ist fertig und steht auf.

HANS. Also vorwärts! Kaffee!

HEINRICH holt aus dem Vertiko die Kaffeemaschine usw. und stellt sie auf den Tisch. Dann geht er ins Schlafzimmer und holt die Wasserkaraffe.

HANS ist zum Schreibtisch getreten, hat den Brief erbrochen und liest. Er legt ihn mit einer unwilligen Bewegung wieder auf den Tisch. Ä! – gib mir erst mal 'n Schnaps!

HEINRICH stürzt zum Vertiko, auf dem das Schnapsservice steht.

HANS geht zum Sofa und setzt sich in die rechte Sofaecke. Schenk mal ein! Was kann das schlechte Leben nützen! Die Tugend siegt ja schließlich doch.

HEINRICH bringt den Schnaps. Gehen Herr Leutnant heute noch aus?

HANS. Wart's nur ab, mein Sohn. Es wird sich schon alles historisch entwickeln. – Es klopft. Herein!

EINE ORDONNANZ öffnet schüchtern die Tür und bleibt stehen.

HEINRICH tritt hinzu und nimmt der Ordonnanz das Parolebuch ab.

HANS. Na, zeig mal her die Bescherung. – Also, Heinrich: morgen früh sechs Uhr dreißig antreten.

HEINRICH. Jawohl, Herr Leutnant.

HANS hat mit dem ans Parolebuch angebundenen Bleistift seinen Namen eingeschrieben und gibt es ihm zurück.

HEINRICH bringt es der Ordonnanz. Ordonnanz ab.

HANS. Ja – also nun hör mal zu, mein Sohn! Wie heißen die drei Haupttugenden eines brauchbaren Burschen? Sauberkeit ...

HEINRICH. Sauberkeit, Pünktlichkeit und –

HANS. Na?

HEINRICH. Und Verschwiegenheit, Herr Leutnant.

HANS. Verschwiegenheit. Jawohl. Was hier in[253] meinen vier Pfählen vorgeht – geht niemanden was an. Verstanden! Hier bin ich mein eigener Herr.

HEINRICH. Jawohl, Herr Leutnant.


Bedient ihn mit dem Kaffee.


HANS. Also – sperre deine Ohren auf. Er sieht nach der Uhr. Jetzt ist es Sechs durch. Punkt halb Sieben erwart ich den – Besuch einer jungen Dame.

HEINRICH. Jawohl, Herr Leutnant.

HANS. Sie weiß nicht, wo mein Zimmer ist, und weiß überhaupt nicht in der Kaserne Bescheid. Du wirst dich deshalb ein paar Minuten vor halb Sieben am Kasernentor aufpflanzen. Setzst die Burschenmütze auf, verstehste?

HEINRICH. Jawohl, Herr Leutnant.

HANS. Und wenn du die junge Dame kommen siehst, gehst du auf sie zu, nimmst deinen Deckel ab und fragst sie höflich, ob sie vielleicht zu Herrn Leutnant Rudorff wolle. Wenn sie dann ja sagt, führst du sie schleunigst, auf dem schnellsten Wege hierher. Du brauchst sie nicht erst zu melden, machst ihr einfach die Tür auf und läßt sie eintreten. Ganz glatt. Verstanden?

HEINRICH. Jawohl, Herr Leutnant.

HANS. Na: was denn?

HEINRICH. Ich soll um halb Sieben –

HANS. Ein paar Minuten vor halb Sieben, und wartest eventuell bis Sieben.

HEINRICH. Soll ich das Fräulein von Herrn Leutnant –

HANS. Das ist nicht mein Fräulein, Schaf, dummes! Ich habe gesagt: eine junge Dame.

HEINRICH. Soll ich eine junge Dame abwarten und zu Herrn Leutnant bringen ... ohne anzuklopfen.

HANS. Richtig. Und die Burschenmütze aufsetzen, daß sie dich erkennt. So, nun schwirr ab!

HEINRICH ab.

HANS trinkt Kaffee, nimmt den Brief noch einmal auf, liest und legt ihn kopfschüttelnd wieder weg. Er stützt den Kopf in die Hand und seufzt. Es klopft. Er fährt heftig zusammen – und steht auf.


Quelle:
Otto Erich Hartleben: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Band 3, Berlin 1913, S. 252-254.
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