II

[126] Der einzige Freund, den ich in Stolberg zurückgelassen habe und mit dem ich jetzt noch hin und wieder fröhliche Karten wechsele, ist merkwürdigerweise der Hotelbesitzer und Weinhändler Eberhard. Bei ihm, in dem alten Gastzimmer, fand ich bald die Gemütlichkeit, um die mich die »Gesellschaft« Stolbergs durch Verschließung ihrer »Häuslichkeit« zu bringen den Versuch am untauglichen Objekte gemacht hatte.

Es war etwas Besonderes, dieses alte Gastzimmer. Es hatte seine verborgenen Tiefen und gefährlichen Heimlichkeiten wie ein Buch von Friedrich Nietzsche. Da ging es plötzlich ein paar Stufen in die Höhe, dann wieder unvermutet um die Ecke, und auf einmal stand man staunend vor einem niedrigen, breiten Block oder Kasten, der in seiner geheimnisvollen Einfachheit alles begriffsmäßige Denken zu suspendieren drohte. Man atmete erleichtert auf, wenn einem Eberhard nach Aufheben eines ungeheuren Deckels den Einblick in ein friedliches Lager von Rotspohn und Zigarren gewährte.

Den Mittelpunkt dieses alten romantischen Raumes bildete natürlich der Stammtisch der Honoratioren von Stolberg. Dieser Stammtisch, an dem sich die Hausväter der »guten« Familien kaum sehen ließen, bildete gewissermaßen den Hort der geistigen Opposition gegen das[127] regierende Grafenhaus. Da residierte und räsonnierte der alte Oberstabsarzt mit dem riesigen Rittmeisterschnauzbart und gab mit seinem blutigen Witze, dem außer dem Weberschen Demokritos nichts heilig war, den Ton an. Dann war da der Amtsanwalt, der sich seine Weltanschauung aus Johannes Scherr gebildet hatte, dabei aber äußerlich ein korrekter, förmlicher Beamter geblieben war, der immer recht hatte. Er besaß eine große natürliche Beredsamkeit, und da er außerdem ein guter und gescheiter Mensch war, so verkehrte ich mit ihm trotz mancher wunderlichen Schrulle, die ihm eigen war, am allerliebsten. Er war nicht in dem Tal geboren, sondern viel herumgekommen, und besaß eine Freude an Paradoxen, die durchaus nicht kleinstädtisch war, durch die er sich vielmehr in den Ruf einer dämonischen Natur gebracht hatte.

Der Oberstabsarzt, der Amtsanwalt und ich hatten uns bald gefunden und bildeten demnächst stillschweigend einen engeren Ring und den eigentlichen Stamm des Stammtisches. Wir verstanden einander alsbald schon durch Blicke und rächten uns für unsern Zwangsaufenthalt in diesem Wust von Rittertum und Pfäfferei, wie wir das fromme Stolberg ein für allemal getauft hatten, durch manches feinere oder gröbere Possenspiel, in dem wir die Rollen mit eingeborenen Stolbergern besetzten.

Unserer ganz besonderen Beachtung erfreute sich der junge Pastor Viemeyer, der dritte Geistliche[128] am Ort. Er war der Sohn des Stolberger Materialwarenhändlers Viemeyer und vereinigte in sich so ziemlich alle glänzenden Eigenschaften des Stolberger Nationalcharakters. Seit einigen Jahren war er verheiratet und bewohnte den zweiten Stock seines geräumigen Elternhauses; parterre war der Laden, und eine Treppe hoch wohnten die Alten.

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Eines Abends im Hochsommer war das Eberhardsche Gastzimmer überfüllt. Es waren viele Fremde in Stolberg, und so herrschte ein ungewohntes Leben. Der Oberstabsarzt und der Amtsanwalt spielten mit dem Pastor Viemeyer Skat um die Zehntelpfennige. (Höher spielt kein Stolberger.) Ich saß bei einer Flasche Moselwein in dem großen Ledersessel und sah zu. Der Pastor war schlechter Laune, er hatte schon gegen dreißig Pfennige verloren.

Da schlug es neun, und alsobald fuhr regelmäßig wie jeden Abend die Post vor. Alle Stolberger stürzten nach uralter Sitte an die Fenster. Pastor Viemeyer gab mir schnell seine Karten, und es gelang mir, in der Eile einen Nullouvert für ihn zu verlieren.

Der Post entstiegen zwei Damen, die jetzt unter Eberhards Führung in das dichtbesetzte Gastzimmer traten, eine ältere und eine junge – wie es schien, Mutter und Tochter. Eberhard wußte einen Platz für sie ausfindig zu machen, und sie bestellten sich das Abendessen.

Die jüngere Dame war eine pikante[129] Erscheinung: sehr schlank, fast mager mit vollem, üppigem, blaßrotem Haar, ein paar dunklen, wie versteckten Augen und frischen, starken Lippen. Ein eigentümlicher Reiz ging von ihr aus ...

Die ältere Dame war sehr dick und behäbig. Ihre lebendigen Augen blickten freundlich und liebenswürdig allen Menschen ins Gesicht. Beide waren mit großstädtischer Eleganz gekleidet.

Während ich mir sie in aller Ruhe besah und mich zugleich an der Neugier aller andern erfreute, verlor der Pastor ein Spiel nach dem andern. Denn das war zu viel für ihn: diese beiden Damen, die so plötzlich da hereingekommen waren, und über die man doch nun nachdenken mußte, und dabei Skat spielen – nein! das war zu viel für ihn.

– Vergeben Sie so viel Sünden, wie Sie Lust haben, Herr Pastor, aber hier die Karten nicht! – schnauzte der Oberstabsarzt und warf die Karten auf den Tisch.

Jetzt fragten die Damen Eberhard nach einem Zimmer. Der aber zuckte in größter Höflichkeit die Achseln, bedauerte unendlich und versicherte, daß er für diese Nacht schon alles, alles vergeben habe, sogar das Billard, auf dem zwei Touristen aus Sondershausen schlafen würden.

– Aber was machen wir denn da?

– O, Sie werden schon noch unterkommen, gnädige Frau. Ich werde Ihnen nachher Friedrich mitgeben; der wird Sie in eins der andern Gasthäuser bringen; irgendwo wird wohl noch Platz sein. –[130]

Als die beiden Damen mit Essen fertig waren, gingen sie mit Friedrich.

Kaum waren sie draußen, sagte ich:

– Herr Pastor, ich begreife Sie nicht.

– Wieso?

Ich hatte einen Blick mit dem Amtsanwalt gewechselt. Er hatte mich verstanden, und indem er seine Karten musterte, sagte er:

– Ja, ich muß auch sagen, Herr Pastor, manchmal sind Sie mir ganz unverständlich.

– Aber was denn?

Der Oberstabsarzt hatte die Situation überschaut. Er drehte seinen Riesenschnauzbart und meinte:

– Ja, unser Pastor ist eine Sphinx.

– Aber meine Herren, was wollen Sie denn? Nun kam ich wieder dran:

– Ja, mein lieber Herr Pastor, wenn Sie das nicht fühlen ...

Dann der Amtsanwalt, der den Faust gern zitierte:

– Wenn Ihrs nicht fühlt: Ihr werdets nie erjagen!

Und schließlich wieder der Oberstabsarzt:

– Schad't nichts, Herr Pastor: wenns Herz nur gut ist, Hauptsache ist, daß's Kind Luft hat. –

– Nämlich – sagte ich – Sie haben sich da eine der herrlichsten Gelegenheiten entgehen lassen, der Außenwelt zu erweisen, was die Stolberger für weltmännische und liebenswürdige Menschen sind. In Ihres Vaters Hause sind[131] viele Wohnungen: wie Sie hörten, daß Eberhard für die Damen kein Zimmer mehr hatte, mußten Sie als Stolberger Patriziersohn aufstehn, sich den Damen vorstellen und sie bitten, gütigst bei Ihnen absteigen zu wollen; sehen Sie, das mußten Sie tun. Gastfrei, Herr Pastor! Immer hübsch gastfrei!

– Ja, ja, – fügte der Amtsanwalt hinzu, – schon die Alten schätzten die Gastfreundschaft für eine Tugend. Aber freilich: das waren Heiden.

– Jawohl, – knurrte der Oberstabsarzt, – liebe deinen Nächsten, aber halte ihn dir vom Leibe.

– Also, Sie meinen wirklich, meine Herren..

– Reden wir nicht mehr davon, die Sache ist erledigt. Jetzt werden die Damen schon in irgend 'ner Winkelherberge untergekrochen sein – sagte der Amtsanwalt und fügte in gleichgültigem Tone hinzu: – Es tut mir nur leid um die schöne Notiz, die ich an den »Hannoverschen Courier« hätte senden können: Unser Städtchen erfreut sich in diesem Sommer einer ganz besonderen Beliebtheit beim verehrlichen Reisepublikum. Der Zudrang ist augenblicklich ein so großer, daß er nur durch die selbstlose Opferwilligkeit unserer privaten Mitbürger, an ihrer Spitze der Herr Pastor Viemeyer ... Schade, wirklich schade ... Übrigens: Tourné. –

Man spielte weiter. Der Pastor war tief niedergeschlagen.

Nach Verlauf einer halben Stunde kamen die Damen jammernd zurück. Friedrich berichtete,[132] daß alles besetzt sei – auch alle Billards, fügte er gewissenhaft hinzu. Eberhard war ratlos, die jüngere Dame dem Weinen nah.

Aber nun kam unser Pastor. Wie die Damen wieder erschienen, hatten wir ihn nur stumm und mahnend angesehen. Er stand auf.

– Gestatten Sie.. mein Name ist Viemeyer.

Erstaunt blickten die beiden Damen auf und – lächelten. Die Viemeyerschen Verbeugungen waren berühmt.

Er erklärte ihnen nun, daß er Seelsorger sei.

– Auch bin ich verheiratet und wohne im Hause meiner Eltern, gleich hier links an der Ecke.

Schließlich lud er sie dann höflichst ein, vorlieb nehmen zu wollen usw., mit einem ganzen Schwall kleinbürgerlicher Redensarten.

Es entstand eine atemlose Stille. Das ganze Gastzimmer hatte schweigend die Szene verfolgt, die guten Stolberger sahen mit Stolz auf ihren jungen Pastor und bewunderten seine weltmännische Kühnheit.

Als er geendet, sahen die beiden Damen sich an, lächelten noch einmal flüchtig, und dann nahm die ältere von ihnen die Einladung mit würdevollen Worten an.

Ganz glücklich, triumphierenden Blickes, zog der Pastor mit ihnen ab. –

Wir drei aber knobelten – nachdem sich der Schwarm verlaufen hatte – zur Feier eines solchen Tages noch drei Flaschen Sekt aus. Ich fing sie alle drei.

Quelle:
Otto Erich Hartleben: Ausgewählte Werke in drei Bänden. Berlin 1913, S. 126-133.
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