Sechste Szene

[72] Im nächsten Augenblick bringen die Diener Tobias Buntschuh auf dem Lehnstuhl getragen. Er ist noch genau so gekleidet, wie er im dritten Akt erschienen.


DIENER FRANZ leise. Wohl lieber ins Bett gleich ... nicht, Frau Buntschuh ...

MUTTER BUNTSCHUH ebenfalls leise. Nein doch ... stille ... er rührt sich ja schon ... halten sie doch ... geliebter Junge ... was ist denn nur ... Man hat den Stuhl jetzt niedergestellt. was ist denn nur ... himmlischer Vater ...[72]

BUNTSCHUH liegt wieder völlig reglos.

DIENER FRANZ schüttelt beobachtend mit dem Kopfe. Sehr leise zu Mutter Buntschuh. Wie ich den Anfall kenne ...

BUNTSCHUH plötzlich scharf. Aber völlig gedehnt und schwer verschlafen. Gar nichts ... gar nichts ... gar nichts ... kennst du ... Einfaltspinsel ... gar nichts ... kennst du ... stehen lassen sollt ihr mich auf der Stelle ...

MUTTER BUNTSCHUH. Der Sessel steht schon, Junge ...

BUNTSCHUH noch immer mit geschlossenen Augen. Ich will um keinen Preis so weiter über die Treppen emporschweben ... wer ist es denn eigentlich ... Mutter ... bist du es ...

MUTTER BUNTSCHUH indem sie den Dienern winkt beiseite zu treten. Geliebter Tobias ... wer soll es denn sonst sein ...

BUNTSCHUH. Ich bin eine jämmerliche Karkasse ...

MUTTER BUNTSCHUH. Wirklich des Todes bin ich erschrocken, Junge ... was ist denn nur wieder ...

BUNTSCHUH. Schicke das Dienervolk in die Kirmes ... was geht denn das dem Pack an, was mir passiert ist ...

MUTTER BUNTSCHUH gibt einen stummen Wink, so daß alle Diener verschwinden.

BUNTSCHUH. Nein ... nein ... ja nicht bewegen ... wo soll es denn hingehen ... ich mag nicht mehr fliegen ... verfluchter Humbug ... haltet doch stille ...[73]

MUTTER BUNTSCHUH. Junge ... du bist noch nicht bei dir, Tobias ...

BUNTSCHUH. Tobias ... sehr wohl ... der Hexenmeister Tobias ... aaah ... Halb Gähnen, halb Seufzen. Tobby, der Mann mit den Regimentern aus lauter Zahlen ... und nicht nur immer auf dem Papiere ... Tobby, der Allerweltsgoldzusammentreiber ... Tobby, der winzige Spinnenleib mit den großen Mutteraugen ... Tobby, der ewig Ungestillte ... Tobby, der ums Leben Betrogene ... Tobby, der seine Arme ausstreckt nach dem Tröpflein Seligkeit Gottes ... und greift nur immer in leere Luft ...

MUTTER BUNTSCHUH. Tobias ... was redest du nur für unsinniges Zeug ...

BUNTSCHUH. Jawohl ... jetzt bin ich gehörig eingeschraubt in die Daumschrauben ... und bin endlich einmal in der Lage, mich an Herrn Tobias Buntschuh direkt zu wenden ... so werde ich ihm also jetzt dieses unsinnige Zeug laut vorposaunen ...

MUTTER BUNTSCHUH. Meinetwegen, Junge ... da posaune es ihm nur vor, was dir aufs Herz drückt ... sage es um Gottes willen nur heraus ... ich bin ganz allein um dich ...

BUNTSCHUH stöhnend. Armes Herze ... armes Herze ... zwei müssen es sein ... die Mutter und der Sohn ... die müssen es sein ...

MUTTER BUNTSCHUH. Rede ... rede ... jedes Wort ist mir heilig ...

BUNTSCHUH. Engbrüstig bin ich ... den Brustkasten hat mir eine Übermacht eingedrückt ... verflucht bin ich mit mißgestaltetem Leibe ... eine quarrige Stimme ist mein Teil ... einen Höcker hat eine Übermacht aus mir herausgetrieben ... Scharfsinn[74] ist mein Teil ... noch in der Todesminute werde ich die Zahl der Sekunden erjagen, die ich lebte ... wie es der Varietékünstler Beinhaus tat ... ja ... ich muß Tobias Buntschuh doch ein einziges Mal unter vier Augen die Wahrheit ins Gesicht sagen ... aaah ... Halb Gähnen, halb Seufzen. Mutter ... es ist noch ein ... Traum ... ich schlafe wieder ...

MUTTER BUNTSCHUH leise vor sich hin. Gottes Erbarmen ... so lange hat doch eine solche Ohnmacht noch nie gedauert ... Sie hat geklingelt und läuft sofort an die Tapetentür, tut behutsam die Tür auf. Wartet einen Moment und spricht dann zum Diener hinaus. rufen Sie ganz eilig Herrn Wendelborn ... er kennt ihn schließlich noch besser wie seine Mutter ...

DIENER FRANZ leise. Daß Herr Wendelborn überhaupt heut abend gar nicht mehr hergekommen ist, begreife ich auch nicht. Ab.


Quelle:
Carl Hauptmann: Die goldnen Straßen. Leipzig 1918, S. 72-75.
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