Zweiter Vorgang

[207] Im Atelier des Meister Tibaldi. Die Flügeltüren nach den tieferen Räumen sind weit geöffnet. Man sieht in erstrahlendes Fest. Man hört aus einem entfernten Saal feine Streichmusik. Man sieht in ein Durcheinander von Masken. Das Atelier ist zuerst selbst leer.

Diener Hunger als Ritter in Harnisch maskiert, ohne Gesichtsmaske, steht stumm wie eine Statue am Türpfosten. Eine junge, schlanke Frauenmaske in Silberflittern, mit gelöstem Blondhaar, eine Märchenprinzess, ist ins Atelier hereingehuscht, hinter ihr drein ein Herr mit einem breiten, purpurnen Ordensbande über Frack und weisser Weste, einen silbernen Flitterstern an der Hüfte hängend. Sie jagen einander. Die Dame hat sich auf das Liegesofa geborgen. Der Herr kniet davor.


DER HERR MIT ORDENSBAND. Ach ... bitte ... bitte ... bitte ... Ich muss unbedingt deine Hand sehen ... Herrgott, sei doch vernünftig ... gib doch die Hand ... gib mir doch deine Hand her, ... mit der kleinen Warze am Gelenk die ... die Linke ...

DIE DAME sträubt sich, ohne einen Laut zu geben.[207]

DER HERR MIT ORDENSBAND. Ih ... gar nicht dran zu denken ... du kommst nicht los ... nun gar nicht, wenn du mich kratzt ... Gott ... ich zerreisse dir noch den Handschuh womöglich ...

DIE DAME versucht mit aller Kraft die Hände des Herrn von ihren Händen abzustreifen. Der Herr mit Ordensband Gib wenigstens einen Laut von dir, Flitterprinzessin! ... Gib wenigstens ... das wollte ich doch sehen ... einen Seufzer sollst du von dir geben, Flitterprinzessin! ... Willst du nicht wenigstens jetzt ein einziges Wort flüstern ...

DIE DAME plötzlich gequält und drollig zornig, indem sie sich losmacht. Gott, Gott ... nur fort ... das wäre noch das Allerletzte ... Das tut ja weh ...

DER HERR MIT ORDENSBAND. Ich blase es ... oh ... oh!

DIE DAME. Ich habe deine Roheit dick ... versteh mich.[208]

DER HERR MIT ORDENSBAND spielt den begossenen Pudel. Hahahaha ... ich Narr ... ich war, von Sinnen ...

DIE DAME lacht toll. Du suchst doch eines andern Weib ... Sieh' her ... ich habe am Handgelenke keine Warze, wie deine Buhlerin ... auch an der Hüfte nicht ... ih, Gott bewahre ... ich bin noch nicht vermählt ... ich bin noch keusch ... ich buhle mit dem Winde ... ich buhle mit den Göttern, wie Danae ... ich buhle mit dem Schwane, wie die Leda ... ich bin noch nicht gemein, wie die, nach der du rumirrst!


Sie ist unter diesen Worten mehr und mehr in die tieferen Räume zurückgegangen, von dem Herrn gefolgt, der toll hinterdrein lacht.


DIOGENES ein in graue Lumpen gekleideter, barhäuptiger Mensch, das Gesicht von einer lachenden Larve bedeckt, schreitet von einigen Masken umgeben, an jenen Beiden vorüber. Er trägt an einem kurzen Stabe, wie an einer Angelrute, eine grosse brennende Laterne. Er leuchtet drollig über Dame und Herrn. Vor sich hinsprechend, indem er nun Schritt um Schritt weiter vorkommt. Nein nein ... hier finde ich es sicher nicht[209] ... obwohl ich sehr bedächtig danach forsche ... und mir das Suchen an sich schon geradezu einen tollen Spass macht.

EINE DAMENMASKE ruft. Was sucht Ihr denn, Herr Philosoph?

DIOGENES. Ih, Gott ... wie meint Ihr das ... was ich hier suche, verliebte Dame? ... hört einmal ... Wenn ich zum Beispiel die üble Nachrede suchte ... ach Gott, alle Nachrede ist übel ... es gibt überhaupt nur eine Nachrede ... die ist übel und die macht übel ... denn selbst wenn die Nachrede gut ist, ist sie es nur als Vorrede ... und scheint nur nicht übel, um einen andern als desto grösseres Übel hinzustellen ... das fliegt wie dichte Spreu in allen Stuben und in allen Strassen herum ... und sammelt sich wie Haufen welker Blätter im Herbste in allen Winkeln an. Nein, mein Herr, das wäre mir zu wohlfeil ... und ausserdem verscheucht mich der üble Geruch ... Oder wenn ich zum Beispiel die hohen Ideale suchte, die in den Köpfen herumfliegen,[210] wie Nebelschemen, und die dann aus den Köpfen auf die Leinwände gemalt werden ... und in Stein gehauen werden ... oder sonst Gestalt gewinnen ... man nennt so etwas dann poetische Gestalt gewinnen ... bei Zeus und Aphrodite! ... zu Tausenden stecken sie in allen Galerien und Museen ... und Bibliotheken ... man könnte sie zusammenkehren zu Bergen, wie die Küchenreste ... oh ... das sind Schätze ...! ... Mit dem tausendsten Teil könnte man weiss Gott ein ganzes Volk wieder auf Seel und Beine bringen ... Aber das ist nicht meines Amtes ... Zum Schulmeister bin ich nicht gemacht ... Zum Prinzenerzieher auch nicht ... Zum Volksredner erst recht nicht ... Und ausserdem sind die zehn Gebote schon seit mehr als viertausend Jahren bekannt, und werden immer noch nicht gehalten ... Ja, lieber Herr und verliebte Dame, denken Sie bloss die Millionen Richter und Büttel und Henker, die in dieser langen Zeit fortwährend gerichtet und gebüttelt und gehenkt haben, was sich nicht nach den zehn Geboten richten gewollt! ... Man könnte dreist verzweifeln an diesem Geschäft[211] ...Nein nein nein ... da schreit auch viel zu viel durcheinander ... die Konkurrenz ist zu gross ... in dieser Zeit der zehntausend neunhundert und neun und neunzig Propheten ... wer; soll denn da noch wissen, auf welchen Propheten er zu hören hat! ... das scheucht mich ... Ich suche, was doch niemand finden kann ... Kinder im Mutterleibe sollen es besitzen.., am frühen Maitage eine schnee-schneeweisse Kirschblüte, die eben ins Morgenlicht aufbricht, soll es besitzen ... manchmal ist auch schon darein der Wurm gekommen ... Er hat einen heimlichen Schlupf entdeckt ... Sehen Sie ... wer weiss denn das alles? ... Wer kann denn immer die Wege wissen, die ein Wurm findet ...


Unterdessen ist ein Bergamaske, ein Hirt mit Laute, von Masken umkreist, hereingekommen. Die Tanzrhythmen in der Ferne sind verstummt. In seinem rechten Arm hängt lose eine Zigeunerin. Im Linken eine Maske im Ballettkostüm in tiefen Trauerfarben.


DER BERGAMASKE singt melancholisch und sehnsüchtig zur Laute.

»Votre âme est un paysage choisi

Que vont charmant masques et bergamasque[212]

Jouant du luth et dansant et quasi

Tristes sous leurs déguisements fantasques.«


Er schreitet durch das Atelier und um den Tisch, die ganze Schar um ihn in heiteren Gebärden. Diogenes geht fast als Letzter sehr heiter hinterdrein, drollig von hinten die Frauenmasken überleuchtend.


DIE BALLETTMASKE neben dem Bergamasken ausgelassen. Verrückt ist der ... betrübt ... anmasslich ... toll ... frech quält er jede ... die sich ihm ergeben ... mit Brand ... mit Eifersucht ... mit kaltem Hohn ... Verachtung ... Dünkel ... Kleinmut ... was ihr wollt.


Das melancholische Singen des Bergamasken überklingt die Worte. Die Schar schreitet wieder aus dem Atelier in die tieferen Räume.


DER DIENER HUNGER der so lange alles stumm und regungslosen Blickes an sich hatte vorübergehen lassen, schlägt sich plötzlich wie ausgelassen aufs Knie, ein paarmal, wendet sich ab, kichert in sich hinein und sagt vor sich hin. Das war er ... das war der Meister ... grossartig ... das war doch echt ... ein solcher Ton alleine ... dieser Gesang vom Meister ... der zieht einem gleich die ganze Seele raus ... ich könnte weiss Gott heulen ...[213] nein verflucht ... das ist wahrhaftig eine Träne ... und warum?


Musik und Leben drängt sich in den Nebenräumen von neuem. Der Diener Hunger hat sich wieder zur Statue zusammengerückt und steht neu unbeweglich, als sich von der oberen Treppe ein Geräusch hören lässt und eine weibliche Maske Schritt um Schritt zögernd herniedersteigt. Sie ist in ein graues Tuch bis über den Kopf eingehüllt. Blickt hinter einer grauen Seidenmaske. Sie steigt zögernd und doch hastig hernieder.


DER DIENER HUNGER ist aufgeschreckt, scheu der Maske näher getreten. Wer ist es denn? Wer ist es denn nur um Gotteswillen ... wer denn?

DIE MASKE lacht klingend und kühl auf. Dann breitet sie plötzlich, indem sie auch ihre Gesichtsmaske hastig einen Augenblick vom Gesicht nimmt, das graue Tuch wie Flügel auseinander. Man sieht, dass sie ein orientalisches loses, freies Gewand trägt, Kopf, Hals, Arme und Fussgelenke mit mancherlei Schmuck und goldenen Ketten behangen. Sie hat ebenso lautlos das graue Tuch rasch wieder umgelegt.

DIENER HUNGER ist völlig erstarrt in ihren Anblick. Nein nein nein ... unser Fräuleinchen ... Jesus ... wo kommen Sie denn her, Fräuleinchen? ... was soll man denn dazu sagen? ... des Meisters Lebensmedizin! ... des Meisters[214] Allheilmittel ... wenn er Sie hier bloss sieht, er stirbt vor Schrecken ... er stirbt vor Gewissensbissen. Das könnte ihn umbringen, Fräuleinchen!

RANKE leidenschaftlich gespannt in das Fest horchend. Ach ... es zieht mich wahnsinnig ... es zieht mich wahnsinnig ...

DIENER HUNGER. Jesus, Jesus, wie sind Sie denn nur vom alten Tantchen weggekommen? ... Da hat Sie Meta doch heimlich fortgelassen, während Tantchen schläft ... die Mädchen stecken aber wirklich alle unter einer Decke ... Sie können doch gar nicht hierbleiben ... noch gar, wo Sie dieses Kostüm anhaben, worin der Meister voriges Jahr das schöne Frauenzimmer ... diese Miss ... diese sehr vornehme, tolle Miss, die ihn immer mit ihren langen Handschuhen klappste, ...

RANKE wieder ihre grauen Schleier auseinander breitend. Bin ich nicht entzückend? ... Ja ja ...[215] worin Vater voriges Jahr die tolle Miss Ellinor viele Male gemalt hat ... immer so als orientalische Königin ...

DIENER HUNGER. Hahahaha ... diese vornehme tolle Miss, die immer mit den Füchsen gefahren kam ... mit dem kleinen Kerl hinten, den sie Krum nannte ... und die den Meister gar nicht aus dem Garne liess ... Himmlischer Vater ... wenn der Meister die hier wittert ...!

RANKE leidenschaftlich in die Säle beobachtend. Wo ist Kropatkin? ... ich muss es sehen, wenn die Männer toll werden ... da ... der mit dem purpurnen Ordensband ... wie sie alle dumm einherstolzieren, diese Herren Ritter ... und Narren ... und die losen Damen erst ... ha ha ha ha ... und denken nur alles immer in die Luft, was sie sind ... das ist Meister Rauch ... oh, ich erkenne sie alle ... das ist Frau Kropatkin, die ein bissel watschelt, wie ein Enterich, und die Brust so rausreckt ... und Papa näselt immerfort wie ein Schwermütiger ...[216] das Lied geht mir schon im Blute um und macht mich bald ganz traurig.


Sie springt unversehens wieder die Treppe hinauf.

Ein grösserer Schwarm hat sich der Tür genähert. Drei weibliche Masken haben sich daraus gelöst, die offenbar in Erregung ins Atelier herein eilen.


DIE DAME MIT DIADEM die ihren Königsmantel und ihre Schleppe sehr achtlos nachzerrt. Ach ... Quatsch ... ich kenne doch Tibaldi ... er ist wieder in seiner verrückten Laune ... jedesmal, wenn ich ihm in den Weg komme, biegt er ab ...

DIE MASKE IN TRIKOT als kleiner Beelzebub. Tibaldi hat uns noch nicht gesehen ... er hat uns sicher noch nicht erkannt ... wir wollen ihm einmal gerade in den Weg treten.

DIE DAME MIT DIADEM äugt gespannt auf den Schwarm, indem sie die beiden andern Masken festhält. Ach, du hast Ahnung ... was der für Augen hat, wenn er sehen will ... da ... kannst du dir so etwas Freches denken? ...[217]

DER BERGAMASKE dem Schwarm jetzt voran, hat sich, sobald er die drei Masken gesehen hatte, sofort wieder zurückgewendet.

DIE DAME MIT DIADEM.

Diese Kanaille ...


Sie ruft hinter ihm drein.


Tibaldi ... Tibaldi ...

sieht uns ... glotzt mich an mit Feuerblicken ...


Sie folgen dem Schwarm.


EINE HERRENMASKE als purpurner Teufel mit Reiherfeder ruft hinter drein. Das verfluchte Lied ... wenn er doch endlich aufhörte dieses Lied zu winseln ... mir ist schon rein, als wenn es mir aufstiesse, wie eine süsse Speise ... dieser ewige Klang in Moll ... die Glieder zittern einem heimlich davon ...


Unterdessen ist ein Don Quixote vor sich hin meditierend einsam herein gekommen. Er steht einen Augenblick und starrt vor sich hin. Dann

blickt er sich plötzlich verstohlen nach der oberen Treppe um, umgeht die Treppe und Bucht mit den Augen wie absichtslos herum. Eine Gruppe unmaskierter Herren stürmt herein.


EINER DARAUS. Wo sind denn die Diener mit dem Sekt?[218]

EIN ANDERER. Ich bin verdurstet wie ein gejagtes Tier ...


Diener, die in den tieferen Räumen servierten und herum standen, bieten Champagner an.


EIN ANDERER. Wir müssen uns stärken ... um anzubeten ...

EIN ANDERER. Wird denn nicht die Komödie im heiligen Hain bald beginnen?

EIN ANDERER. Ich bin nur neugierig, was sich für eine Göttin auf den Altar wagen wird.

DON QUIXOTE während sich alle wieder aus dem Atelier entfernen. Keine Spröde!


Das Atelier ist wieder leer.

Ranke ist plötzlich die Treppe herabgeeilt. Hunger will sie zurückhalten.


RANKE leidenschaftlich in das Fest beobachtend. Oh ... es zieht mich wahnsinnig ... es zieht mich wahnsinnig ... da ... und wird so körperlich alles ... dieser Lärm ... dieses Geflirr ... dieses Schluchzen ... dieses Durcheinander ...[219] diese Grimassen in allen Gesichtern ... ich habe Duft in meine Kleider gegossen ... ich werde auf einmal ganz taumelig ...


Sie lacht leise vor sich hin.


Ach ... wenn ich auch nicht so schön bin, wie meine tote Mutter ...


Sie breitet langsam wie für sich wieder ihr Tuch wie Flügel aus.


Ich bin schön, wie Rahel ...


Sie nimmt ihr Tuch zusammen. In sich.


Ich zittere an Händen und Füssen, ich kann sie gar nicht mehr stillehalten ... es ist so himmlisch kühl in diesen losen Gewanden ... huh ... ich muss hineinlaufen unter alle die Tollen ... halte mich doch nicht so fest an dem kostbaren Kleide ... du zerdrückst womöglich etwas, du Tollpatsch ... gerade werde ich laufen ... und wie eine Tigerin auf den Altar springen womöglich, während die andern es noch nicht wagen ... werde oben stehen ... und alle die Augen rings um mich werden im Glänze schwimmen ... berauscht sein ... mich demütig flehen ... mich demütig versuchen ...[220] bis ich ganz langsam Schleier um Schleier fallen lasse ... einen um den andern ... ganz ganz langsam ... ganz feierlich ... ohne alle Hüllen emporsteige, nackt wie die Venus ... Meister Tibaldis schöne Tochter ... ah ...


Sie zuckt fast.


DIENER HUNGER ranke zurückdrängend. Um Gotteswillen, sie kommen wieder alle im Schwärme ... Der Meister mit der Laute vorneweg. Nur gehen Sie, Fräuleinchen, nur verstecken Sie sich, Fräuleinchen!


Ranke geht fast taumelnd bis zur Treppe zurück und schreitet dann wie eine Schlafwandlerin zaudernd mit rückgewandtem Gesicht Schritt um Schritt die Treppe empor. Unterdessen ist Don Quixote und bald dahinter ein Herr im orangenen Atlasfrack, mit schwarzer Atlasweste und Kniehosen, der statt Hut ein Tintenfass mit grossem Federkiel auf dem Kopfe trägt, vereinsamt hereingekommen. Beide durchschleichen wie Hyänen lauernd den Raum.


EINE HERRENMASKE psalmodierend durch das Atelier wandelnd.

»Der Morgen erwacht, der Abend verglüht,

wir jagen Falter und werden nicht müd.

EINE WEIBLICHE MASKE drollig mit ihm.

Nur freilich schlägt uns das Herzchen oft[221]

heiss über dem Gürtel, und unverhofft

kribbeln und krabbeln Gelüste:

und es ist uns, als ob man uns küsste ...«

DER HERR IM ORANGENEN FRACK während beide gelangweilt mit den Augen an den Wänden des Ateliers und nach der oberen Treppe herumsuchen zu Don Quixote. Wen sucht Ihr zu verschlingen, Herr Ritter?

DON QUIXOTE. Und wen Ihr?

DER HERR IM ORANGENEN FRACK. Ich ...?

DON QUIXOTE. Ich ...?

DER HERR IM FRACK. Die Unschuld suche ich.

DON QUIXOTE. Die Unschuld suche ich.

DER HERR IM FRACK. Wie heisst die Unschuld heut?[222]

DON QUIXOTE. Nennt rasch den Namen, denn morgen ist es aus damit.


Beide lachen ausgelassen.


DER HERR IM FRACK. Nur ernsthaft, Ritter ...

DON QUIXOTE. Ernsthaft ... ha ha ha!

DER HERR IM FRACK. Seid Ihr ein Ehrenmann?

DON QUIXOTE. Seid Ihr ein Ehrenmann?

DER HERR IM FRACK lacht.

DON QUIXOTE. Kropatkin ...

DER HERR IM FRACK reicht ihm die Hand. Freund ... ach, sie ist göttlich. sie ist[223] kindlich ... sie ist schamlos ... und ist nicht hier!


Unterdessen hat sich die Lautenmusik wieder dem Atelier genaht.


DER BERGAMASKE mit der Laute ist von Masken umkreist, neu herein gekommen. In seinem rechten Arme, lose eingehakt hängt jetzt die Dame mit Diadem, während links noch die trauernde Balletmaske eingehakt geht. Er singt melancholisch und sehnsüchtig, indem er wieder das Atelier um schreitet.

»Tout en chantant sur le mode mineur

L'amour vainqueur et la vie opportune,

Ils n'ont pas l'air de croire à leur bonheur

Et leur chanson se mèle au clair de lune.«


Er hat die ganze Schar, die ihn umtollte, auch die beiden Herrenmasken wieder mit sich hinausgezogen. Diogenes geht mit der Laterne hinterdrein, drollig den Damen nachleuchtend.

Ranke ist wieder von der Treppe oben niedergehastet. Da schleppt sich gerade die Zigeunerin müde und einsam ins Atelier herein. Ranke stutzt zurück, weil sie nicht mehr entfliehen kann. Aber die Zigeunerin geht an Ranke völlig achtlos vorüber und legt sich sofort auf das Sofa. Plötzlich erhebt sie sich wieder, reisst ihre Maske vom Gesicht und wirft sie widerwillig zur Erde.


Verfluchte heisse Maske ... macht mich rasend ...


Dann betrachtet sie die Rosen, die sie vorgesteckt hat, nimmt sie von der Brust und sagt drollig.
[224]

Vom Feuer meines Herzens welken alle Blumen ... da ... nimm die eine, die noch frisch ist ... schöne Frau ... weil du dich noch verhüllst!

RANKE nimmt die Rose und küsst der Zigeunerin scheu und kindlich die Hand.

DIE ZIGEUNERIN streckt sich aufs Sofa, um zu schlafen. Eine Gruppe Herrenmasken stürmt herein, sodass Ranke von neuem die Treppe emporflieht.

EINER DARAUS. Wo sind denn die Diener mit dem Sekt?

EIN ANDRER. Man krepiert rein in der Hitze ...


Diener bieten Champagner herum.


EIN ANDRER. Werden sie nicht endlich die Komödie beginnen?

EIN ANDRER. Die Komödie im heiligen Haine beginnt bald.

EIN ANDRER. Hat sich denn schon die Göttin gefunden?[225]

EINE DAMENMASKE. Der Wein fährt einem in die Beine.

EINE ANDRE. Ich bin auch müde wie ein Hund ... Ich könnte mich gleich unter den Tisch verkriechen ...

EINE HERRENMASKE. Tue es nicht ... vielleicht liegt schon ein andrer, drunten.

DIE VORIGE DAME lacht. Da sind wir zwei ...

EINE ANDRE. Pfui, pfui, Zypresse!

DIE VORIGE DAME. Wer zweifelt hier an meiner Reinheit?

EINE HERRENMASKE. Ich zweifle an allem.


In der Tiefe der Räume merkt man ein Zuströmen zu dem heiligen Haine hin. Der Lärm nimmt von diesem unsichtbaren Saale aus immer mehr zu. Indess jetzt ein lustiger Flötenspieler mit einer lieblichen Hirtenweise die noch versprengten Masken vollends hinter sich drein sammelt und nach sich zieht.

[226] Eine weibliche Maske schleppt sich müde herein und legt sich auf einen Fauteuil im Atelier zum Schlaf.


ANDERE die hinter dem Flötenspieler herziehen. Er sammelt die Beter.

EINE ANDRE. Er lockt zum Altar der Kunst.

EINE ruft. Wer wird denn die Göttin sein?

EIN ANDRER. Wir müssen sehen, ob es sich lohnt, anzubeten ...

EIN DRITTER. Der Sockel steht noch leer ...

EINE ANDRE. Er wird nicht mehr lange leerstehen ...

EIN DRITTER. Tausend für eine ...[227]

EIN ANDRER. Die Weiber sinnen heimlich in sich, kämpfen mit sich und zaudern noch.


Die Räume sind jetzt ganz leer geworden. Auch Diener Hunger hat sich schliesslich dem Zuge neugierig nachgeschlichen. Nur die Zigeunerin schläft auf dem Sofa. Eine weibliche Maske schläft im Lehnstuhl.


DIE ZIGEUNERIN ruft im Halbschlaf. Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her, Tibaldi!

RANKE ist plötzlich die Treppe herabgehastet. Sie fliegt durch die leeren Räume und verschwindet ebenfalls in der Tiefe.

DIE ZIGEUNERIN ruft im Halbschlaf. Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her, Tibaldi!


Eine Pause. Man hört nur Lärm von dem tieferen Saale.


EINIGE MASKEN erscheinen wieder. Hast du den Meister Tibaldi gesehen ...?

EINE ANDRE. Habt ihr Meister Tibaldi gesehen?[228]

ANDERE. Jetzt umtanzen sie die Göttin im Haine der, Büsser.

ANDERE. Eine sonderbare Heilige! Sie ist noch ganz in graue Schleier eingehüllt.

ANDERE durcheinander. Sie sprang auf den Marmorsockel ... sicher wie eine Gemse ... wo selbst noch Kropatkins Weib in nagendem Ehrgeiz zögerte. So muss es sein!

ALLE lachen toll. Man ruft durcheinander. Habt ihr's gesehen? ... Kropatkins Weib reisst sich die Maske vom Gesicht ... auch andere Weiber schäumen vor Wut.

ANDERE. Die alten und jungen Narren beginnen zu wallfahrten ...

ANDERE WEIBLICHE MASKE. Habt ihr Meister Tibaldi gesehen? Er steht erstarrt und berauscht unter dem verhüllten Götzenbilde und rührt keine Saite mehr.[229]

EINE ANDRE. Ich glaube, er zittert ...

EIN ANDRER. Meister Tibaldi steht berauscht ... und zittert vor Erwartung ...

EINE ANDRE. Göttin ... enthülle dich!

ANDERE. Sie spielen dazu den Pilgerchor ... hört nur!


Die Räume sind wieder ganz leer geworden.


DON QUIXOTE schreitet allein einsam suchend aus der Tiefe ins Atelier. Oh diese Anbeter! ... die noch Wahn haben! ... die noch von dem Geheimnis sich narren lassen! ... die noch Genuss suchen! ... Ich suche die Dämmerung ... ich trage den schwelenden Brand ... ich liebe die Verachtung ... ich liebe den Hass ...


In dem Augenblick, wo er die schlafende Zigeunerin gesehen hat, schleicht er nahe.


Da ... Ruth! ...


Dann ruft er leise.
[230]

Weib ... du machst mich rasend in diesem Kostüm ... ich verzehre mich nach dir ... Oh, wenn ich jetzt ein Gott wäre ... wenn ich jetzt das ganze, übrige Gesindel von dieser Erde wegfegen könnte ... Einen Donnerschlag in diesen Taumel, der die Musik verstummen machte ... ich möchte noch einmal wieder ...

DIE ZIGEUNERIN. Was? ... Phantast ... du möchtest immer, was du nicht besitzt ... Komm mir nicht nahe ... bleibe fern ... Auch ich möchte zwischen grünen, schaukelnden Ähren liegen ... wenn die Sommerstille aus den Hummeln summt ... Dämon du ... und Narr ... begnüg dich ... es ist Winter draussen ... der Märzwind rüttelt an der Balkontür ... hörst du ... du musst dir schon die Zeit vertreiben, wie du bist ... in deine Narrenhülle eingenäht.

DON QUIXOTE. Erkennt Ihr mich denn, schöne Ruth?

DIE ZIGEUNERIN. Ach, was heisst kennen ... Ich kenn dich[231] nicht ... will dich nicht kennen ... und du ... du kennst mich nicht ... nun gut ...

DON QUIXOTE. Das klingt ja grossartig ...

DIE ZIGEUNERIN. Und ist doch klein, wie alles ... heb dich fort ... Ich bin nicht dein Modell ... dem du befiehlst ...

DON QUIXOTE roh. Ach ... du bist nicht um ein Haar besser, als jedes andere Weib.

DIE ZIGEUNERIN indem sie sich wieder umlegt. Satanas!

DON QUIXOTE. Dein bisschen Tun ...


Er lacht höhnisch.


Dein bisschen Musik machen vor der Menge Ohren ... dein bisschen Virtuosentum mit den Lilienfingern ... das ist alles doch nur Sand in die Augen der Menge ... raffiniertes Versteckenspielen ... eine Glanzkomödie der Seele, wie der Pfau[232] sein Rad schlägt alle sind .... Du bist doch, wie sie

DIE ZIGEUNERIN gespannt. Was bin ich ....? ... bitte!


Es ist eine tiefe Stille plötzlich eingetreten. Man hört nur noch ein rhythmisches, dumpfes Schreiten aus den tieferen Räumen. Es drängen gleich danach wieder einige Masken hervor.


EINE FRAUENMASKE. Habt ihr Meister Tibaldi gesehen?

EINE HERRENMASKE. Es ist jetzt alles stumm geworden ...

EINE ANDERE HERRENMASKE. Jetzt enthüllt sich die Göttin ... hört nur, wie sie stumm werden.

EIN ANDRER. Und Meister Tibaldi steht erstarrt davor und weint ...


Diogenes kommt mit seiner Laterne herein.


DON QUIXOTE ruft in prahlerischer Laune. Weib bist du ... von feiner Haut umschalt ... ein schöner Käfig, worin der grosse Lockvogel ... der süsse Weltbetrug gefangen[233] sitzt ... verliebt bist du ... sonst nichts ... und bist rein gar nichts, wenn dich der Mann nicht zur Geliebten macht ... in diesem Fasching ...


Die Räume füllen sich jetzt von neuem. Diener präsentieren Sekt.


DIOGENES kommt immer näher. Jetzt könnte man weiss Gott viele abgelegte Herrlichkeiten zusammenkehren, wie die Mandelschalen von einem Festtische. Jetzt knackt man die Mandeln ... und sieht den Kern ... huh, huh, das ist ja die Tollheit in der Welt, dass alles nur halb ist ... den Armen hungert nach Gelde ... den Keuschen nach Verführung ... aber jetzt kann man überhaupt gar nicht mehr unterscheiden, was oben oder unten ist ...

HERRENMASKEN kommen. Wer ist denn nur dieses orientalische Weib?

ANDERE. Ich könnte ein Königreich wegwerfen ... ein Vermögen verschwenden ... um diese orientalische Göttin.[234]

ANDERE rufen. Wer ist denn nur dieses orientalische Weib? ... Schockschwerenot ... wer ist denn nur dieses orientalische Weib?


Es ist ein lautes Durcheinander im Atelier. Der Pilgerchor ist hörbar.


DER BERGAMASKE demaskiert als Tibaldi erscheint mit Anderen in leidenschaftlicher Erregung. Himmel ... habe ich denn eine Vision? ... Haltet mich an den Händen! ... Packt mich fest an! ... Erschüttert mich denn der Wahnsinn? Ist das Ellinor? Wo kommt Ellinor her? Bin ich in paradiesischem Taumel? Bin ich! irre vor Seligkeit? ... Macht es mir Grimassen vor? ... Was denn nur ... bei allen Göttern? ... Wer denn? ... Ellinor ... Ellinor ...


Er stürmt mit anderen wieder in die Tiefe.


EINIGE rufen durcheinander. Prosit!

EINER. Auf was?

EIN ANDRER. Auf ...[235]

EINE WEIBLICHE MASKE. Ach, schweigt still! Es sind doch nur Halbheiten, die die Männer reden.

EINE ANDRE. Schweigen gilt heut als geistreich ... und auch als vornehm ... es erweckt den süssen Schein des grossen Sehers und steckt doch meist ein behaglicher Wiederkäuer dahinter, der sich nur im Augenblicke nicht recht Rat weiss.

EINE WEIBLICHE MASKE kommt aus der Tiefe gestürmt. Bringt doch nur das Kind fort ... bringt doch nur das Mädchen fort ...

STIMMEN und Sektgläser klingen durcheinander. Die Kunst ... die Kunst ...

ANDERE kommen. Wer ist denn nur dieses Mädchen, das sich so feierlich gebärdet?

ANDERE rufen. Es ist Meister Tibaldis Tochter.[236]

EINE HERRENMASKE die mit dem Glase dazu tritt. Hat niemand einen Spruch?

EINER ruft. Hat niemand einen Gott?

EINE WEIBLICHE MASKE. Plappert doch nach, was sie alle reden, wenn sie sich öffentlich gross tun.

DIE MASKEN im Vorderraum durcheinander. Das Vaterland ... die Liebe ... die Kunst ...

DON QUIXOTE. Die Kunst ... die Kunst ... es lebe die Kunst ...

EINE ANDERE FRAUENMASKE. Ach, ihr seid langweilig.

ANDERE. Wenn Meister Tibaldi sie erkennt, erdrosselt er sie.

ANDERE. Habt ihr Meister Tibaldi jetzt gesehen?[237]

ANDERE. Meister Tibaldi starrt wie ein Wahnsinniger auf das junge Weib, das wie eine Königin aufragt.


Man hört neuen Lärm und Jauchzen. Man hört.


STIMMEN durcheinander schreien. Kropatkin ... pfui ... Kropatkin ... du wirst es nicht wagen ...

ANDERE. Er will ihr die letzten Schleier vom Leibe reissen.

ANDERE. Wie sie kühn abspringt ...


Andere lachen.


ANDERE rufen. Wie dieses Frauenzimmer kämpfen kann ...

ANDERE. Wer ist es denn nur?

EINE FRAUENMASKE. Bringt doch nur das Kind fort!

EINE ANDRE. Es ist Meister Tibaldis Tochter.


Im nächsten Augenblick stürmt eilig fliegend Ranke herein. Meister Kropatkin hinter ihr drein. Taumelnd dahinter Meister Tibaldi.
[238]

MEISTER KROPATKIN ruft. Weib oder Unschuld ... ich muss dich erkennen ...


Meister Tibaldi ist plötzlich in der halben Tiefe erstarrt stehen geblieben.

Ranke und Kropatkin jagen einander. Ranke eilt wieder in die Tiefe. Als Kropatkin bei Tibaldi vorüber jagt, fällt ihm Tibaldi an die Gurgel.


MEISTER TIBALDI. Kropatkin ... Freund ... um alle Seligkeiten ... Himmels und der Erde ...


Er stösst Kropatkin gewaltsam von sich und eilt Ranke nach.


Ellinor!

EINIGE RUFE. Wenn Meister Tibaldi sie erkennt, erdrosselt er sie.


Ranke erscheint wieder von Meister Tibaldi gejagt.


MEISTER TIBALDI. Ellinor ... o Ellinor ...


Er hat sie endlich ergriffen und hält sie fest.


Um jeden Preis ... wer bist du ... Ellinor ...


Tibaldi kommt ein heimliches Grauen an. Er hat Ranke erkannt. Er lässt sie langsam abwehrend entwischen. Er ist wie nicht bei sich. Blickt sich scheu und voll Scham nach allen Seiten um, indessen Ranke wieder in die tieferen Räume flieht. Alles strömt ihr nach. Es wird ganz leer[239] um Meister

Tibaldi. Meister Tibaldi ist auch wieder noch ein paar Schritte wie sinnverwirrt mitgelaufen.


DIE SCHLAFENDE ZIGEUNERIN. Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her ... Tibaldi!

MEISTER TIBALDI tastet sinnverwirrt nach seiner Laute und singt und spielt schrill und zerhackt.

»Au calme clair de lune triste et beau

Qui fait rever les oiseaux dans les arbres

Et sangloter d'extase les jets d'eau,

Lesgrands jets d'eau sveltes parmi les marbres.«


Er ist bei der vorletzten Zeile langsam zurückgekommen. Er steht jetzt ganz einsam im Atelier.


DIE IM LEHNSTUHL SCHLAFENDE MASKE ruft ebenfalls. Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her ... Tibaldi!


In der Tiefe ungesehen ist von neuem lautes Jauchzen und Getümmel ausgebrochen. Man hört neu die Klänge des Pilgerchores.

Meister Tibaldi greift plötzlich seine Laute am Griff und zerschlägt sie an der Wand. Dann starrt er vor sich hin und legt langsam die Hand vor die Augen.


DIE SCHLAFENDE ZIGEUNERIN ruft. Tibaldi ... Tibaldi ... komm doch her ... Tibaldi!


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Carl Hauptmann: Panspiele. München 1909, S. 207-240.
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