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[3] Draußen fern schwammen Krähen im Sommerhimmel unter weißen Lämmerwolken. Das Auge des Schläfers hatte sich blinzelnd ein wenig aufgetan und sah in den blendenden Raum. Die blühende Heide rings glänzte Blättchen an Blättchen, und der zerschlitzte Schatten der dunklen Eichenkrone fiel um Einen, der noch immer träumen wollte.

»Im Auge muß unser Glück wohnen, wenn wir malen, unser ganzes Lebenswunder.«

Das schauende Auge des Schläfers öffnete sich nun ganz im tändelnden Eichenschatten auf der weiten Heide. Drüben hinter dem hohen Korn stand ein rotglühendes, schlankes Mädchen und stach Torfziegel um Torfziegel. Weißleuchtend in der großen, hellen Sonnenkiepe, die das junge Gesicht bis zur Nasenspitze in Schatten legte, ragte es auf und sah nicht herüber.

»Im Auge muß unser Glück wohnen, wenn wir malen, unser ganzes Lebenswunder.«

Das schauende Auge des Träumers sah über die goldnen Weizenhalme ins goldene Licht, staunte in die fernen, stillen, schlanken Bewegungen der blendenden Gestalt, sah und staunte und begriff nicht[3] die Welt. Das schauende Auge sah hoch die blauen Räume und fern, fern niedertauchen die schneereine Herde der Wolkenflocken, denen es ins Unbegrenzte nachsann, sah dicht am Raine die schwebenden Halme der tausend Zittergräser und rote Köpfe Klee, Glockenblumen und die weißen Sonnen der Kamille.

Und im Ohre klang dazu ein wunderbares Summen und Singen. Bienen tauchten von Blume zu Blume. Die schlanken Blumenstengel bogen sich. Es gab einen Hall aus vielen Seelen. Der Träumende hatte die Augen neu zugetan. Er lauschte innig diesem eigenen Surren und Hallen, das ihm ein Erntesang däuchte, sich in einen feinen, fernen Chor zerlösend, und breiter und voller einherrauschend, neu tiefe Brummtöne zugemischt, die der Wind in Eile herübertrieb. Der Wind selber sang verloren für sich in Heidekraut und Gräsern und Blumen. Er sang oben freiziehend im Luftgeräume. Im Blätterbusche der Eiche rieselte er, rauschte seine Stimme eilig. Und die ferne Lerche schluchzte heiter näherkommend eine verträumte Sonnenjubelweise.

Der Schläfer schlief nicht. Er lauschte in sich und erlauschte die Welt. Jetzt, wo er hier lag im[4] Eichenschatten, war er sich zurückgegeben, ganz nur er, mit einer Seele ohne Verlangen.

Es waren Jahre vergangen, daß er ohne Halt und Sinn gesessen oder gewandert oder sich ganz vergessen hatte.

Er hatte damals gelächelt, als der Brief von Frau Rehorst ihm alle Seligkeit gleich auf einmal ausgeblasen. So ist die Welt und geht der Frühling vorüber. Er war es schon ein paarmal jetzt gewahr geworden, daß die Seligkeiten im Blute hinrinnen, wie Lieder mit Anfang und Ende.

»Jedes Ding hat eine lebendige Grenze. Und jedes Glück. So ist es,« sagte er. Er hatte nur gelächelt, als es ihn damals hinausgetrieben, und er vom Malen nicht hatte mehr seelensatt werden können.

Aber »Einhart« war es noch immer. Nur hatte er einen Blick, der wie ein sicherer Dolch aufblitzte jetzt, wo er sich erhob. Er war ein schlanker, stattlicher Mann geworden. Er ging in Jahren auf die Dreißig. Er hatte noch immer ein zähes gelbgraues Gesicht, schmal, glattrasiert, mit schwarzhaariger Umrahmung des dunklen Augenglanzes, der noch tiefer schien, und sein Fetthaar hing noch in Strähnen.[5] Aber alles war streng an ihm. Die Linie um die Nase bis zum Mundwinkel furchte sich. Die Stirnfalten zitterten, wenn er die Dinge ansah. Der seine Mund lag fast immer fest geschlossen. Und er hatte ein versunkenes, eigensinniges Leben in allen seinen Bewegungen.

Einhart war heut einsam in die Heide gewandert. Draußen und drinnen die eine Welt, die ihn trug, und die er war. Wie er seinen Sommerhut von der Heide aufnahm, sah er noch einmal zu Leidchen hinüber. Dann zeichnete er einige Linien in sein winziges Skizzenbuch, klappte es zu und schlug mit dem Stocke frei und trotzig in die Lüfte.

Wenn jetzt Grottfuß gekommen wäre, wäre er irre geworden, einen zu finden, den er kannte. Einhart war jetzt nicht imstande, an alle Lebensgänge sich groß noch zu erinnern. Einhart war gewiß augenblicklich ganz unbekannt, daß es so etwas wie eine Akademiestadt und einen Herrn Grottfuß wirklich gab, der seit Jahren die Künste seines Landes und aller Länder der Erde bemaß. Einhart wußte jetzt davon so wenig, wie etwa, daß er Nase und Ohren hatte und nicht ganz nur jener süße[6] Heideruch und die weite, summende Halmensonnenwelt und Himmelsbläue selber war.

Fern lag alles.

Die Zerrüttungen des stummen Herzens waren über Einhart weggegangen. Sturm geht über die Weizenflur. Die Halme beugen sich hin und her, schwanken und tauchen auf. Die Zerrüttungen zeichneten Strenge und Vergessen in seine dunklen Züge, Nicht-sich-rückwenden, Lächeln und Einsamkeit, und Schauen und Hinhorchen, was in dieser Welt des Wesens innen und außen sich jeden Augenblick neu begeben will. Es begab sich dieser einzig-artige Traum, der einer Seele eigene Welt zusammenfügte, und wo noch immer der Turm des Baues sich nicht aufreckt, nur erst hohe Mauern und Zinnen sich erheben, die den neugierigen Blick abweisen.

Einhart war noch immer ein Zigeuner. Den Sinn für die offnen Erdenräume, für Wälder und Heiden, hatte er nicht verloren. Ob er auch, in seiner Strenge begehrt, längst selbst in Schlössern und Burgen an Fürstentafeln seine Speisen gegessen und sich als Künstler hatte rühmen lassen.

Nach einer sinnlosen, ziellosen Wanderschaft hatte er von neuem Menschen gemalt. In einer der[7] letzten großen Ausstellungen war Begehr nach seinen Werken gewesen, und ein Mäcen hatte das meiste davon aufgekauft. An Mitteln fehlte es ihm nicht. Aber auch an Gleichgültigkeit dagegen hatte er nicht abgenommen. Er fragte noch immer Krähen und Gräser, Wolken und Bäume um ihre Freuden, und wußte nicht recht, ob er nicht lieber ein Baum sein möchte und harren und es sich begeben lassen, als es mit Erjagen erraffen und nicht finden. Wenn man das Enttäuschung nennt, mag man auch ihn enttäuscht nennen.

»Reich leben ist eine Sache für sich,« sagte er oft mit Lächeln und nannte dann das Geheimnis mit drolligem Namen.

Damals, als er aufgewühlt in die Beglückungen des Blutes sich ganz einsenkte, waren die inneren Fluten ein Meer ohne Grenzen, und der Beseligung keine Zweifel. Hart und voll Wunder alles. Die Glutfeuer der Tiefe gaben Wärme und die Farben des Schicksals wie glühe Rosen. Das war nicht mühsam Zusammentreiben, was nicht kommen will. Das war ganz Geschenk und Fülle, Leid und Licht, Zerrissenheit und eins in allem.

Jetzt schmerzte nichts in Einharts Blute, wo er[8] ein ruhiger, selbstsicherer Künstler nun am Heideraine hinging und die Welt von ferne träumte, wie eine Baumkrone träumt, hin und her, hin und her, tändelnd mit Licht, spielend mit Schatten.

Das sind die Zeiten des stillen Erntewartens auch im Geiste, die nichts von Leiden und Leidenschaften, vom Erjagen und Ersehnen wissen.

Quelle:
Carl Hauptmann: Einhart der Lächler. Roman in zwei Bänden, Band 2, Leipzig 61915, S. 3-9.
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