[642] Er verläßt mit seinem Gefolge den Pavillon und tritt in den Garten. Rauschende Musik begrüßt ihn. Das Volk wirft sich nieder. Er setzt sich und gibt dem Vezier ein Zeichen.
DER VEZIER.
Der Herr der Gläubigen will heut
In eigener Person des Rechtes pflegen,[642]
Wie ers getan, als er den Thron bestieg!
Tritt vor, Kadi!
DER KADI tritt vor, hinter ihm sein Gefolge, mit verschiedenen Gefangenen, unter denen man Babeck und Assad bemerkt.
Du, dessen Angesicht
Die Sonne selbst verdunkelt, dessen Tritt
Die Erde zittern macht und dessen Stimme
Den Sternen Halt gebietet, demutvoll
Küß ich die Füße dir und preise mich
Beglückt, daß deine tiefe Weisheit jetzt
Den kleinen Schatz von Einsicht und Erfahrung,
Den ich erwarb, vertausendfachen will!
DER KALIF zeigt auf Babeck.
Was hat der Mann verübt?
DER KADI.
Er tötete!
Und keinen Menschen – Das geschieht zu oft,
Als daß es mich noch sehr erhitzen sollte! –
Nein, eine Spinne!
DER KALIF zu Babeck.
Hast dus nicht gewußt,
Daß der Prophet die Spinnen heilig sprach,
Seitdem sie, eifrig webend, zu Medina
Ihn in der Höhle bargen vor dem Feind?
BABECK.
Ich tat es aus Versehn!
DER KADI.
So sprechen alle!
Der eine will vom Baum gefallen sein,
Und so das fromme Tier zertreten haben,
Der andre gibt für blind sich aus, doch immer
Wird Mahomeds Beschützerin erquetscht,
Anstatt daß man ihr Fliegen fangen soll.
Was diesen Wicht betrifft, so hab ich Zeugen,
Daß er vor Monden auch nach einer Katze
Schon Steine warf.
DER KALIF.
Das deutet allerdings
Auf ein verwildertes Gemüt.
Zu Babeck.
Vernahmst
Du nie, daß der Prophet, als seine Katze
Auf seinem Ärmel eingeschlafen war
Und ihn die Stunde zum Gebete rief,
Den Ärmel abschnitt, statt das Tier zu wecken?[643]
BABECK.
Ich tats im Zorn, weil sie mein letztes Brot
Gestohlen hatte!
DER KALIF.
Das entschuldigt dich,
Wenn auch nur halb. So sollst du denn auch nur
Die halbe Strafe leiden!
Zum Kadi.
Kerkr ihn ein,
Solange dirs gefällt. Doch laß ihn leben!
Babeck wird zurückgeführt.
DER KADI für sich.
Stehts heute so? Dann bleibt mein armer Rustan
Leicht ungerächt!
Knieend.
Herr, darf dein treuster Sklav
An diesem Tag, wo deine Mildigkeit,
Wie Tau und Regen, selbst auf Disteln sich
Ergießt und Dornen, darf er auch für sich
Um eine letzte Gnade zu dir flehn?
DER KALIF.
Sie ist gewährt, noch eh du sie genannt!
DER KADI.
So stoß jedweden Urteilsspruch mir um,
Nur einen nicht, nur den nicht, welcher diesen
Er zeigt auf Assad.
Betrifft!
DER KALIF.
Es sei! Doch sag mir, was er tat,
Daß er, so jung noch, dich so sehr gereizt!
DER KADI.
Ich sag dir leichter, was er nicht tat, Herr,
Denn eher zähl ich eines Dornstrauchs Nadeln
Dir vor, als seiner Missetaten Menge.
Er raubte, erstlich, einen Edelstein,
Und das am hellen Tag, auf offnem Markt!
ASSAD bedeckt sich das Gesicht.
O! O!
Irad erscheint im Hintergrunde.
DER KALIF.
Er scheint die Tat doch zu bereun!
DER KADI.
Er stellt sich so, um dich zu rühren, Herr!
Er bemerkt Soliman, der sich genähert hat.
Dort seh ich den Beraubten! Dieser kann
Von seiner Reu erzählen. Mit dem Dolch
Hat sie der Bösewicht ihm dargetan.
Zu Soliman.
Du kommst gewiß um den Rubin![644]
SOLIMAN.
Ich will
Ihn nicht zurück.
DER KADI.
Dann fällt er an den Schatz!
Zu Assad.
Heraus mit ihm!
ASSAD.
Nimm mir das Leben erst!
DER KADI.
Ich will den Stein zuvor!
ASSAD.
Ich geb ihn nicht!
DER KADI.
Was sagst du, Herr, zu einem solchen Trotz
Vor deinem Angesicht?
DER KALIF.
Mein Arzt soll kommen!
Er ist verrückt!
DER KADI.
O nein! Ich bürge dir!
DER KALIF zu Assad, mild.
Gib mir den Stein!
ASSAD überreicht dem Kalifen nach einem kurzen innerlichen Kampf den Rubin, zieht ihn aber, als dieser die Hand nach ihm ausstreckt, wieder zurück.
Ich kanns nicht!
DER KALIF.
Gib ihn her! –
Er mahnte mich, wie ich ihn funkeln sah,
An meiner Tochter Auge! – Schnell! – Ich sehe
Sie vor mir! – Nun?
Er streckt die Hand aus.
ASSAD schließt seine Hand.
DER KALIF.
Ha! Stoßt ihn nieder!
ASSAD.
Gleich
Tu ich das selbst! Erst –
Er schleudert den Rubin in den Fluß.
DER KADI.
Unerhört!
ASSAD.
Nun wird
Ihn keiner haben! Jetzt, mein Dolch, heraus
Und –
Er zieht den Dolch und zückt ihn gegen sich selbst.
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