Erste Szene

[219] König Gunther auf dem Thron. Alle Burgunden. Hagen. Dankwart. Gerenot. Giselher. Ute. Etzels Gesandte. Rüdeger.


GUNTHER.

Gefällt es Euch, hochedler Rüdeger,

So mögt Ihr Eures Auftrags Euch entledgen,

Denn die Burgunden sind um mich vereint.

RÜDEGER.

So werb ich denn im Namen meines Herrn,

Der überall gebietet und befiehlt

Und nur vor Euch als Bittender erscheint,

Um Kriemhild, deine königliche Schwester.

Denn sie allein ist würdig, der zu folgen,

Die er mit bittrem Schmerz verloren hat,

Und Witwer muß er bleiben, wenn Ihr ihm

Die einzige verweigert, welche Helke

Ersetzen und das Volk, das sie betrauert,

Als hätt ein jeder Teil an ihr gehabt,

Mit einer neuen Wahl versöhnen kann.

GUNTHER.

Wenn du von deinem königlichen Herrn

Vermelden kannst, daß er nur selten bittet,

So merk dir auch, daß wir nur selten danken!

Doch Etzel hat den dunklen Heunen-Thron

So hoch erhöht und seinen wilden Namen

So manchem Völker-Rücken eingekerbt,

Daß ich mich gern erhebe und dir sage:

Wir danken ihm und fühlen uns geehrt.

RÜDEGER.

Und welche weitre Antwort bring ich ihm?

GUNTHER.

Wenn wir nicht die Trompeten schallen lassen

Und die Johannis-Feuer vor der Zeit

Auf allen Bergen weit und breit entzünden,

So glaube nicht, daß unser Fürstenstolz

Den Ausbruch unsers Jubels unterdrückt,

Und daß wir mehr verlangen, als du bietest,

Das weißt du wohl, daß Kriemhild Witwe ist.[219]

RÜDEGER.

Wie Etzel Witwer, ja! Und eben dies

Verbürgt dem Bund der beiden Heil und Segen

Und gibt ihm Weihe, Adel und Bestand.

Sie suchen nicht, wie ungeprüfte Jugend

Im ersten Rausch, ein unbegrenztes Glück,

Sie suchen nur noch Trost, und wenn Kriemhild

Den neuen Gatten auch mit Tränen küßt,

Und ihn ein Schauder faßt in ihren Armen,

So denkt sich jedes still: Das gilt dem Toten!

Und hält das andre doppelt wert darum.

GUNTHER.

So sollt es sein! Doch trotz der langen Frist,

Die seit dem unglückselgen Tag verstrich,

Der ihr den Gatten raubte, mir den Bruder,

Weilt meine Schwester, bis zur Stunde, mehr

An ihres Siegfrieds Gruft im Kloster Lorsch,

Als unter uns. Sie meidet jede Freude

So ängstlich, wie ein andrer Missetat,

Und wärs auch nur ein Blick ins Abendrot

Oder aufs Blumenbeet zur Zeit der Rosen:

Wie schlösse sie den neuen Ehebund?

RÜDEGER.

Ists Euch genehm? Und werdet Ihr gestatten,

Daß ich ihr selbst die Wünsche meines Herrn

Zu Füßen legen darf?

GUNTHER.

Wir gönnen ihr

Das neue Glück und uns die neue Ehre

Und werden über alles andre Euch

Bescheiden, wenn wir Rat gehalten haben.

Fürs erste nehmt noch einmal unsern Dank!

RÜDEGER ab.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 2, München 1963, S. 219-220.
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