Dritter Akt

[27] Gemach der Judith.


JUDITH in schlechten Kleidern, mit Asche bestreut, sitzt zusammengekauert da.

MIRZA tritt ein und betrachtet sie. So sitzt sie nun schon drei Tage und drei Nächte. Sie ißt nicht, sie trinkt nicht, sie spricht nicht. Sie seufzt und wehklagt nicht einmal. »Das Haus brennt!« schrie ich ihr gestern abend zu und stellte mich, als hätt ich den[27] Kopf verloren. Sie veränderte keine Miene und blieb sitzen. Ich glaube, sie will, daß man sie in einen Sarg packen, den Deckel über sie nageln und sie forttragen soll. Sie hört alles, was ich hier rede, und doch sagt sie nichts dazu. Judith, soll ich den Totengräber bestellen?

JUDITH winkt ihr mit der Hand, fortzugehen.

MIRZA. Ich gehe, aber nur um gleich wiederzukommen. Ich vergesse den Feind und alle Not über dich. Wenn einer den Bogen auf mich anlegte, ich würds nicht bemerken, solange ich dich dort lebendig-tot sitzen sehe. Erst hattest du so viel Mut, daß die Männer sich schämten, und nun – Ephraim hatte recht; er sagte: sie fordert sich selbst heraus, um ihre Furcht zu vergessen. Ab.

JUDITH stürzt auf die Kniee. Gott, Gott! Mir ist, als müßt ich dich am Zipfel fassen, wie einen, der mich auf ewig zu verlassen droht! Ich wollte nicht beten, aber ich muß beten, wie ich Odem schöpfen muß, wenn ich nicht ersticken soll! Gott! Gott! Warum neigst du dich nicht auf mich herab? Ich bin ja zu schwach, um zu dir empor zu klimmen! Sieh, hier lieg ich, wie außer der Welt und außer der Zeit; ich harre mit Angst eines Winkes von dir, der mich aufstehn und handeln heißt! Mit Frohlocken sah ichs, als die Gefahr uns nahe trat, denn mir war sie nichts, als ein Zeichen, daß du dich unter deinen Auserwählten verherrlichen wollest. Mit schaudernder Wonne erkannt ich, daß das, was mich erhob, alle andere zu Boden warf, denn mir kam es vor, als ob dein Finger gnadenvoll auf mich deutete, als ob dein Triumph von mir ausgehen solle! Mit Entzücken sah ichs, daß jener, dem ich das große Werk abtreten wollte, um in Demut das höchste Opfer zu bringen, sich davor feig und zitternd, wie ein Wurm, in dem Schlamm seiner Armseligkeit verkroch. »Du bists, du bists!« rief ich mir zu, und warf mich vor dir nieder und schwur mir mit einem teuren Eid, niemals wieder aufzustehen, oder erst dann, wenn du mir den Weg gezeigt, der zum Herzen des Holofernes führt. Ich lauschte in mich selbst hinein, weil ich glaubte, ein Blitz der Vernichtung müsse aus meiner Seele hervorspringen; ich horchte in die Welt hinaus, weil ich dachte: ein Held hat dich überflüssig gemacht; aber in mir und außer mir bleibts dunkel.[28] Nur ein Gedanke kam mir, nur einer, mit dem ich spielte und der immer wiederkehrt; doch, der kam nicht von dir. Oder kam er von dir? – Sie springt auf. Er kam von dir! Der Weg zu meiner Tat geht durch die Sünde! Dank, Dank dir, Herr! Du machst mein Auge hell. Vor dir wird das Unreine rein; wenn du zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellst: wer bin ich, daß ich mit dir darüber hadern, daß ich mich dir entziehen sollte! Ist nicht meine Tat so viel wert, als sie mich kostet? Darf ich meine Ehre, meinen unbefleckten Leib mehr lieben, wie dich? O, es löst sich in mir, wie ein Knoten. Du machtest mich schön; jetzt weiß ich, wozu. Du versagtest mir ein Kind; jetzt fühl ich, warum, und freu mich, daß ich mein eigen Selbst nicht doppelt zu lieben hab. Was ich sonst für Fluch hielt, erscheint mir nun wie Segen! – Sie tritt vor einen Spiegel. Sei mir gegrüßt, mein Bild! Schämt euch, Wangen, daß ihr noch nicht glüht; ist der Weg zwischen euch und dem Herzen so weit! Augen, ich lob euch, ihr habt Feuer getrunken und seid berauscht! Armer Mund, dir nehm ichs nicht übel, daß du bleich bist, du sollst das Entsetzen küssen. Sie tritt vom Spiegel weg. Holofernes, dieses alles ist dein; ich habe keinen Teil mehr daran; ich hab mich tief in mein Innerstes zusammengezogen. Nimms, aber zittre, wenn du es hast; ich werde in einer Stunde, wo dus nicht denkst, aus mir herausfahren, wie ein Schwert aus der Scheide, und mich mit deinem Leben bezahlt machen! Muß ich dich küssen, so will ich mir einbilden, es geschieht mit vergifteten Lippen; wenn ich dich umarme, will ich denken, daß ich dich erwürge. Gott, laß ihn Greuel begehen unter meinen Augen, blutige Greuel, aber schütze mich, daß ich nichts Gutes von ihm sehe!

MIRZA kommt. Riefst du mich, Judith?

JUDITH. Nein, ja. Mirza, du sollst mich schmücken.

MIRZA. Willst du nicht essen?

JUDITH. Nein, ich will geschmückt sein.

MIRZA. Iß, Judith. Ich kanns nicht länger aushalten!

JUDITH. Du?

MIRZA. Sieh, als du gar nicht essen und trinken wolltest, da schwur ich: dann will ich auch nicht! Ich tats, um dich zu zwingen; wenn du nicht Mitleid mit dir selbst hattest, so solltest dus mit[29] mir haben. Ich sagte es dir, aber du hasts wohl nicht gehört. Es sind nun drei Tage.

JUDITH. Ich wollt, ich wäre so viel Liebe wert.

MIRZA. Laß uns essen und trinken. Es wird bald zum letzten Mal sein, wenigstens das Trinken. Die Röhren zum Brunnen sind abgehauen; auch zu den kleinen Brunnen an der Mauer kann niemand mehr kommen, denn sie werden von den Kriegsleuten bewacht. Doch sind schon welche hinausgegangen, die sich lieber töten lassen, als noch länger dursten wollten. Von einem sagt man, daß er, schon durchstoßen, sterbend zum Brunnen kroch, um sich noch einmal zu letzen; aber eh er das Wasser, das er schon in der Hand hielt, an die Lippen brachte, gab er den Geist auf. Keiner versah sich dieser Grausamkeit vom Feind, darum ward der Wassermangel in der Stadt gleich so allgemein. Wer auch noch ein wenig hat, hälts geheim, wie einen Schatz.

JUDITH. O, greulich, statt des Lebens, das man nicht nehmen kann, die Bedingung des Lebens zu nehmen! Schlagt tot, sengt und brennt, aber raubt dem Menschen nicht mitten im Überfluß der Natur seine Notdurft! O, ich habe schon zu lange gesäumt!

MIRZA. Mir hat Ephraim Wasser für dich gebracht. Du magst die Größe seiner Liebe daran erkennen. Seinem eignen Bruder hat ers versagt!

JUDITH. Pfui! Dieser Mensch gehört zu denen, die sogar dann sündigen, wenn sie etwas Gutes tun wollen!

MIRZA. Das gefiel mir auch nicht, aber dennoch bist du zu hart gegen ihn.

JUDITH. Nein, sag ich dir, nein! Jedes Weib hat ein Recht, von jedem Mann zu verlangen, daß er ein Held sei. Ist dir nicht, wenn du einen siehst, als sähst du, was du sein mögtest, sein solltest? Ein Mann mag dem andern seine Feigheit vergeben, nimmer ein Weib. Verzeihst dus der Stütze, daß sie bricht? kaum kannst du verzeihen, daß du der Stütze bedarfst!

MIRZA. Konntest dus denn erwarten, daß Ephraim deinem Befehl gehorchen werde?

JUDITH. Von einem, der Hand an sich selbst gelegt, der dadurch sein Leben herrenlos gemacht hatte, durfte ichs erwarten. Ich[30] schlug an ihn, wie an einen Kiesel, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn behalten oder wegwerfen soll; hätt er einen Funken gegeben – der Funke wäre in mein Herz hineingesprungen, jetzt tret ich den schnöden Stein mit Füßen!

MIRZA. Wie aber sollt ers ausführen?

JUDITH. Der Schütz, welcher frägt, wie er schießen soll, wird nicht treffen. Ziel – Auge – Hand – da ists! Mit einem Blick gen Himmel. O, ich sahs über der Welt schweben, wie eine Taube, die ein Nest sucht zum Brüten, und die erste Seele, die in der Erstarrung erglühend aufging, mußte den Erlösungsgedanken empfangen. Doch, Mirza, geh und iß, dann schmücke mich!

MIRZA. Ich warte so lange, als du wartest!

JUDITH. Du siehst mich so traurig an. Nun, ich geh mit dir! Aber nachher nimm all deinen Witz zusammen, und schmücke mich, wie zur Hochzeit. Lächle nicht! Meine Schönheit ist jetzt meine Pflicht! Geht ab.


Öffentlicher Platz in Bethulien. Viel Volk. Eine Gruppe junger Bürger, bewaffnet.


EIN BÜRGER zum andern. Was sagst du, Ammon?

AMMON. Ich frage dich, Hosea, was besser ist, der Tod durchs Schwert, der so schnell kommt, daß er dir gar nicht die Zeit läßt, ihn zu fürchten und zu fühlen, oder dies langsame Verdorren, das uns bevorsteht?

HOSEA. Wenn ich dir antworten sollte, müßte mir der Hals nicht so trocken sein. Man wird durstiger durchs Sprechen.

AMMON. Du hast recht.

BEN ein dritter Bürger. Man kommt so weit, daß man sich selbst wegen der paar Blutstropfen beneidet, die einem noch in den Adern sickern. Ich mögte mich anzapfen, wie ein Faß. Steckt den Finger in den Mund.

HOSEA. Das beste ist, daß man über den Durst den Hunger vergißt.

AMMON. Nun, zu essen haben wir noch.

HOSEA. Wie lange wirds dauern? Besonders, wenn man Leute, wie dich, unter uns duldet, die mehr Viktualien im Magen als auf den Schultern tragen können.

AMMON. Ich zehre vom Eigenen. Das geht keinen was an.

HOSEA. In Kriegszeiten ist alles allgemein. Man sollte dich und[31] deinesgleichen dahin stellen, wo die meisten Pfeile fallen. Man sollte überhaupt die Unmäßigen immer vorausschieben; siegen sie, so braucht man nicht ihnen, sondern den Ochsen und Mastkälbern zu danken, deren Mark in ihnen rumort; kommen sie um, so ist auch das ein Vorteil.

AMMON gibt ihm eine Ohrfeige.

HOSEA. Glaube nicht, daß ich wiedergebe, was ich empfange. Aber das merk dir: wenn du in Gefahr kommst, so erwarte nicht von mir, daß ich dir beispringe. Ich trags dem Holofernes auf, mich zu rächen.

AMMON. Undankbarer! Einen prügeln, heißt, ihm einen Panzer aus seiner eigenen Haut schmieden; die Ohrfeige von heute macht dich unempfindlich gegen die, welche dich morgen erwartet.

BEN. Ihr seid Narren. Zankt euch, und vergeßt, daß ihr gleich den Wall beziehen sollt.

AMMON. Nein, wir sind kluge Leute, solange wir miteinander hadern, denken wir nicht an unsre Not.

BEN. Kommt, kommt! wir müssen fort.

AMMON. Ich weiß nicht, ob es nicht besser wäre, wenn wir dem Holofernes öffneten. Den, der das täte, tötete er gewiß nicht!

BEN. So tötete ich ihn. Sie gehen ab.


Zwei ältere Bürger im Gespräch.


DER EINE. Hast du wieder einen neuen Greuel vom Holofernes gehört?

DER ANDERE. Freilich.

DER EINE. Wie treibst dus nur auf! Aber erzähl mir doch!

DER ANDERE. Er steht und spricht mit einem seiner Hauptleute. Allerlei Heimlichkeiten. Auf einmal bemerkt er in der Nähe einen Soldaten. »Hast du gehört – fragt er den – was ich sprach?« Nein, antwortet der Mensch. »Das ist ein Glück für dich – sagt der Tyrann, – sonst ließe ich dir den Kopf herunterschlagen, weil Ohren daran sitzen!«

DER EINE. Man sollte glauben, man müßte leblos niederfallen, wenn man so etwas vernimmt. Das ist das Niederträchtigste an der Furcht, daß sie einen nur halb tötet, nicht ganz.

DER ANDERE. Mir ist die Langmut Gottes unbegreiflich. Wenn er einen solchen Heiden nicht haßt, wen soll er noch hassen? Gehen vorüber.[32]

SAMUEL ein uralter Greis, von seinem Enkel geführt, tritt auf.

ENKEL. Singet dem Herrn ein neues Lied, denn seine Güte währet ewiglich!

SAMUEL. Ewiglich! Er setzt sich auf einen Stein. Samuel dürstet. Enkel, warum gehst du nicht, und holst ihm einen frischen Trunk?

ENKEL. Ahn, der Feind steht vor der Stadt! Wieder vergaß ers!

SAMUEL. Den Psalm! Lauter! Was stockst du!

ENKEL. Zeuge von dem Herrn, o Jüngling, denn du weißt nicht, ob du ein Greis wirst! Rühm ihn, o Greis, denn du wurdest nicht alt, um das zu verhehlen, was der Barmherzige an dir getan hat!

SAMUEL zornig. Hält der Brunnen nicht mehr so viel Wasser, als Samuel braucht, wenn er zum letzten Mal trinken will? Kann der Enkel nicht schöpfen, ob der Mittag gleich heiß ist?

ENKEL sehr laut. Schwerter halten den Brunnen bewacht, Speere starren, die Heiden haben große Gewalt über Israel.

SAMUEL steht auf. Nicht über Israel! Wen suchte der Herr, als er Wellen und Winden Macht gab über das Schifflein, daß es hinauf- und hinunter flog? Nicht den, der am Steuer saß, noch sonst einen anderen, den trotzigen Jonas allein, der ruhig schlief. Vom sichern Schiff trieb er ihn in die tobende Meerflut hinein, aus der Meerflut in des Leviathans Rachen, aus dem Rachen des Untiers durch die Klippen der Zähne in den finstern Bauch. Aber, als Jonas nun Buße tat, war der Herr da nicht stark genug, ihn noch aus dem Bauch des Leviathans wieder zu erretten? Stehet auf, ihr heimlichen Missetäter, die ihr in euch selber schlaft, wie Jonas schlief, wartet nicht, bis man das Los über euch wirft, tretet hervor und sprecht: wir sinds, damit nicht der Unschuldige vertilgt werde mit dem Schuldigen! Er faßt seinen Bart. Samuel schlug den Aaron, spitz war der Nagel, weich war das Hirn, tief war Aarons Schlummer in seines Weibes Schoß. Samuel nahm des Aaron Weib, und zeugte den Ham mit ihr, aber sie starb vor Entsetzen, als sie das Kind erblickte, denn des Kindes Haupt trug das Zeichen des Nagels, wie des Toten Haupt, und Samuel ging in sich, und kehrte sein Angesicht gegen sich selbst!

ENKEL. Ahn! Ahn! Du selbst bist Samuel und ich bin der Sohn des Ham![33]

SAMUEL. Samuel schor sich das Haupt und stellte sich vor seine Tür, und harrte der Rache, wie man des Glückes harrt, siebzig Jahre und länger, bis er seine Tage nicht mehr zu zählen vermogte. Aber die Pest ging vorüber und ihr Atem traf ihn nicht, und das Elend ging vorüber, und kehrte nicht bei ihm ein, und der Tod ging vorüber und rührte ihn nicht an. Die Rache kam nicht von selbst, und er hatte nicht den Mut, sie zu rufen.

ENKEL. Komm! komm! Er führt ihn auf die Seite.

SAMUEL. Aarons Sohn, wo bist du, oder seines Sohnes Sohn, oder sein Bruder, daß Samuel den Stoß eurer Hand nicht fühlt, noch den Tritt eurer Füße? Auge um Auge, sprach der Herr, Zahn um Zahn, Blut um Blut!

ENKEL. Aarons Sohn ist tot und seines Sohnes Sohn, und sein Bruder, der ganze Stamm!

SAMUEL. Blieb kein Rächer? Sind dies die letzten Zeiten, daß der Herr die Sünde aufgeschossen stehen läßt und die Sicheln zerbricht? Wehe! Wehe!


Der Enkel führt ihn ab.

Zwei Bürger.


ERSTER. Wie ich dir sage, nicht allenthalben fehlts an Wasser. Es gibt Leute unter uns, die sich nicht allein voll saufen, sondern die sich sogar täglich mehrere Male waschen.

ZWEITER. O, ich glaubs. Ich will dir doch etwas vertrauen. Mein Nachbar Assaph hatte eine Ziege, die in seinem Gärtlein lustig weidete. Ich sehe gerade ins Gärtlein hinab, und mir wurde jedes Mal zumute, wie einer schwangeren Frau, wenn ich das Tier mit seinen vollen Eutern erblickte. Gestern ging ich zu Assaph und bat ihn um ein wenig Milch. Als er mirs abschlug, griff ich zum Bogen, tötete die Ziege mit einem raschen Schuß und schickte ihm, was sie wert ist! Ich tat recht, denn die Ziege verleitete ihn zur Hartherzigkeit gegen seinen Nächsten.

ERSTER. Von dir konnte man den Streich erwarten! Du hast ja schon als ganz kleines Kind eine Jungfrau zur Mutter gemacht!

ZWEITER. Was!

ERSTER. Ja! ja! Bist du nicht der Erstgeborene? Gehen vorüber.


Einer der Ältesten tritt auf.[34]


DER ÄLTESTE. Hört, hört, ihr Männer von Bethulien! Das Volk versammelt sich um ihn. Hört, was euch durch meinen Mund der fromme Hohepriester Jojakim zu wissen tut!

ASSAD ein Bürger, seinen Bruder Daniel, der stumm und blind ist, an der Hand. Gebt acht, der Hohepriester will, daß wir Löwen sein sollen. Dann kann er um so besser Hase sein.

EIN ANDERER. Lästere nicht!

ASSAD. Ich lasse keine Trostgründe gelten, als die ich aus dem Brunnen schöpfen kann.

DER ÄLTESTE. Ihr sollt gedenken an Moses, den Diener des Herrn, der nicht mit dem Schwert, sondern mit Gebet den Amalek schlug. Ihr sollt nicht zittern vor Schild und Speer, denn ein Wort der Heiligen macht sie zu Schanden.

ASSAD. Wo ist Moses? Wo sind Heilige?

DER ÄLTESTE. Ihr sollt Mut fassen und gedenken, daß das Heiligtum des Herrn in Gefahr ist.

ASSAD. Ich meinte, der Herr wolle uns schützen. Nun läufts darauf hinaus, daß wir ihn schützen sollen!

DER ÄLTESTE. Und vor allem sollt ihr nicht vergessen, daß der Herr, wenn er euch umkommen läßt, euch euren Tod und eure Marter in Kindern und Kindeskindern bis zum zehnten Glied hinab vergüten kann!

ASSAD. Wer sagt mir, wie meine Kinder und Kindeskinder ausschlagen? Könnens nicht Bursche sein, deren ich mich schämen muß, die mir zum Spott herumlaufen! Zum Ältesten. Mann, deine Lippe zittert, dein Auge irrt unstät, deine Zähne mögten die klingenden Worte zerreißen, hinter denen sich deine Angst versteckt. Wie kannst du den Mut von uns verlangen, den du selbst nicht hast? Ich will einmal im Namen dieser aller zu dir reden. Gib Befehl, daß die Tore der Stadt geöffnet werden. Unterwürfigkeit findet Barmherzigkeit! Ich sags nicht meinetwegen, ich sags dieses armen Stummen wegen, ich sags wegen der Weiber und Kinder! Umstehende geben Zeichen des Beifalls. Gib Befehl, augenblicklichen, oder wir tuns ohne deinen Befehl.

DANIEL reißt sich von ihm los. Steiniget ihn! Steiniget ihn!

VOLK. War dieser Mann nicht stumm?

ASSAD seinen Bruder mit Entsetzen betrachtend. Stumm und blind.[35] Er ist mein Bruder. Dreißig Jahre ist er alt und sprach nie ein Wort.

DANIEL. Ja, das ist mein Bruder! Er hat mich erquickt mit Speis und Trank. Er hat mich gekleidet und ließ mich bei sich wohnen! Er hat mich gepflegt bei Tag und bei Nacht. Gib mir die Hand, du treuer Bruder. Als er sie faßt, schleudert er sie, wie von Entsetzen gepackt, von sich. Steiniget ihn, steiniget ihn!

ASSAD. Wehe! Wehe! Der Geist des Herrn spricht aus des Stummen Mund! Steiniget mich!


Das Volk verfolgt ihn, ihn steinigend.


SAMAJA ihnen bestürzt nacheilend. Was wollt ihr? Ab.

DANIEL begeistert. Ich komme, ich komme, spricht der Herr, aber ihr sollt nicht fragen woher? Meint ihr, es sei Zeit? ich allein weiß, wann es Zeit ist!

VOLK. Ein Prophet, ein Prophet!

DANIEL. Ich ließ euch wachsen und gedeihen, wie das Korn zur Sommerzeit! Meinet ihr, daß ich den Heiden meine Ernte überlassen werde? Wahrlich, ich sage euch, das wird nimmermehr geschehen!


Judith mit Mirza erscheint unter dem Volk.


VOLK wirft sich zu Boden. Heil uns!

DANIEL. Und ob euer Feind noch so groß ist, so brauche ich doch nur ein kleines, um ihn zu vernichten! Heiliget euch! heiliget euch! denn ich will wohnen bei euch und will euch nicht verlassen, wenn ihr mich nicht verlaßt! – Nach einer Pause. Bruder, deine Hand!

SAMAJA zurückkehrend. Tot ist dein Bruder! Du hast ihn getötet! Das war dein Dank für all seine Liebe! O, wie gern hätt ich ihn gerettet! Wir waren ja Freunde von Jugend auf! Was aber konnt ich ausrichten gegen so viele, die deine Torheit verrückt gemacht hatte. »Nimm dich Daniels an!« rief er mir zu, als mich sein brechendes Auge erkannt. Ich leg dir dies Wort als ein glühendes Vermächtnis in die Seele!

DANIEL will sprechen und kanns nicht; er wimmert.

SAMAJA zum Volk. Schämet euch, daß ihr auf den Knieen liegt, schämet euch noch mehr, daß ihr einen edlen Mann, der es mit euch allen wohl meinte, gemordet habt! Ha, ihr verfolgtet ihn so wütend, als könntet ihr in ihm eure eigenen Sünden zu[36] Tode steinigen! Alles, was er hier gegen den Ältesten, nicht aus Feigheit, sondern aus Mitleid mit eurem Elend vorbrachte, war zwischen uns heute morgen verabredet; dieser Stumme saß dabei zusammengekauert und teilnahmslos, wie immer; er verriet seinen Abscheu mit keiner Miene. – Zum Ältesten. Alles, was mein Freund verlangte, verlang ich noch: schleuniges Öffnen der Tore, Unterwerfung auf Gnad und Ungnade. – Zu Daniel. Nun zeige, daß der Herr aus dir sprach. Fluche mir, wie du dem Bruder fluchtest!

DANIEL in höchster Angst, will reden und kann nicht.

SAMAJA. Sehet ihr den Propheten? Ein Dämon des Abgrunds, der euch verlocken wollte, entsiegelte seinen Mund, aber Gott verschloß ihn wieder, und verschloß ihn auf ewig. Oder könnt ihr glauben, daß der Herr die Stummen reden macht, damit sie Brudermörder werden?

DANIEL schlägt sich.

JUDITH tritt in die Mitte des Volks. Lasset euch nicht versuchen. Hat es euch nicht gepackt, wie Gottesnähe, und euch in heiliger Vernichtung zu Boden geworfen? Wollt ihr es jetzt dulden, daß man euer tiefstes Gefühl der Lüge zeiht?

SAMAJA. Weib, was willst du? Siehst du nicht, daß dieser verzweifelt? Ahnst du nicht, daß er verzweifeln muß, wenn er ein Mensch ist? Zu Daniel. Reiß dir die Haare aus, zerstoß dir den Kopf an der Mauer, daß die Hunde dein Gehirn lecken; das ist das einzige, was du noch auf der Welt zu tun hast! Was gegen die Natur ist, das ist gegen Gott!

STIMMEN IM VOLK. Er hat recht!

JUDITH zu Samaja. Willst du dem Herrn den Weg vorschreiben, den er wandeln soll? Reinigt er nicht jeden Weg dadurch, daß er ihn wandelt?

SAMAJA. Was gegen die Natur ist, das ist gegen Gott! Der Herr tat Wunder unter den Vätern; die Väter waren besser, wie wir. Wenn er jetzt Wunder tun wollte, warum läßt er nicht regnen? Und warum tut er nicht ein Wunder im Herzen des Holofernes und bewegt ihn zum Abzug?

EIN BÜRGER dringt auf Daniel ein. Stirb, Sünder, der du uns verleitet hast, uns mit dem Blute eines Gerechten zu beflecken!

SAMAJA tritt zwischen ihn und Daniel. Niemand darf den Kain[37] töten! So sprach der Herr. Aber Kain darf sich selbst töten! So spricht in mir eine Stimme! Und Kain wirds tun! Dies sei euch ein Zeichen: lebt dieser Mensch noch bis morgen, kann er seine Tat einen ganzen Tag und eine ganze Nacht tragen, so tut nach seinen Worten und harret, bis ihr tot hinsinkt, oder bis euch ein Wunder erlöst. Wo nicht, so tut, was Assad euch sagte: öffnet die Tore und ergebt euch. Und wenn ihr im Druck eurer Sünden nicht zu hoffen wagt, daß der Herr das Herz des Holofernes rühren wird, so legt Hand an euch selbst; tötet euch untereinander und laßt nur die Kinder am Leben; die werden die Assyrier verschonen, denn sie haben selbst Kinder, oder wünschen Kinder zu haben. Macht ein großes Morden daraus, wo der Sohn den Vater niedersticht und wo der Freund dem Freunde dadurch seine Liebe beweist, daß er ihm die Gurgel abschneidet, ohne sich erst bitten zu lassen. Faßt den Daniel bei der Hand. Den Stummen nehm ich in mein Haus. Für sich. Wahrlich, die Stadt, die sein Bruder retten wollte, soll nicht durch seine Raserei zugrunde gehen! Ich will ihn in eine Kammer einschließen, ich will ihm ein blankes Messer in die Hand drücken, ich will ihm in die Seele reden, bis er vollbringt, was ich im Namen der Natur und als ihr Prophet voraus verkündigt habe. Gott Lob, daß er nur stumm und blind ist, daß er nicht auch taub ist. Er geht mit Daniel ab.

VOLK durcheinander. Warum gehen uns die Augen so spät auf! Wir wollen nicht länger warten. Keine Stunde! Wir wollen die Tore öffnen. Kommt!

JOSUA ein Bürger. Wer war schuld, daß wir uns nicht demütigten, wie die übrigen Völker? Wer verführte uns, daß wir die schon gebeugten Nacken trotzig empor hoben? Wer hieß uns in die Wolken blicken, und die Erde darüber vergessen?

VOLK. Wer anders, als Priester und Älteste?

JUDITH für sich. O Gott, jetzt hadern die Unseligen mit denen, die sie aus nichts zu etwas machten! – Laut. Seht ihr im Unglück, das euch trifft, nur eine Aufforderung, es euch durch Gemeinheit zu verdienen?

JOSUA geht unter den Bürgern herum. Als ich vom Zug des Holofernes hörte, da war mein erster Gedanke, daß wir ihm entgegen gehen, und seine Gnade erflehen sollten. Wer unter euch dachte[38] anders? Alle schweigen. Warum kam Holofernes? Nur, um uns zu unterwerfen; hätte er die Unterwerfung auf der Hälfte des Weges angetroffen, er hätte den ganzen nicht gemacht und wäre umgekehrt, denn er hat genug zu tun. Dann säßen wir jetzt in Frieden und labten uns an Speis und Trank; nun ist unser kümmerliches Leben nichts, als eine Anweisung auf alle Martern, die möglich sind.

VOLK. Wehe! Wehe!

JOSUA. Und wir sind unschuldig, wir haben nie getrotzt, wir haben immer gezittert. Aber Holofernes war noch fern, und Älteste und Priester waren nah und bedrohten uns; da vergaßen wir die eine Furcht über die andere. Wißt ihr was? Wir wollen Älteste und Priester aus der Stadt heraustreiben, und zum Holofernes sagen: da sind die Empörer. Mag er sich ihrer erbarmen, so ists gut; wo nicht, so wollen wir doch lieber um sie klagen, als um uns selbst!

VOLK. Wird das uns retten?

JUDITH. Das ist, als ob einer mit dem Schwert, womit er sich nicht zu verteidigen vermag, den Waffenschmied, der es ihm gab, ermorden wollte.

VOLK. Hilft es wohl?

JOSUA. Wie sollt es nicht? Kopf ab, heißts, nicht Fuß ab oder Hand ab.

VOLK. Du hast recht! Das ist der Weg!

JOSUA zu dem Ältesten, der den Auftritt ernst angesehen hat. Was sagst du dazu?

DER ÄLTESTE. Ich würde selbst dazu raten, wenns helfen könnte. Ich bin heute gerade dreiundsiebzig Jahr alt geworden, und mögte wohl zu den Vätern eingehen; auf ein paar Atemzüge mehr oder weniger kommts nicht an. Zwar glaube ich ein ehrliches Grab verdient zu haben und mögte lieber in der Erde, als im Magen eines wilden Tieres ruhen; doch wenn ihr meint, daß ich für euch alle genug tun kann, so bin ich bereit. Ich schenk euch diesen grauen Kopf, macht aber schnell, damit der Tod euch nicht zuvorkomme, und das Geschenk hohnlachend in eine Grube hineinwerfe. Nur einmal erlaubt mir noch, diesen Kopf, der nun euch gehört, zu brauchen. Nicht von mir allein, von allen Ältesten und allen Priestern ist die Rede.[39] Wollt ihr euch, bevor ihr zu opfern beginnt, nicht die Mühe nehmen, die Opfer zu zählen?

JUDITH wild. Das hört ihr an, und schlagt nicht an eure Brust und werft euch nicht nieder und küßt dem Greis die Füße? Bei der Hand fassen mögt ich jetzt den Holofernes und ihn hereinführen und ihm selbst das Schwert schleifen, wenn es stumpf würde, ehe es jeden dieser Köpfe abgemäht hätte!

JOSUA. Der Älteste sprach klug, sehr klug. Widersetzen konnt er sich nicht, das sah er, da gab er sich denn drein und auf eine Weise – ich wette, wenn die Lämmer sprechen könnten, es würde kein einziges geschlachtet. – Zu Judith. Gewiß hat er dich nicht allein gerührt.

JUDITH. Widersetzen konnt er sich nicht, aber er konnte euren schlechten Plan doch zuschanden machen, er konnte sich töten! Und er griff krampfhaft nach dem Schwert, ich bemerkt es wohl und trat ihm näher, um ihn zu hindern; aber gleich brachs wie innerer Sieg aus seinem Angesicht hervor, er zog die Hand, wie beschämt, zurück, und blickte nach oben.

DER ÄLTESTE. Du denkst zu edel von mir. Nicht mir selbst galt das, es galt dem da!

VOLK. Dein Rat ist schlecht, Josua, wir wollen dir nicht folgen!

JUDITH. Habt Dank!

JOSUA. Aber darauf, daß die Tore geöffnet werden, besteht ihr doch? Bedenkt, daß ein Feind, dem ihr öffnet, nie so grausam sein kann, wie einer, der sich selbst öffnen muß! – Zum Ältesten. Gib Befehl. Wegen meines Vorschlags will ich dich um Verzeihung bitten, das heißt morgen, wenn ich dann noch lebe.

JUDITH zum Ältesten. Sag nein!

DER ÄLTESTE. Ich sage Ja, denn ich sehe selbst nicht, woher uns Hülfe kommen soll.

ACHIOR tritt unter das Volk. Öffnet, nur erwartet keine Gnade vom Holofernes. Er hat geschworen, das Volk, welches sich ihm zuletzt unterwerfen würde, von der Erde zu vertilgen, daß auch seine Spur nicht bleibe. Ihr seid die letzten.

JUDITH. Das hat er geschworen?

ACHIOR. Ich stand dabei. Und ob er seinen Schwur halten wird, mögt ihr daran erkennen: Er ergrimmte über mich, als ich von der Macht eures Gottes sprach, und sein Zorn ist Tod.[40] Aber, statt mich nieder zu hauen, befahl er, wie ihr wißt, daß ich zu Euch geführt werde. Ihr seht, so wenig zweifelt er an eurem Untergang, daß er den Mann, den er haßt, und dessen Kopf er mit Gold aufwiegen will, aus der Hand gibt, weil er sich an ihm erst dann rächen mag, wenn er sich zugleich an euch rächen kann. Und so fern ist ihm jeder Gedanke an Gnade, daß er für seinen Feind keine härtere Strafe auszusinnen weiß, als diejenige ist, die er euch zugedacht hat!

VOLK. Es soll nicht geöffnet werden. Wenn wir durchs Schwert umkommen wollen, so haben wir ja selbst Schwerter!

JOSUA. Lasset uns eine Zeit bestimmen. Alles muß ein Ende haben.

VOLK. Eine Zeit! eine Zeit!

DER ÄLTESTE. Lieben Brüder, so habt noch fünf Tage Geduld, und harrt der Hülfe des Herrn!

JUDITH. Und wenn der Herr nun noch fünf Tage länger braucht?

DER ÄLTESTE. Dann sind wir tot! Will der Herr uns helfen, so muß es in diesen fünf Tagen geschehen; wir werden ohnehin ihr Ende nicht alle erleben!

JUDITH feierlich, als ob sie ein Todesurteil spräche. Also in fünf Tagen muß er sterben!

DER ÄLTESTE. Wir müssen das Äußerste tun, um uns nur noch so lange zu halten. Wir müssen das Opfer des Herrn, den heiligen Wein und das Öl, unter uns verteilen! Wehe mir, daß ich einen solchen Rat geben muß!

JUDITH. Ja, wehe dir! Warum rätst du nicht lieber ein anderes Äußerstes? – Zum Volk. Ihr Männer von Bethulien, wagt einen Ausfall! Die kleinen Brunnen liegen dicht an der Mauer; teilt euch in zwei Hälften; die eine muß den Rückzug und das Tor decken, während die andere in Masse anstürmt, es kann gar nicht fehlen, ihr bringt Wasser herein!

DER ÄLTESTE. Du siehst, keiner antwortet.

JUDITH zum Volk. Wie soll ich das verstehen? Nach einer Pause. Doch, es freut mich. Wenn ihr nicht das Herz habt, es mit ein paar hundert Soldaten aufzunehmen, so werdet ihr noch weniger so vermessen sein, die Rache des Herrn herauszufordern, und eure Hand frevelnd nach der Speise des Altars auszustrecken![41]

DER ÄLTESTE. Dies ist nötig, und hundertfältig soll es ersetzt werden. Das andere ist zu bedenklich; ein offenes Tor wäre die Todeswunde der Stadt. Auch David aß die heiligen Brote, und er aß sich nicht den Tod.

JUDITH. David war ein Geweihter des Herrn. Wollt ihr essen, wie David, so werdet zuvor, wie David. Esset und trinket, aber heiliget euch erst!

EINER IM VOLK. Warum hören wir auf die!

EIN ANDERER. Schäme sich, wer es nicht tut. Ist sie nicht wie ein Engel?

EIN DRITTER. Sie ist das gottesfürchtigste Weib in der Stadt! Solange es uns wohl ging, saß sie still in ihrem Kämmerlein; hat jemand sie öffentlich gesehen, außer, wenn sie beten oder opfern wollte? Aber nun, da wir verzweifeln wollen, verläßt sie ihr Haus und wandelt mit uns und spricht uns Trost ein!

DER VORIGE. Sie ist reich und hat viele Güter. Aber wißt ihr, was sie einmal sagte? »Ich verwalte diese Güter nur, sie gehören den Armen.« Und sie sagts nicht bloß, sie tuts. Ich glaube, sie nimmt nur darum keinen Mann wieder, weil sie dann aufhören müßte, die Mutter der Bedürftigen zu sein! Wenn der Herr uns hilft, so geschiehts ihretwegen!

JUDITH zu Achior. Du kennst den Holofernes. Sprich mir von ihm.

ACHIOR. Ich weiß, daß er nach meinem Blut dürstet, aber glaube nicht, daß ich ihn schmähe! Wenn er mit dem erhobenen Schwerte vor mir stände, und mir zuriefe: Töte mich, sonst töt ich dich: ich weiß nicht, was ich täte!

JUDITH. Das ist dein Gefühl. Er hatte dich in seiner Gewalt, und ließ dich frei!

ACHIOR. O, es ist nicht das! Das könnte mich eher empören. Das Blut steigt mir in die Wangen, wenn ich bedenke, wie gering er einen Mann achten muß, den er selbst, die Waffen in der Hand, zu seinem Feind hinüber schickt.

JUDITH. Er ist ein Tyrann!

ACHIOR. Ja, aber er wurde geboren, es zu sein. Man hält sich und die Welt für nichts, wenn man bei ihm ist. Einmal ritt ich mit ihm im wildesten Gebirg. Wir kommen an eine Kluft, breit, schwindlich tief. Er spornt sein Pferd, ich greif ihm in die Zügel, deute auf die Tiefe und sage: sie ist unergründlich![42] »Ich will ja auch nicht hinein, ich will hinüber!« ruft er und wagt den grausigen Sprung. Ehe ich noch folgen kann, hat er kehrtgemacht und ist wieder bei mir. »Ich meinte dort eine Quelle zu sehen – sagt er – und wollte trinken, aber es ist nichts. Verschlafen wir den Durst.« Und wirft mir die Zügel zu und springt herab vom Pferd und schläft ein. Ich konnte mich nicht halten, ich stieg gleichfalls ab, und berührte sein Kleid mit meinen Lippen und stellte mich gegen die Sonne, damit er Schatten habe. Pfui über mich! Ich bin so sehr sein Sklave, daß ich ihn lobe, wenn ich von ihm spreche.

JUDITH. Er liebt die Weiber?

ACHIOR. Ja, aber nicht anders, wie Essen und Trinken.

JUDITH. Fluch ihm!

ACHIOR. Was willst du? Ich hab eine meines Volks gekannt, die verrückt ward, weil er sie verschmähte. Sie schlich sich in sein Schlafgemach und trat plötzlich, als er sich eben ins Bett gelegt hatte, mit gezücktem Dolch drohend vor ihn hin.

JUDITH. Was tat er?

ACHIOR. Er lachte, und lachte so lange, bis sie sich selbst durchstach.

JUDITH. Hab Dank, Holofernes! Nur an diese brauch ich zu denken, und ich werde Mut haben, wie ein Mann!

ACHIOR. Was ist dir?

JUDITH. O, steigt vor mir empor aus euern Gräbern, ihr, die er morden ließ, daß ich in eure Wunden schaue; tretet vor mich hin, ihr, die er geschändet hat, und schlagt die auf ewig zugefallenen Augen noch einmal wieder auf, daß ich drin lese, wie viel er euch schuldig ward! Ihr alle sollt bezahlt werden! Doch warum denk ich eurer, warum nicht der Jünglinge, die sein Schwert noch fressen, der Jungfrauen, die er in seinen Armen noch zerdrücken kann! Ich will die Toten rächen und die Lebendigen beschirmen. – Zu Achior. Ich bin doch für ein Opfer schön genug?

ACHIOR. Niemand sah deinesgleichen.

JUDITH zu dem Ältesten. Ich hab ein Geschäft bei dem Holofernes. Wollt ihr mir das Tor öffnen lassen?

DER ÄLTESTE. Was hast du vor?

JUDITH. Niemand darf es wissen, als der Herr unser Gott![43]

DER ÄLTESTE. So sei er mit dir! Das Tor steht dir offen!

EPHRAIM. Judith! Judith! Nimmer vollbringst dus!

JUDITH zu Mirza. Hast du den Mut, mich zu begleiten?

MIRZA. Ich hätte noch weniger den Mut, dich allein ziehen zu lassen.

JUDITH. Und du tatest, was ich dir befahl?

MIRZA. Wein und Brot ist hier. Es ist nur wenig!

JUDITH. Es ist zu viel!

EPHRAIM für sich. Hätt ich das geahnt, so hätt ich nach ihren Worten getan! Grausam werd ich gestraft!

JUDITH geht ein paar Schritte, dann wendet sie sich noch einmal zum Volk. Betet für mich, wie für eine Sterbende! Lehrt die kleinen Kinder meinen Namen und lasset sie für mich beten.


Sie geht auf das Tor zu, es wird geöffnet, so wie sie heraus ist, fallen alle, außer Ephraim, auf die Kniee.


EPHRAIM. Ich will nicht beten, daß Gott sie schützen soll. Ich will sie selbst schützen! Sie geht in des Löwen Höhle – ich glaube, sie tuts nur, weil sie erwartet, daß alle Männer ihr folgen werden. Ich folge; wenn ich sterbe, so sterb ich ja nur etwas früher, als alle die andern. Vielleicht kehrt sie um! Ab.

DELIA tritt in größter Bewegung unter das Volk. Wehe! Wehe!

EINER DER ÄLTESTEN. Was hast du?

DELIA. Der Stumme! Der furchtbare Stumme! Er hat meinen Mann erwürgt!

EINER AUS DEM VOLKE. Das ist des Samaja Weib!

DER VORIGE ÄLTESTE zu Delia. Wie konnte das geschehen?

DELIA. Samaja kam mit dem Stummen zu Hause. Er ging mit ihm in die hintere Kammer und riegelte hinter sich zu. Ich hörte Samaja laut reden und den Stummen ächzen und schluchzen. »Was ists?« denk ich und schleiche mich an die Kammertür und lausche hinein durch einen Spalt. Der Stumme sitzt und hält ein scharfes Messer in der Hand, Samaja steht neben ihm und macht ihm schwere Vorwürfe. Der Stumme kehrt das Messer gegen seine Brust, ich stoß einen Schrei aus und entsetze mich, da ich sehe, daß Samaja ihn nicht in seiner Raserei zu hindern sucht. Aber auf einmal wirft der Stumme sein Messer weg und fällt über Samaja her; er reißt ihn, wie mit übermenschlicher Gewalt, zu Boden, und packt ihn bei der[44] Kehle. Samaja kann sich seiner nicht erwehren, er ringt mit ihm; ich rufe um Hülfe. Nachbarn kommen herbei, die Tür, die von innen verriegelt ist, wird eingerannt. Zu spät. Der Stumme hat Samaja schon erwürgt; wie ein Tier wütet er noch gegen den Toten, und lacht, da er uns eintreten hört. Als er mich an der Stimme erkennt, wird er still und rutscht auf den Knieen zu mir heran; Mörder! ruf ich; da weist er mit dem Finger gen Himmel, dann sucht er das Messer am Boden, hebt es auf, reicht es mir und deutet auf seine Brust, als ob er wolle, daß ich ihn durchstoßen solle.

EIN PRIESTER. Daniel ist ein Prophet. Der Herr hat den Stummen reden lassen; er hat ein Wunder getan, damit ihr an die Wunder, die er noch tun will, glauben könnt! Samaja ist zu Schanden worden mit seiner Prophezeiung! An Daniel hat er gefrevelt, durch Daniels Hand hat er seinen Lohn empfangen.

STIMMEN IM VOLK. Hin zu Daniel, damit ihm kein Leid geschehe!

DER PRIESTER. Der Herr hat ihn gesandt, der Herr wird ihn schützen. Gehet hin und betet.


Das Volk zerstreut sich zu verschiedenen Seiten.


DELIA. Weiter haben sie keinen Trost für mich, als daß sie sagen: Er, den ich liebte, sei ein Sünder gewesen. Sie geht ab.

Quelle:
Friedrich Hebbel: Werke. Band 1–5, Band 1, München 1963, S. 27-45.
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