10. Offenbarung

[205] Auf deinem Grabe saß ich stumm

In lauer Sommernacht;

Die Blumen blühten rings herum,

Die schon dein Grab gebracht.

Und still und märchenhaft umfing

Ihr Duft mich, süß und warm,

Bis ich in sanftem Weh verging,

Wie einst in deinem Arm.


Und meine Augen schlossen sich,

Vom Schlummer leicht begrüßt;

Mir war, als würden sie durch dich

Mir leise zugeküßt.

Still auf den Rasen sank ich hin,

Der deinen Staub bedeckt,

Doch ward zugleich der inn're Sinn

Mir wunderbar geweckt.[205]


Was ich geträumt, ich weiß es nicht,

Ich ahn' es nur noch kaum,

Daß du, ein himmlisches Gesicht,

Mir nahe warst im Traum.

Doch, was dies flücht'ge Wiederseh'n

In meiner Brust geschafft,

Das kann die Seele wohl versteh'n,

Die glüht in neuer Kraft.


Du hast der Dinge Ziel und Grund

An Gottes Thron durchschaut,

Und thatest kühn mir wieder kund,

Was dir der Tod vertraut.

Und wenn das große Lösungswort

Auch mit dem Traum entschwand,

So wirkt es doch im Tiefsten fort,

Gewaltig, unerkannt!


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 205-206.
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