4. Situation

[224] In die kühle Felsengrotte

Tritt der junge Jäger ein.

Heiß ist's draußen, um zu schlummern,

Legt er still sich auf's Gestein.


Und der Schlaf, der ewig milde,

Schließt ihm bald die Augen dicht;[224]

Süßer Träume lichte Schatten

Fliegen über sein Gesicht.


In die kühle Felsengrotte

Tritt ein Mädchen, hoch und schlank,

Sieht den Schläfer, hold erschreckend,

Naht sich hastig seiner Bank.


Will ihn wecken, höret Schritte,

Ruft mit Angst: es ist zu spät!

Macht des Kreuzes schirmend Zeichen

Ueber ihn, wie im Gebet.


In die Grotte tritt der Wildschütz,

Sieht den jungen Jägersmann,

Greift erblassend nach der Büchse,

Spannt den Hahn, legt auf ihn an.


Vor den Bruder tritt das Mädchen,

Doch er drängt sie stumm zurück;

Der hat einst auf mich geschossen!

Sagt ihr ernst und streng sein Blick.


»Sieh ihn schlafen – spricht sie leise –

Er ist jetzt in Gottes Schutz,

Ihm zur Seite steht ein Engel,

Fühlst du's nicht in deinem Trutz?«


Als er auflacht, fleht sie innig:

»Sieh, er schläft so ruhig fort!

Laß, bis er erwacht, ihn leben!« –

Er gelobt's mit kurzem Wort.


Still am Flintensteine schraubend,

Blickt er auf den Feind so wild;

Lautlos auf die Kniee sinkend,

Liegt sie bleich, ein Marmorbild.[225]


»Glaubst du nicht an seinen Engel,

Oder bist du's selbst zumeist?«

Ach, ich bete – seufzt sie weinend –

Daß du nie ein Mörder seist!


Pulver auf die Pfanne schüttend,

Spricht er finster, ungeirrt:

»Wenn ich auch ein Mörder werde,

Ist es nur, daß Der's nicht wird!«


Ringsum Stille, durch das Summen

Eines Käfers kaum gestört,

Tief genug, daß man des Schläfers

Leise Athemzüge hört.


Quelle:
Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. 1. Abteilung: Werke, Berlin [1911 ff], S. 224-226.
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