Noch eine Frage

[91] Und weisch denn selber au, du liebi Seel,

worum de dine zarte Chinde d'Freud

in so ne stachlig Bäumli ine henksch?

Wil's grüeni Blättli het im Winter, meinsch,

und spitzi Dorn, aß 's Büebli nit, wie 's will,

die schöne Sachen use hökle cha.

's wär nit gar übel gfehlt, doch weisch's nit recht.

Denkwol, i sag der's, und i freu mi druf.

Lueg, liebi Seel, vom Menschelebe soll

der dornig Freudebaum en Abbild si.

Nooch binenander wohne Leid und Freud,

und was der 's Lebe süeß und liebli macht,

und was no schöner in der Ferni schwebt,

de freusch di druf, doch in der Dörne hangt's.

Was denksch derzu? Zum erste sagi so:

Wenn Wermet in di Freudebecher fließt

und wenn e scharfe Schmerz dur's Lebe zuckt,

verschrick nit drab, und stell di nit so fremd!

Di eigni Muetter selig, tröst sie Gott,

sie het der 's Zeichen in der Chindheit ge.

Drum denk: »Es isch e Wiehniechtchindlibaum,

nooch binenander wohne Freud und Leid.«

Zum zweite sagi das: Es wäre nit gut,

wenn's anderst wär. Was us de Dorne luegt,

sieht gar viel gattiger und schöner us,

und 's Fürnehmst isch, me het au länger dra.

's wär just, as wemme Zuckerbrot und Nuß,

und was am Bäumli schön und glitzrig hangt,

uf eimol in e Suppeschüßli tät,

und stellti's umme: »Iß, so lang de magsch,

und näumis do isch!« Wär's nit Uverstand?

Zum dritte sagi: Wemmen in der Welt

will Freude hasche, Vorsicht ghört derzu;

sust lengt me bald in d'Aglen und in Dörn,[92]

und zieht e Hand voll Stich und Schrunde zruck.

Denn d'Freud hangt in de Dorne. Denk mer dra,

und tue ne wenig gmach! Doch wenn des hesch,

se loß der's schmecke! Gunn der's Gott der Her!

Quelle:
Johann Peter Hebel: Gesamtausgabe, Band 3, Karlsruhe 1972, S. 91-93.
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