Fürchterlicher Kampf
eines Menschen mit einem Wolf

[168] In Frankreich ist ein Departement, heißt Goldhügel. In diesem Departement befindet sich eine kleine Landschaft, genannt Saulieu, (mußt lesen Soliö). Diese Landschaft bekam im März des Jahrs 1807 einen schlimmen Besuch von einem reißenden Tier, wie man noch keines daselbst gesehen hatte, hierzuland auch nicht. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Wolf, wird auch einer gewesen sein. Doch hatte es eine kürzere Schnauze als ein gemeiner Wolf, war lang und mager und mit langen dunkelgrünen Haaren besetzt. Diese grausame und blutgierige Bestie wütete mehrere Tage lang zum Schrecken der Einwohner in dem Lande herum, griff Menschen und Tiere an, wagte sich sogar am 30. März am hellen Tag auf der Landstraße an die Reisenden, zerriß einen Konskribierten, zerfleischte zwei Mägdlein und einen Knaben und blieb selbige Nacht nahe bei dem Hause eines Landmannes, namens Machin, im Gebüsche über Nacht. Der gute Machin, der an eine solche Schildwache vor seinem Hause nicht dachte, ging des Morgens früh um 3 Uhr, als es noch ganz finster war, aus dem Hause. Da hörte er etwas rauschen im Gebüsch, glaubte es sei die Katze, die sich vor einigen Tagen verlaufen hatte, und rief seiner Frau, die Katze sei da. Aber in dem nämlichen Augenblick springt das Untier wütend auf ihn los. Er wirft es zurück. Es kommt wieder, stellt sich auf die Hinterfüße, drückt ihn zwei Schritte weit an die Wand zurück, und packt ihn mit einem Rachen voll scharfer starker Zähne wütend an der linken Brust. Vergehens sucht er sich loszumachen. Das[168] Tier setzt immer tiefer seine Zähne ein, und verursacht ihm die entsetzlichsten Schmerzen. Da umfaßt es der herzhafte und starke Machin mit beiden Armen, drückt es fest an sich, ringt mit ihm bis er es im Hause hat, wirft sich mit ihm auf einen Tisch, so daß das Tier unten lag, und rief seiner Frau, daß sie ein Licht anzünde. Aber Frau und Kinder wagten es nicht, sich zu nähern, und das Tier biß sich immer tiefer und tiefer in die Brust des unglücklichen Mannes ein, bis endlich die älteste Tochter von 22 Jahren sich ermannte, und mit einem Licht und einem Messer herbeieilte. Der Vater drückt so stark er kann, mit seinem Körper auf das Tier, zeigt ihr mit der linken Hand, wo sie hineinstechen müsse, daß das Ungeheuer sicher getötet werde. Noch biß sich die Bestie immer tiefer und tiefer ein, während die Tochter den kühnen und glücklichen Stich tat, und ein paarmal das Messer in der Wunde umkehrte. Aber jetzt schoß das heiße schwarze Blut wie ein Strom aus der tödlichen Wunde hervor, das Best fing an die Augen zu verdrehen, und es war ihm nicht, als wenn es noch viele Buben und Mägdlein verreißen wollte. Aber erst nachdem es sich völlig verblutet hatte, war man imstande, die Brust des braven Machin von ihm loszumachen, so fest hatte es sich mit seinen mörderischen Zähnen eingehauen. Drauf wurde das Untier vollends totgeschlagen und verlocht. Machin aber hatte doch lange an seiner Brust zu leiden und zu heilen, und sagt, er wolle sein Leben lang dran denken.

[1809]

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 168-169.
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