Gutes Wort, böse Tat

[204] In einem edelmännischen Dorf trifft ein Bauer den Herrn Schulmeister im Felde an. »Ist's noch Euer Ernst, Schulmeister, was Ihr gestern den Kindern zergliedert habt: So dich jemand schlägt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar?« Der Herr Schulmeister sagt: »Ich kann nichts davon und nichts dazu tun. Es steht im Evangelium.« Also[204] gab ihm der Bauer eine Ohrfeige, und die andere auch, denn er hatte schon lang einen Verdruß auf ihn. Indem reitet in einiger Entfernung der Edelmann vorbei und sein Jäger: »Schau doch nach, Joseph, was die zwei dort miteinander haben.« Als der Joseph kommt, gibt der Schulmeister, der ein starker Mann war, dem Bauer auch zwei Ohrfeigen, und sagte: »Es steht auch geschrieben: ›Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch wieder gemessen werden. Ein voll gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben‹«; und zu dem letzten Sprüchlein gab er ihm noch ein halbes Dutzend drein. Da kam der Joseph zu seinem Herrn zurück, und sagte: »Es hat nichts zu bedeuten, gnädiger Herr; sie legen einander nur die Heilige Schrift aus.«

Merke: Man muß die Heilige Schrift nicht auslegen, wenn man's nicht versteht, am allerwenigsten so. Denn der Edelmann ließ den Bauren noch selbige Nacht in den Turm werfen auf 6 Tage, und dem Herrn Schulmeister, der mehr Verstand und Respekt vor der Bibel hätte haben sollen, gab er, als die Winterschule ein Ende hatte, den Abschied.

[1810]

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 204-205.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes
Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes.
Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Nachdruck der Ausgabe von 1811 sowie sämtliche Kalendergeschichten aus dem 'Rheinländischen Hausfreund' der Jahre 1808 - 1819
Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (Fischer Klassik)
Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes
Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. Ein Werk in seiner Zeit