Heimliche Enthauptung

[197] Hat der Scharfrichter von Landau früh den 17. Juni seiner Zeit die sechste Bitte des Vaterunsers mit Andacht gebetet, so weiß ich's nicht. Hat er sie nicht gebetet, so kam ein Brieflein von Nanzig am geschicktesten Tag. In dem Brieflein stand geschrieben: »Nachrichter von Landau! Ihr sollt unverzüglich nach Nanzig kommen, und Euer großes Richtschwert mitbringen. Was Ihr zu tun habt, wird man Euch sagen und wohl bezahlen.« – Eine Kutsche zur Reise stand auch schon vor der Haustüre. Der Scharfrichter dachte: »Das ist meines Amts«, und setzte sich in die Kutsche. Als er noch eine Stunde herwärts Nanzig war, es war schon Abend, und die Sonne[197] ging in blutroten Wolken unter, und der Kutscher hielt stille, und sagte: »Wir bekommen morgen wieder schön Wetter« da standen auf einmal drei starke, bewaffnete Männer an der Straße, die setzten sich auch zu dem Scharfrichter, und versprachen ihm, daß ihm kein Leids widerfahren sollte, »aber die Augen müßt Ihr Euch zubinden lassen«; und als sie ihm die Augen zugebunden hatten, sagten sie: »Schwager, fahr zu.« Der Schwager fuhr fort, und es war dem Scharfrichter, als wenn er noch gute zwölf Stunden weiter wäre geführt worden, und konnte nicht wissen, wo er war. Er hörte die Nachteulen der Mitternacht; er hörte die Hähne rufen; er hörte die Morgenglocken läuten. Auf einmal hielt die Kutsche wieder still. Man führte ihn in ein Haus, und gab ihm eins zu trinken, und einen guten Wurstwecken dazu. Als er sich mit Speise und Trank gestärkt hatte, führte man ihn weiter im nämlichen Haus, Tür ein und aus, Treppe auf und ab, und als man ihm die Binde abnahm, befand er sich in einem großen Saal. Der Saal war zwar ringsum mit schwarzen Tüchern behängt, und auf den Tischen brannten Wachskerzen. In der Mitte saß auf einem Stuhl eine Person mit entblößtem Hals und mit einer Larve vor dem Gesicht, und muß etwas in dem Mund gehabt haben, denn sie konnte nicht reden, sondern nur schluchzen. Aber an den Wänden standen mehrere Herren in schwarzen Kleidern und mit schwarzem Flor vor den Angesichtern, also, daß der Scharfrichter keinen von ihnen gekannt hätte, wenn er ihm in der andern Stunde wieder begegnet wäre, und einer von ihnen überreichte ihm sein Schwert, mit dem Befehl, dieser Person, die auf dem Stühlen saß, den Kopf abzuhauen. Da ward's dem armen Scharfrichter, als wenn er auf einmal im eiskalten Wasser stünde bis übers Herz, und sagte: das soll man ihm nicht übelnehmen. Sein Schwert, das dem Dienste der Gerechtigkeit gewidmet sei, könne er mit einer Mordtat nicht entheiligen. Allein einer von den Herren hob ihm aus der Ferne eine Pistole entgegen, und sagte: »Entweder, oder! Wenn Ihr nicht tut, was man Euch heißt, so seht Ihr den Kirchturm von Landau nimmermehr.« Da dachte der Scharfrichter an Frau und Kinder daheim, »und wenn's nicht anders sein kann«, sagte er, »und[198] ich vergieße unschuldiges Blut, so komme es auf Euer Haupt«, und schlug mit einem Hieb der armen Person den Kopf vom Leibe weg. Nach der Tat, so gab ihm einer von den Herrn einen Geldbeutel, worin zweihundert Dublonen waren. Man band ihm die Augen wieder zu, und führte ihn in die nämliche Kutsche zurück. Die nämlichen Personen begleiteten ihn wieder, die ihn gebracht hatten. Und als endlich die Kutsche stille hielt, und er bekam die Erlaubnis, auszusteigen, und die Binde von den Augen abzulösen, stand er wieder, wo die drei Männer zu ihm eingesessen waren, eine Stunde herwärts Nanzig auf der Straße nach Landau, und es war Nacht. Die Kutsche aber fuhr eiligst wieder zurück.

Das ist dem Scharfrichter von Landau begegnet, und es wäre dem Hausfreund leid, wenn er sagen könnte, wer die arme Seele war, die auf einem so blutigen Weg in die Ewigkeit hat gehen müssen. Nein, es hat niemand erfahren, wer sie war, und was sie gesündiget hat, und niemand weiß das Grab.

[1810]

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 197-199.
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