Unglück der Stadt Leiden

[97] Diese Stadt heißt schon seit undenklichen Zeiten Leiden, und hat noch nie gewußt, warum, bis am 12. Jän. des Jahrs 1807. Sie liegt am Rhein in dem Königreich Holland, und hatte vor diesem Tag eilftausend Häuser, welche von 40000 Menschen bewohnt waren, und war nach Amsterdam wohl die größte Stadt im ganzen Königreich. Man stand an diesem Morgen noch auf, wie alle Tage; der eine betete sein: »Das walt Gott«, der andere ließ es sein, und niemand dachte daran, wie es am Abend aussehen wird, obgleich ein Schiff mit siebenzig Fässern voll Pulver in der Stadt war. Man aß zu Mittag, und ließ sich's schmecken, wie alle Tage, obgleich das Schiff noch immer da war. Aber als nachmittags der Zeiger auf dem großen Turm auf halb fünf stand – fleißige Leute saßen daheim und arbeiteten, fromme Mütter wiegten ihre Kleinen, Kaufleute gingen ihren Geschäften nach, Kinder waren beisammen in der Abendschule, müßige Leute hatten Langeweile und saßen im Wirtshaus beim Kartenspiel und Weinkrug, ein Bekümmerter sorgte für den andern Morgen, was er essen, was er trinken, womit er sich kleiden werde, und ein Dieb steckte vielleicht gerade einen falschen Schlüssel in eine fremde Türe, – und plötzlich geschah ein Knall. Das Schiff mit sei nen 70 Fässern Pulver bekam Feuer, sprang in die Luft, und in einem Augenblick, (ihr könnt's nicht so geschwind lesen, als es geschah) in einem Augenblick waren ganze lange Gassen voll Häuser mit allem was darin wohnte und lebte, zerschmettert und in einen Steinhaufen zusammengestürzt oder entsetzlich beschädigt. Viele hundert Menschen wurden lebendig und tot unter diesen Trümmern begraben oder schwer verwundet. Drei Schulhäuser gingen mit allen Kindern, die darin waren, zugrunde, Menschen und Tiere, welche in der Nähe des Unglücks auf der Straße waren, wurden von der Gewalt des Pulvers in die Luft geschleudert und kamen in einem kläglichen Zustand wieder auf die Erde. Zum Unglück brach auch noch eine Feuersbrunst aus, die bald an allen Orten wütete, und konnte fast nimmer gelöscht werden, weil viele Vorratshäuser voll[97] Öl und Tran mit ergriffen wurden. Achthundert der schönsten Häuser stürzten ein oder mußten niedergerissen werden. Da sah man auch, wie es am Abend leicht anders werden kann, als es am frühen Morgen war, nicht nur mit einem schwachen Menschen, sondern auch mit einer großen und volkreichen Stadt. Der König von Holland setzte sogleich ein namhaftes Geschenk auf jeden Menschen, der noch lebendig gerettet werden konnte. Auch die Toten, die aus dem Schutt hervorgegraben wurden, wurden auf das Rathaus gebracht, damit sie von den Ihrigen zu einem ehrlichen Begräbnis konnten abgeholt werden. Viele Hülfe wurde geleistet. Obgleich Krieg zwischen England und Holland war, so kamen doch von London ganze Schiffe voll Hülfsmittel und große Geldsummen für die Unglücklichen, und das ist schön – denn der Krieg soll nie ins Herz der Menschen kommen. Es ist schlimm genug, wenn er außen vor allen Toren und vor allen Seehäfen donnert.

[1808]

Quelle:
Johann Peter Hebel: Poetische Werke. München 1961, S. 97-98.
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