3.

[170] Still versteckt der Mond sich draußen

Hinterm grünen Tannenbaum,

Und im Zimmer unsre Lampe

Flackert matt und leuchtet kaum.


Aber meine blauen Sterne

Strahlen auf in hellerm Licht,

Und es glühn die Purpurröslein,

Und das liebe Mädchen spricht:


»Kleines Völkchen, Wichtelmännchen,

Stehlen unser Brot und Speck,

Abends liegt es noch im Kasten,

Und des Morgens ist es weg.


Kleines Völkchen, unsre Sahne

Nascht es von der Milch, und läßt

Unbedeckt die Schüssel stehen,

Und die Katze säuft den Rest.


Und die Katz' ist eine Hexe,

Denn sie schleicht, bei Nacht und Sturm,

Drüben nach dem Geisterberge,

Nach dem altverfallnen Turm.


Dort hat einst ein Schloß gestanden,

Voller Lust und Waffenglanz;

Blanke Ritter, Fraun und Knappen

Schwangen sich im Fackeltanz.


Da verwünschte Schloß und Leute

Eine böse Zauberin,

Nur die Trümmer blieben stehen,

Und die Eulen nisten drin.
[170]

Doch die sel'ge Muhme sagte:

Wenn man spricht das rechte Wort,

Nächtlich zu der rechten Stunde,

Drüben an dem rechten Ort:


So verwandeln sich die Trümmer

Wieder in ein helles Schloß,

Und es tanzen wieder lustig

Ritter, Fraun und Knappentroß;


Und wer jenes Wort gesprochen,

Dem gehören Schloß und Leut',

Pauken und Trompeten huld'gen

Seiner jungen Herrlichkeit.«


Also blühen Märchenbilder

Aus des Mundes Röselein,

Und die Augen gießen drüber

Ihren blauen Sternenschein.


Ihre goldnen Haare wickelt

Mir die Kleine um die Händ',

Gibt den Fingern hübsche Namen,

Lacht und küßt, und schweigt am End'.


Und im stillen Zimmer alles

Blickt mich an so wohlvertraut;

Tisch und Schrank, mir ist, als hätt ich

Sie schon früher mal geschaut.


Freundlich ernsthaft schwatzt die Wanduhr,

Und die Zither, hörbar kaum,

Fängt von selber an zu klingen,

Und ich sitze wie im Traum.
[171]

Jetzo ist die rechte Stunde,

Und es ist der rechte Ort;

Ja, ich glaube, von den Lippen

Gleitet mir das rechte Wort.


»Siehst du, Kindchen, wie schon dämmert

Und erbebt die Mitternacht!

Bach und Tannen brausen lauter,

Und der alte Berg erwacht.


Zitherklang und Zwergenlieder

Tönen aus des Berges Spalt,

Und es sprießet, wie 'n toller Frühling,

Draus hervor ein Blumenwald; –


Blumen, kühne Wunderblumen,

Blätter, breit und fabelhaft,

Duftig bunt und hastig regsam,

Wie gedrängt von Leidenschaft.


Rosen, wild wie rote Flammen,

Sprühn aus dem Gewühl hervor;

Lilien, wie kristallne Pfeiler,

Schießen himmelhoch empor.


Und die Sterne, groß wie Sonnen,

Schaun herab mit Sehnsuchtglut;

In der Lilien Riesenkelche

Strömet ihre Strahlenflut.


Doch wir selber, süßes Kindchen,

Sind verwandelt noch viel mehr;

Fackelglanz und Gold und Seide

Schimmern lustig um uns her.
[172]

Du, du wurdest zur Prinzessin,

Diese Hütte ward zum Schloß,

Und da jubeln und da tanzen

Ritter, Fraun und Knappentroß,


Aber ich, ich hab erworben

Dich und alles, Schloß und Leut';

Pauken und Trompeten huld'gen

Meiner jungen Herrlichkeit!«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 170-173.
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