6. Erklärung

[185] Herangedämmert kam der Abend,

Wilder toste die Flut,

Und ich saß am Strand, und schaute zu

Dem weißen Tanz der Wellen,

Und meine Brust schwoll auf wie das Meer,

Und sehnend ergriff mich ein tiefes Heimweh

Nach dir, du holdes Bild,

Das überall mich umschwebt,

Und überall mich ruft,

Überall, überall,

Im Sausen des Windes, im Brausen des Meers,

Und im Seufzen der eigenen Brust.


Mit leichtem Rohr schrieb ich in den Sand:

»Agnes, ich liebe dich!«

Doch böse Wellen ergossen sich

Über das süße Bekenntnis,

Und löschten es aus.


Zerbrechliches Rohr, zerstiebender Sand,

Zerfließende Wellen, euch trau ich nicht mehr!

Der Himmel wird dunkler, mein Herz wird wilder,

Und mit starker Hand, aus Norwegs Wäldern,

Reiß ich die höchste Tanne,

Und tauche sie ein

In des Ätnas glühenden Schlund, und mit solcher

Feuergetränkten Riesenfeder

Schreib ich an die dunkle Himmelsdecke:

»Agnes, ich liebe dich!«


Jedwede Nacht lodert alsdann

Dort oben die ewige Flammenschrift,[185]

Und alle nachwachsende Enkelgeschlechter

Lesen jauchzend die Himmelsworte:

»Agnes, ich liebe dich!«


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 185-186.
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