1.

[130] »Lechzend klebe mir die Zunge

An dem Gaumen, und es welke[130]

Meine rechte Hand, vergäß ich

Jemals dein, Jerusalem –«


Wort und Weise, unaufhörlich

Schwirren sie mir heut im Kopfe,

Und mir ist, als hört ich Stimmen,

Psalmodierend, Männerstimmen –


Manchmal kommen auch zum Vorschein

Bärte, schattig lange Bärte –

Traumgestalten, wer von euch

Ist Jehuda ben Halevy?


Doch sie huschen rasch vorüber;

Die Gespenster scheuen furchtsam

Der Lebend'gen plumpen Zuspruch –

Aber ihn hab ich erkannt –


Ich erkannt ihn an der bleichen

Und gedankenstolzen Stirne,

An der Augen süßer Starrheit –

Sahn mich an so schmerzlich forschend –


Doch zumeist erkannt ich ihn

An dem rätselhaften Lächeln

Jener schön gereimten Lippen,

Die man nur bei Dichtern findet.


Jahre kommen und verfließen.

Seit Jehuda ben Halevy

Ward geboren, sind verflossen

Siebenhundertfunfzig Jahre –


Hat zuerst das Licht erblickt

Zu Toledo in Kastilien,

Und es hat der goldne Tajo

Ihm sein Wiegenlied gelullet.
[131]

Für Entwicklung seines Geistes

Sorgte früh der strenge Vater,

Der den Unterricht begann

Mit dem Gottesbuch, der Thora.


Diese las er mit dem Sohne

In dem Urtext, dessen schöne,

Hieroglyphisch pittoreske,

Altchaldäische Quadratschrift


Herstammt aus dem Kindesalter

Unsrer Welt, und auch deswegen

Jedem kindlichen Gemüte

So vertraut entgegenlacht.


Diesen echten alten Text

Rezitierte auch der Knabe

In der uralt hergebrachten

Singsangweise, Tropp geheißen –


Und er gurgelte gar lieblich

Jene fetten Gutturalen,

Und er schlug dabei den Triller,

Den Schalscheleth, wie ein Vogel.


Auch den Targum Onkelos,

Der geschrieben ist in jenem

Plattjudäischen Idiom,

Das wir Aramäisch nennen


Und zur Sprache der Propheten

Sich verhalten mag etwa

Wie das Schwäbische zum Deutschen –

Dieses Gelbveiglein-Hebräisch
[132]

Lernte gleichfalls früh der Knabe,

Und es kam ihm solche Kenntnis

Bald darauf sehr gut zustatten

Bei dem Studium des Talmuds.


Ja, frühzeitig hat der Vater

ihn geleitet zu dem Talmud,

Und da hat er ihm erschlossen

Die Halacha, diese große


Fechterschule, wo die besten

Dialektischen Athleten

Babylons und Pumpedithas

Ihre Kämpferspiele trieben.


Lernen konnte hier der Knabe

Alle Künste der Polemik;

Seine Meisterschaft bezeugte

Späterhin das Buch Cosari.


Doch der Himmel gießt herunter

Zwei verschiedne Sorten Lichtes:

Grelles Tageslicht der Sonne

Und das mildre Mondlicht – Also,


Also leuchtet auch der Talmud

Zwiefach, und man teilt ihn ein

In Halacha und Hagada.

Erstre nannt ich eine Fechtschul' –


Letztre aber, die Hagada,

Will ich einen Garten nennen,

Einen Garten, hochphantastisch

Und vergleichbar jenem andern,
[133]

Welcher ebenfalls dem Boden

Babylons entsprossen weiland –

Garten der Semiramis,

Achtes Wunderwerk der Welt.


Königin Semiramis,

Die als Kind erzogen worden

Von den Vögeln, und gar manche

Vögeltümlichkeit bewahrte,


Wollte nicht auf platter Erde

Promenieren wie wir andern

Säugetiere, und sie pflanzte

Einen Garten in der Luft –


Hoch auf kolossalen Säulen

Prangten Palmen und Zypressen,

Goldorangen, Blumenbeete,

Marmorbilder, auch Springbrunnen,


Alles klug und fest verbunden

Durch unzähl'ge Hängebrücken,

Die wie Schlingepflanzen aussahn

Und worauf sich Vögel wiegten –


Große, bunte, ernste Vögel,

Tiefe Denker, die nicht singen,

Während sie umflattert kleines

Zeisigvolk, das lustig trillert –


Alle atmen ein, beseligt,

Einen reinen Balsamduft,

Welcher unvermischt mit schnödem

Erdendunst und Mißgeruche.
[134]

Die Hagada ist ein Garten

Solcher Luftkindgrillenart,

Und der junge Talmudschüler,

Wenn sein Herze war bestäubet


Und betäubet vom Gezänke

Der Halacha, vom Dispute

Über das fatale Ei,

Das ein Huhn gelegt am Festtag,


Oder über eine Frage

Gleicher Importanz – der Knabe

Floh alsdann, sich zu erfrischen,

In die blühende Hagada,


Wo die schönen alten Sagen,

Engelmärchen und Legenden,

Stille Märtyrerhistorien,

Festgesänge, Weisheitsprüche,


Auch Hyperbeln, gar possierlich,

Alles aber glaubenskräftig,

Glaubensglühend – Oh, das glänzte,

Quoll und sproß so überschwenglich –


Und des Knaben edles Herze

Ward ergriffen von der wilden,

Abenteuerlichen Süße,

Von der wundersamen Schmerzlust


Und den fabelhaften Schauern

Jener seligen Geheimwelt,

Jener großen Offenbarung,

Die wir nennen Poesie.
[135]

Auch die Kunst der Poesie,

Heitres Wissen, holdes Können,

Welches wir die Dichtkunst heißen,

Tat sich auf dem Sinn des Knaben.


Und Jehuda ben Halevy

Ward nicht bloß ein Schriftgelehrter,

Sondern auch der Dichtkunst Meister,

Sondern auch ein großer Dichter.


Ja, er ward ein großer Dichter,

Stern und Fackel seiner Zeit,

Seines Volkes Licht und Leuchte,

Eine wunderbare, große


Feuersäule des Gesanges,

Die der Schmerzenskarawane

Israels vorangezogen

In der Wüste des Exils.


Rein und wahrhaft, sonder Makel

War sein Lied, wie seine Seele –

Als der Schöpfer sie erschaffen,

Diese Seele, selbstzufrieden


Küßte er die schöne Seele,

Und des Kusses holder Nachklang

Bebt in jedem Lied des Dichters,

Das geweiht durch diese Gnade.


Wie im Leben, so im Dichten

Ist das höchste Gut die Gnade –

Wer sie hat, der kann nicht sünd'gen,

Nicht in Versen, noch in Prosa.
[136]

Solchen Dichter von der Gnade

Gottes nennen wir Genie:

Unverantwortlicher König

Des Gedankenreiches ist er.


Nur dem Gotte steht er Rede,

Nicht dem Volke – In der Kunst,

Wie im Leben, kann das Volk

Töten uns, doch niemals richten. –


Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 21972, S. 130-137.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Romanzero
Romanzero
Romanzero
Romanzero (Dodo Press)
Romanzero
Romanzero

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon