XXIV.
Die schlauen Mädchen.

[187] Zwey Mädchen brachten ihre Tage

Bey einer alten Base zu.

Die Alte hielt, zu ihrer Muhmen Plage,

Sehr wenig von der Morgenruh.

Kaum krähte noch der Hahn, bey frühem Tage,

So rief sie schon: Steht auf, ihr Mädchen! es ist spät,

Der Hahn hat schon zweymal gekräht.


Die Mädchen, die so gern noch mehr geschlafen hätten;

Denn überhaupt sagt man, daß es kein Mädchen giebt,

Die nicht den Schlaf und ihr Gesichte liebt;

Die wanden sich in ihren weichen Betten,

Und schwuren dem verdammten Hahn

Den Tod, und thaten ihm, da sie die Zeit ersahn,

Den ärgsten Tod rachsüchtig an.


Ich habs gedacht, du guter Hahn!

Erzürnter Schönen ihrer Rache[188]

Kann kein Geschöpf so leicht entfliehn.

Und, ihren Zorn sich zuzuziehn,

Ist leider! eine leichte Sache.


Der arme Hahn war also aus der Welt.

Vergebens nur ward von der Alten

Ein scharf Examen angestellt.

Die Mädchen thaten fremd und schalten

Auf den, der diesen Mord gethan,

Und weinten endlich mit der Alten

Recht bitterlich um ihren Hahn.


Allein was halfs den schlauen Kindern?

Der Tod des Hahns sollt' ihre Plage mindern,

Und er vermehrte sie noch mehr.

Die Base, die sie sonst nicht eh' im Schlafe störte,

Als bis sie ihren Haushahn hörte,

Wußt' in der Nacht jetzt nicht, um welche Zeit es wär';

Allein weil es ihr Alter mit sich brachte,

Daß sie um Mitternacht erwachte:

So rief sie die auch schon um Mitternacht,

Die, später aufzustehn, den Haushahn umgebracht.
[189]

* * * *


Wärst du so klug, die kleinen Plagen

Des Lebens willig auszustehn:

So würdest du dich nicht so oft genöthigt sehn,

Die größern Uebel zu ertragen.


Gellert.

Quelle:
Wilhelm Heinse: Erzählungen für junge Damen und Dichter gesammelt und mit Anmerkungen begleitet, Lemgo 1775, S. 187-190.
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