XXIX.
Die Küsse.

[201] Als sich aus Eigennutz Melisse

Dem muntern Koridon ergab,

Nahm sie, für einen ihrer Küsse,

Ihm anfangs dreyßig Schäfchen ab.


Am andern Tag erschien die Stunde,

Daß er den Tausch viel besser traf.

Sein Mund gewann von ihrem Munde

Schon dreyßig Küsse für ein Schaf.


Der dritte Tag war zu beneiden:

Da gab die milde Schäferinn

Um einen neuen Kuß mit Freuden

Ihm alle Schaafe wieder hin.


Allein am vierten giengs betrübter,

Indem sie Herd' und Hund verhieß

Für einen Kuß, den ihr Geliebter

Umsonst an Doris überließ.


von Hagedorn.

Quelle:
Wilhelm Heinse: Erzählungen für junge Damen und Dichter gesammelt und mit Anmerkungen begleitet, Lemgo 1775, S. 201-202.
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