[541] Dasselbe Gemach. Armleuchter mit brennenden Kerzen. Es ist Nacht. Fürst Schuiski steht vor der Tür im Vordergrund rechts. Die Zarin sitzt im Armsessel links vom Tisch. Neben ihr Ksénja, blaß und sehr erregt.
SCHUISKI.
Es ist so besser, hohe Frau.
MARIA.
Er hat
Es selbst gesagt?
SCHUISKI.
Er selbst. Ich soll dir melden,
Er wolle keinen sehn, die Zarin nicht
Und den Zaréwitsch nicht, vor allem aber
Nicht die Zaréwna.
KSÉNJA.
Mich will er nicht sehn –
Was heißt das, Mutter?
MARIA.
Ruhig doch, mein Kind –
KSÉNJA.
Was hab ich ihm getan?
MARIA.
Du mißverstehst,
Ich will dir gleich erklären ... sag mir, Fürst,
Erfuhr der Zar, daß Herzog Christian uns
Verlassen will – und von der Krankheit Übel,
Das ihn vor Abend rätselhaft befiel?
SCHUISKI.
Hier ist kein Rätsel, hohe Frau. Der junge
Herzog von Dänemark hat sein Gelübde,
Das ihn mit deinem edlen Kind verband,
In Staub getreten, Ring und Pergament
Zurück gegeben in des Zaren Hände –
Dann ging er hin und trank das Gift –
KSÉNJA.
Ein Gift!
MARIA.
Doch lebt er noch?
SCHUISKI.
Die Ärzte sind bei ihm.
Sie hoffen wenig, edle Frau.
KSÉNJA.
Warum?
Warum ein Gift? was heißt das, Mutter?
MARIA.
Kind,
Mein liebes Mädchen – hab Geduld – ich sage
Dir alles gleich ... geh nun zum Zaren, Fürst,
Wir werden ihm gehorchen.
SCHUISKI.
Du befiehlst.
Schuiski rechts ab.
KSÉNJA.
Jetzt, Mutter, sprich. Warum will mich der Vater –
Mich nicht mehr sehen?[542]
MARIA.
Jetzt nur, heute nur,
Will er allein sein –
KSÉNJA.
Nein! das ist es nicht!
MARIA.
Doch, Ksénja, höre nur: Not ist und Krieg
In unsrem Land – darum flieht uns der Herzog –
Dir ist dein Glück zerstört – so meint der Vater,
Er selbst, er trüge Schuld daran – du mußt
Das so verstehen, Kind, so ist es richtig –
KSÉNJA.
Ich muß den Vater sehn. Wenn ich ihn sehe
Dann weiß ich alles gleich. Hier ist noch mehr
Als du mir sagen willst. Die Frauen liefen
Weinend zu mir und sagten: Christian hätte
Mich heut verlassen – und es kamen andre,
Die schrieen: Gift! und: Herzog Christian stirbt!
Da war mir schon, als wankten über mir
Die Balken und Gewölbe –
MARIA.
Ksénja, Kind!
KSÉNJA.
Das war noch nicht genug – es kommt noch dies,
Daß mich der Vater – mich nicht sehen will –
Mutter, was ist so fürchterlich an mir,
Welch eine Pest des Herzens, daß den Herzog
Das Sterben schöner dünkt als unsrer Hände
Vereinigung – und daß der Vater mich
Nicht sehen will – was tat ich ihnen beiden –
Ich weiß doch nicht, was Arges ich getan,
Und muß es wissen – sag es mir nur rasch –
Mutter, der Himmel wankt – der Himmel, Mutter,
Bricht über mir zusammen –
MARIA.
Jesus Christus,
Sprich nicht so, Ksénja, Mädchen, sprich nicht so,
Gott ist mit uns – er hilft. Geh du mit mir,
Ich bringe dich zu Bett, mein Kind, und sitze
Die Nacht bei dir – so hör doch nur – es ist
Ein Mißverständnis –
KSÉNJA.
Laß mich gleich zu ihm,
Nur einen Augenblick – dann wird es gut –
Ich will nicht so vor seiner Türe stehn
Und mich vertreiben lassen –
MARIA.
Heute nicht –
KSÉNJA.
Nein heute – heute – Mutter, laß mich doch
Nur gleich zum Vater – gleich –
MARIA.
Ich darf nicht, Kind!
[543] Die Frauen verstummen, da Fürst Schuiski wieder aus dem Nebenzimmer tritt, gefolgt von Iljá, dem alten Diener des Zaren.
KSÉNJA.
Fürst, sahst du ihn?
SCHUISKI.
Sehr müde ist der Zar,
Er möchte ruhn, er hieß den Diener schon
Das Bett zur Nacht bereiten.
KSÉNJA.
Müde ist er –
So will ich denn bis morgen warten und
Ein wenig schlafen – geh auch du zu Bett,
Ich kann allein –
MARIA.
Nein, Kind!
KSÉNJA.
Komm, Mutter, komm!
Sie gehen ab.
SCHUISKI.
Der Zar ist krank. Hab sorglich acht auf ihn.
ILJÁ.
Weiß Gott, ich schließ kein Auge diese Nacht.
Es scheint mir nicht geheuer.
SCHUISKI.
Rede nur.
Weißt du etwas?
ILJÁ schlägt ein Kreuz.
Der Böse treibt sein Spiel.
SCHUISKI.
Glaubst du an Ammenmärchen, alter Mensch?
ILJÁ.
Du irrst dich, Herr. Dies sind mir Märchen nicht,
Wohl aber weiß ich, daß die untre Welt
Unholde sendet und Verwirrung schafft.
Du bist so alt wie ich und sahst es wohl
So oft wie ich. In Ruhe lebt ein Mensch
Und freut sich seines Friedens schlecht und recht
Und merkt nicht, daß ein häßliches Gebild
Ihm schon im Rücken steht. Dann kommt die Stunde,
Solch eine unbewachte, weißt du, Herr –
Man hat das Kreuz vergessen oder etwa
Das Nachtgebet – da schlüpft der Wicht hinein
Und krallt sich in der Seele fest und schickt
Verruchte Tat und wilde Worte aus –
Jetzt rast der Mensch, treibt Unzucht oder Mord
Und lügt und lästert Gott.
SCHUISKI.
So wähnst du jetzt
Solch einen Unhold in des Zaren Seele?
ILJÁ.
Es ist nicht anders, Herr. Er ist verfinstert,
Ich kenn ihn doch wie keiner. Vor drei Tagen
Noch war er warm und freundlich wie das Licht
Und friedlich war die Zeit. Nun kam der Wicht[544]
Und alles ist verwandelt. Weißt du nicht,
Wie er die Kinder liebte? freilich weißt du's,
Wer sah das nicht in jedem Augenblick!
Und nun sitzt der Zaréwitsch unter Wache
Und die Zaréwna macht ihm solche Furcht,
Als wäre sie die schwarze Hölle selbst
Und nicht der Engel und das stille Kind,
Das jeder liebt im Haus. Du siehst es ein,
Dies konnte nicht im Zaren selbst entstehn,
Der Unhold nistete sich ein und hat
Rund wie ein Igel Stacheln überall
Und sendet Pein nach allen Seiten aus.
SCHUISKI.
Ich will nicht streiten, Alter. Was verschlägt's
Ob wir die Kraft so oder so benennen,
Die uns zerstören will. So setze Milch
In kleinen Bechern vor die Fenster rings,
Den Alb zu tränken und vor allem hab
Das Kreuz bereit. Gut Nacht. Ich gehe jetzt.
Schuiski durch die Mitte ab. Iljá schlägt ein Kreuz und murmelt ein Gebet. Die Tür rechts wird vorsichtig geöffnet. Borís schiebt seinen Kopf durch die Spalte und blickt sich um.
BORÍS.
Ist jemand hier?
ILJÁ erschrickt heftig.
Gott schütz uns vor dem Bösen ...
Du bist es, Herr? kein Mensch ... nur ich allein.
BORÍS.
Und weißt du sehr gewiß, daß keiner kommt?
ILJÁ.
Ich will's den Wachen sagen –
BORÍS eintretend.
Laß das nur.
Die nützen mir vor jener Türe nicht
Und dort steht keine Wache.
ILJÁ.
Herr, was tat
Dir das geliebte Kind?
BORÍS.
Was sprichst du da?
Was mischest du dich ein?
ILJÁ.
Du bist ja selbst
Fast wie mein Sohn. Wer sollt es anders tun?
BORÍS.
Das Kind – das Kind – nichts tat es mir – das Kind!
Ich habe andre Sorgen.
ILJÁ.
Herr, ich weiß,
Wenn ich jetzt riefe: die Zaréwna kommt!
So rafftest du den Mantel und entsprängest
Wie eine Ricke vor der Wölfin flieht.[545]
BORÍS.
Du weißt nicht alles, Alter, was ich weiß,
Und kannst mich nicht verstehn.
ILJÁ.
Sprich ein Gebet
Und hänge dir ein Kreuzlein über's Herz,
Ja, tu das, Herr.
BORÍS.
Ihr schlichten Seelen ihr,
Die ihr den Brand mit Kreuzlein zwingen wollt,
Wart nur, bis dich das Fegefeuer fing,
Und dann sieh zu, wie deine Kreuze schmelzen.
ILJÁ.
Du wirst schon sehn, wie dir das Herz alsbald
Ganz weiß und heilig wird und dem Zaréwitsch
Sich wieder auftut, der gefangen sitzt.
BORÍS.
Was kümmern dich die Kinder! dem Zaréwitsch
Droht nicht Gefahr – Haft ist nur Sicherheit.
ILJÁ.
Er sitzt in seiner Kammer ohne Schlaf
Und weigert Speis und Trank.
BORÍS.
Wer sagte dir's?
ILJÁ.
Die Wachen sagen's.
BORÍS.
Wer Empörung sinnt,
Den mag wohl Ruhe fliehn. Was ist die Stunde?
ILJÁ.
Schon Mitternacht vorüber.
BORÍS.
Mitternacht –
Lang-lange Nacht – endlose, tiefe Nacht
Und Stunden, Stunden, Stunden. Und das Dunkel
So grauenvoll belebt. Wie wollt ich selig
In letzter Leere sein! hier aber lebt's,
Und ist nichts da – dann jetzt ist etwas da –
Wer weiß auch, wo es hergeschlichen kommt
Und lautlos jählings aus der Schwärze taucht
Und eine Fratze zeigt? wer wußte je,
Daß Finsternis mit toten Augen blickt
Und eine Zunge streckt aus bösem Maul?
Wer hat schon Hände trostlos winken sehn
So schattenhaft und blaß und ohne Arme?
Wer hat inmitten aus dem Kerzenlicht
Stimmen vernommen – Klang aus Flammenkern?
Wer wußte, daß es solche Dinge gibt?
Gibt? wirklich gibt?
ILJÁ.
Du solltest beten, Herr.
BORÍS.
Bist du noch da und horchst und spähst nach mir –
Geh – geh zu Bett.
ILJÁ.
Ich wache vor der Tür,[546]
Daß nicht die Feindin, die Zaréwna, komme,
So daß du fliehen kannst zu rechter Zeit.
BORÍS.
Die Feindin – alter Narr! sinnlos Geschwätz!
Das will ein treuer Diener sein und lauert
Und rät herum und rät das Falsche stets,
Als bliese ihm ein kleiner Teufel flink
Nur dumme Fabeln in das alte Ohr!
Du meinst es gut – laß nur und geh zu Bett.
Nur wenn du dort mein Schlafgemach betrittst,
So darfst du nicht erschrecken ...
ILJÁ.
Heiliger Gott!
Was ist dort im Gemach?
BORÍS.
Was könnt es sein?
Da war etwas, ich sah es nicht genau,
Mensch oder Ding, was weiß ich! irgendwas!
Auf einmal war es furchtbar leise da
Und trug ein weißes Hemd und in der Hand
War eine Kerze. Denke nicht etwa,
Daß es ein Kind war – nein – wie käme denn
Ein Kind ins Schlaf gemach? doch ziemlich klein –
Recht klein erschien mir freilich die Gestalt –
Nur denke nicht – ein Kind –
Iljá ergreift einen Armleuchter, schlägt ein Kreuz und öffnet entschlossen die Tür zum Schlafgemach. Er leuchtet hinein.
ILJÁ.
Kein Kind ist da
Und weder Hemd noch Kerze – siehst du, Herr?
BORÍS.
Ich sehe nichts und das Gemach ist leer,
Du hast wohl recht.
ILJÁ.
Das war im Fieber, Herr.
BORÍS.
Nur – hast du nicht gehört, daß solche Dinge
Durch Wände gehen wie durch leere Luft?
Es irrt vielleicht sonst wo im Haus umher –
Dort in dem Gang –
ILJÁ.
Die Wachen stehen dort.
BORÍS.
Dort in der Kammer –
ILJÁ.
Wo die Zarin schläft?
Auch ihre Frauen wachen sicherlich.
BORÍS.
So geh du nur zu Bett. Schweig still, ich weiß,
Was du mir sagen willst: es ist ein Fieber –
Und kommen soll der Arzt – gut sind Gebete
Und Arzeneien – still, geh du zu Bett,
Ich will allein sein – nicht ein Wort! zu Bett!
[547] Iljá schlägt ein Kreuz über den Zaren und in der Richtung nach allen Türen hin, dann verläßt er nach kurzem Zögern das Gemach.
BORÍS.
Der junge Herzog gibt mir Ksénjas Ring
Zurück und nimmt ein Gift und möchte sterben,
Ja, sterben eher als mit meinem Kind
Zur Kirche schreiten! solche Pest bin ich!
Was aber kann mir helfen, daß ich weiß:
Wer jung ist, hat sehr oft ein hartes Herz,
Errichtet sich nach Formeln seine Welt
Und scheidet rechts und links – die Tochter Kains
Wird in den Schlund geworfen, wär sie auch
Dem Engel gleich des Herrn. Was ich erfuhr,
Ist einem andren leerer Schellenklang
Und unerschüttert hält das Urteil sich
An seinen Spruch: du bist von Kains Geschlecht,
Du bist die Pest, Fluch dir und deinem Hause.
So klirrt die Kette, klirrt ohn Unterlaß
Und ganz umsonst läßt einer um den andren
Ans Kreuz sich schlagen – wenn uns Gott erlöst,
So müht die Menge immer sich und zerrt
In Lust und Haß zum Abgrund uns zurück,
Der unsichtbare Jäger läßt nie ab
Von seiner Jagd – wir meinen wohl, er schläft,
Dann aber richtet er in Heimlichkeit
Die unbarmherzigen Fallen oder wetzt
Den Fänger irgendwo an einem Stein.
Ist dies nicht eine Glocke, die ich höre?
Mein Blut vielleicht? ein Schritt? ein Traum gewiß!
O nie zu wissen, nie, was uns umschleicht,
Den Feind nie zu erkennen, seinen Leib
Niemals zu fassen! und erschiene jetzt
Sein stummes Schreckbild aus dem Raum der Nacht,
So lahmte mir das Grauen Hand und Haupt
Und wieder ungehindert triebe er
In blutigem Spiel die Seele vor sich her
Als Satans Katze ... fort! ich will dies nicht,
Was drängt sich da heran? Barmherzigkeit!
Es geht durch Wände, kriecht durch's Schlüsselloch,
Schwingt sich im Rauchfang nieder – manchmal kommt's
In eines Kindes Bild – was sind denn Kinder,[548]
Daß sie uns schrecken sollten? wär es auch,
Daß etwa Blut auf einem kleinen Hemd
Seltsame Rede führte. Tat ich's denn?
Ein Mann im Mönchsgewand mit giftigem Mund,
Der war's, ich nicht – ich sprach nur den Befehl –
Und nicht einmal Befehl – er aber geht
Den Weg des Heils – mich, wie den Baum im Sturm,
Mich reißt es hin und her verzweiflungsvoll,
Denn hinter jeder Türe – da und dort
Schon mag es warten und mit einem Mal
Die Klinke drücken und – ich will's nicht glauben,
Daß jene Tür in Wahrheit sich bewegt –
Nein – geh – nein – geh – ich will dich nicht bei mir –
Ich tobe hier im Fieber und ich will
Allein sein – ganz allein und –
Durch die Tür im Hintergrund ist Ksénja im Nachtgewand eingetreten, eine Kerze in der Hand. Borís flüchtet vor ihr durch das Gemach.
KSÉNJA.
Ich bin's, Vater –
BORÍS.
Ich will dich nicht – was kommst du mit dem Licht,
Daß ich die Flecken sehe auf dem Hemd –
Fort – ich befehl's – hier sollen Kinder nicht
Umgehen in der Nacht und an die Seelen
Mit ihres Blutes Mahnung klopfen –
KSÉNJA.
Vater,
Ich halt es ja nicht länger aus – ich muß
Dich sprechen und die grauenvolle Last
Mir von dem Herzen wälzen – hör doch, Vater –
BORÍS.
Ich bin dein Vater nicht –
KSÉNJA.
Du nicht mein Vater –
BORÍS.
Das wäre neu, daß man durch Blut und Mord
Sich Kinder zeugte – darum hab ich nicht
Das Messer damals in die Welt gesandt,
Daß du jetzt kommen und mich Vater nennen –
KSÉNJA.
Du kennst mich nicht! du redest irr! ich bin –
Sieh mich doch an – ich bin doch Ksénja –
BORÍS.
Fort!
Du lügst! ich kenne dich! du trägst die Kerze,
Du trägst das Hemd – ich soll das Blut nicht kennen,
Das ich vergoß – geh fort – ich bitte dich,
Ich will auf Knieen bitten, daß du gehst[549]
Und mich verläßt und niemals wiederkehrst
Und Ruhe hast im Grab –
KSÉNJA.
Ich, Vater? ich?
BORÍS.
Willst du, daß ich mich töte? brachtest du
Mir aus dem Grab das alte Messer mit?
KSÉNJA.
So laß mich dir doch helfen – du bist krank –
Ich will dir –
BORÍS.
Ich zerschlage mir die Stirn
Jetzt gleich am Pfosten hier der Tür – so – so –
Wenn du nicht von mir gehst –
KSÉNJA.
Gott – heiliger Gott –
Ich gehe ja – was hab ich dir getan –
Nein, nein, ich gehe – Mutter, hilf ihm doch –
Sie eilt ab, ihre Stimme verklingt im Nebenraum. Ein unbestimmter Lärm erhebt sich draußen und wächst allmählich an. Borís starrt entsetzt auf den Fleck,
auf welchem die Erscheinung gestanden.
BORÍS.
Nun ist es fort – da stand es mit dem Licht
Und glitt auf einmal in die Wand hinein ...
Was aber ließ es da zurück? Geräusch
Von Stimmen aus den Wänden, aus der Luft
Gleich Wellen oder Wind ... was lärmt im Hause?
Er richtet sich auf, geht zögernd auf die Mitteltür zu und öffnet sie mit einem Ruck.
BORÍS.
Heda, die Wachen!
EINE STIMME.
Hier!
BORÍS.
Hört ihr den Lärm?
DIE STIMME.
Ja, Herr.
BORÍS.
So ist es doch kein Traum. Seht nach,
Was dieser Lärm bedeutet.
DIE STIMME.
Deinen Diener
Seh ich im Gang. Er läuft in Eile her.
BORÍS.
Laßt ihn herein.
Iljá tritt eilig auf.
ILJÁ.
Du riefst mich, Herr? vergib,
Ich hörte keine Glocke.
BORÍS.
Niemand rief,
Wer hat das Haus erweckt? die Stadt ist wach,
Hat dich das Meer der wilden Stimmen nicht
Aus deinem Bett getrieben? rede doch.[550]
ILJÁ.
Das Volk schlägt an die Tore, sagen sie.
BORÍS.
Das Volk! wer ist das Volk? ein Pöbelhaufen
Ist doch kein Volk? was hier für neue Not?
ILJÁ.
Ich freilich weiß es nicht.
BORÍS.
So geh und rufe
Mir einen, der es weiß.
ILJÁ.
Sie lärmen dort
Und schreien wie besessen.
Simeon Godunóf kommt durch die Mitte mit Dienern.
SIMEON.
In den Kreml
Brach eine Rotte ein und lärmt am Tor.
BORÍS.
Wie hoch an Zahl?
SIMEON.
Voll ist der ganze Hof
Und sind die Straßen bis zum Roten Tor,
Der Rote Platz ist eine See von Köpfen
Und alles schreit nach dir.
BORÍS.
Weiß man die Ursach?
SIMEON.
Die letzten Tage bis zum Überdruß
Hast du das Lied gehört.
BORÍS.
Versteh ich recht?
Sie fordern Rechenschaft?
SIMEON.
Des falschen Prinzen
Sendboten stiften Aufruhr überall,
Es kann nicht anders sein. Schon hat der Krieg
Wirrsal geweckt, nun schleichen die Gerüchte
Und teilen unterm Volke Tollwurz aus.
Fürst Schuiski erscheint, gefolgt von Edelleuten und Dienern.
BORÍS.
So geh ich selbst hinaus.
SIMEON.
Gib mir Befehl,
Ich rücke mit den Hakenbüchsen vor
Und meine Schützen säubern dir den Platz.
BORÍS.
Sahst du nicht Blut genug, mein Vetter?
SIMEON.
Herr,
Wenn Hunde beißen, hilft die Peitsche nur.
BORÍS.
Wer sagt dir, daß hier Hunde sind? doch sei's,
Wer fragt danach! soll man zu jeder Zeit
Nach andren spähen und von außen her
Den Weg sich zeigen lassen? hier bin ich
Und niemand sonst – sie fordern Rechenschaft
Mit Unrecht oder Recht, was kümmert's mich?
Sie rufen nach den Hakenbüchsen nicht,
Sie rufen mich – nun wohl, so komm ich denn.[551]
SCHUISKI.
Recht hat dein Vetter und dem Pöbel bleibe
Des Herrschers Antlitz fern. Hast du nicht Zungen,
Die für dich sprechen, Hände die dein Wort
Vollbringen, sei' in Gnade, sei's im Zorn?
Was brauchst du jedem letzten Lungerer
Rede zu stehn, der doch mit Knütteln nur
Und widrigem Geschrei zu fragen weiß?
SIMEON.
Und wenn dich neues Blut erschreckt – so laß
Herolde zu den Leuten gehn. Sie mögen
Dir Sprecher senden – höre doch Vernunft,
Ich rate gut, ich rate recht –
BORÍS.
Mag sein –
Nein, sehr gewiß. Nur eins könnt ihr nicht wissen,
Das Wort, das hier in meiner Seele lebt
Und zu mir spricht: du mußt. Mir war mein Amt
Sehr schwer und mühevoll und müde ward ich
Mehr als ich's sagen kann. Doch ein Gebot
Hab ich erfaßt: tu, was die Stunde fordert,
Entzieh dich nicht, ein jeder Augenblick
Ist Schicksal, nimm es hin und weich nicht aus.
So will ich hinter Herolden und Schützen
Mich nicht verstecken und mit eignem Mund
Zu jenen reden und das Schicksal greifen
Mit dieser eignen Hand. Gott selbst wirft uns
Die Augenblicke zu. Ich fühl es wohl,
Auch dieser ist ein Gottesaugenblick
Und trägt in sich das Leichte oder Schwere
Und mir bleibt keine Wahl: erkennen heißt
Erwählen – und ich nehme sein Geschenk
Und gehe hin und tue, was ich muß.
Allein und ungeleitet will ich gehn
Und wiederkehren. Keiner folge mir.
Er geht langsam durch die Mitte ab.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Kinder Godunófs
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