Vierter Akt

[552] Morgendämmerung. Hof im Kreml. Links der Palast. Vor der Eingangstür ein viereckiger überdachter Altan, von dem aus etwa sechs bis acht Stufen in den Hof hinunter führen. Eine tobende Volksmenge drängt sich im Raum. Geschrei, Lärm, Verwirrung. Einige tragen Waffen oder Knüttel. Der Irre steht in der Nähe der Treppe. Unter der Menge sieht man einen rotbärtigen, einen schwarzbärtigen und einen weißbärtigen Mann.


DIE MENGE. Wir wollen hier nicht länger warten! öffnet! Schickt uns den Zaren! schickt den Schacher uns, Daß wir ihn kreuzigen zum zweiten Mal!

DER IRRE.

Es waren zwei – sie hingen rechts und links –

DIE MENGE.

Ruft uns den Barrabas! ruft uns den Judas!

DER ROTBART.

Was treibst du, Irrer?

DER IRRE.

Diesen dürren Zweig

Fand ich am Weg und schling ihn so und so,

Nun gleicht er völlig einem Dornenkranz.

DER ROTBART.

Vernahmt ihr, was der heilige Irre sprach?

DIE MENGE.

Ich nicht! was gibt es da? drängt doch nicht so!

Was sprach der Irre? ich hab nichts gehört!

DER ROTBART.

Er sagt, wir sollen auf des Mörders Haupt

Die Dornenkrone setzen.

DER IRRE.

Und ich drehe

Die Geißel mir aus meiner Gürtelschnur

Und treibe aus dem Tempel die Verfluchten,

Die unsrem Herrn mit Kreuz und Marter nahn.

DIE MENGE.

Ich hör ihn nicht im Lärm –

DER ROTBART.

Hört nicht auf ihn,

Er redet irr – das andre haltet fest,

Das von der Dornenkrone –

DIE MENGE.

Öffnet! öffnet!

Er soll den Kerker auf tun! den Zaréwitsch

Hält er im Turm gefangen! legt die Pforte

In Trümmer! reißt die Steine aus dem Pflaster!

Bringt Äxte! Äxte!

DER SCHWARZBART mit einer Axt in der Hand.

Was bekümmert euch

Der Bursch im Kerker? zieht der wahre Erbe

Nicht mit den Polen schon heran? Dimitri,

Das Kind der alten Herrscher? dorthin wendet

Die Herzen und den Blick.[553]

DER ROTBART.

's ist einerlei,

Wir müssen Fiódor retten! wen der Zar

Im Kerker hält, ist unser Freund gewiß,

Und wärs auch seine Brut.

DER SCHWARZBART.

Des Mörders Brut

Kann unser Freund nicht sein! denkt an Dimitri!

Die Krone wiedergeben soll er ihm,

Sagt das dem Mörder!

DER WEISSBART.

Leute, hört ein Wort,

Ich kann es da mit meinem alten Kopf

Nicht recht erfassen ... wenn Dimitri lebt –

Das sagt er doch – so ward er nicht ermordet,

Und wenn der Erbe nicht ermordet ward,

Dann gibt es keinen Mörder ...

EINER.

's ist auch wahr.

DER SCHWARZBART.

Was lügst und faselst du?

DER WEISSBART.

Wo steckt er denn,

Der Mörder, den du meinst? Dimitri lebt –

Begreift ihr's nicht? wo ist der Mörder? wo?

DER ROTBART.

Er gab den Mordbefehl – nicht seine Schuld,

Daß er mißlang – was will der alte Schwätzer –

Laßt ihn, ihr Männer, gebt nicht acht auf ihn

Und macht ein Ende –

DIE MENGE.

Du dort mit der Axt

Sollst uns die Bresche schlagen! nur heran!

Bist du mit deiner Zunge hart und scharf

Und schlapp mit deiner Waffe?

DER SCHWARZBART.

Platz da vorn!


Er geht die Stufen empor, stellt sich vor die Tür und holt weit aus mit der Axt. Ehe er zuschlagen kann, tritt Borís aus der Tür. Der Schwarzbart fährt entsetzt zurück und springt die Stufen herab.


DER SCHWARZBART.

Fort! rettet euch! da ist er selbst! Zurück!

Wir sind umstellt! gleich kommen seine Wachen!

GESCHREI IN DER MENGE.

Zurück! zurück! ich will nicht vorne stehn!

Sie werden schießen! fort!

BORÍS.

Ich bin allein.

DER SCHWARZBART.

Er lügt! sie gehen um das Haus herum!

STIMMEN.

Das ist nicht wahr! ich sehe nichts! zurück!

Bleibt Leute, bleibt! 's ist niemand hinter ihm.[554]

BORÍS.

Geht, Leute, oder bleibt. Ich rief euch nicht,

Ihr habt gerufen: sagt mir, was ihr wünscht.


Die Bewegung stockt. Einige schleichen sich fort, andere drängen sich vor. Der Irre streckt plötzlich den von ihm geflochtenen Zweig dem Zaren hin.


DER IRRE.

Da nimm, Borís, ich hab's für dich gemacht.

BORÍS nimmt zögernd den Zweig.

Was soll mir dies?

STIMMEN.

Nahm er den Dornenkranz?

Ich kann's nicht sehn! er tat es – ja – er tat's.

BORÍS.

Wer bist du?

DER IRRE.

O! du kennst mich nicht, Borís?

Nikolka bin ich – Gottes Mensch. Und du

Bist doch Herodes, der die Kinder tötet

In Bethlehem?

DER ROTBART lacht.

In Úglitsch dieses Mal.

BORÍS.

Hab Dank für dein Gewinde, Gottes Mensch,

Doch für die Schmähung möge Gott dir danken,

Ich kann es nicht. Du aber, das mich rief,

Was willst du, Volk, von mir?


Die Menge schweigt.


wer spricht für euch?


Nach einem kurzen Schweigen entschließt sich.


DER WEISSBART.

Du hältst den Sohn gefangen. Gib ihn frei!

BORÍS.

Der Sohn ist ungefährdet. Meine Haft

Schützt ihn nur vor ihm selbst.

DER WEISSBART.

Er liegt im Kerker?

BORÍS.

Wer euch das sagte – log.


Eine Stille. Dann rafft sich plötzlich der Schwarzbart auf.


DER SCHWARZBART.

Steh nicht so da,

Als wärst du unser Richter, der die Strafe

In Händen hält! merk dir's, wir klagen an.

Wir stehen hier und wollen Rechenschaft.

BORÍS.

Bringt eure Klage.

STIMMEN.

Fragst du noch? der Krieg,

Der Krieg ist über uns! im Felde draußen

Stehn unsre Söhne! Friede sei im Land!

BORÍS.

Nicht ich begann den Krieg. Ein Abenteurer,

Ein frecher Räuber tat den Überfall.

DER SCHWARZBART.

Den wahren Erben schiltst du so und meinst

Mit Lügen uns zu täuschen. Wohl begannst[555]

Du, du den Krieg. Der Mord begann den Krieg

Und all die Jahre durch, zwei Bächen gleich,

Fraß Krieg und Mord sich heimlich durch den Fels,

Jetzt brachen sie hervor und brüllen laut

Mit einem Donner wie des Wasserfalles

Anklage in die Welt! wir führen Klage

Um Mord, um Krieg, um Ränke und Betrug

Und um des Volkes Schande, das den Mörder

In jahrelangem Dienst als Herrn ertrug,

Wir klagen um die Seelen, die dein Gift

Zerrüttet jahrelang.

DER IRRE ängstlich.

So schweig doch, Mensch

Siehst du nicht, wie er blaß und traurig ward?

DER ROTBART.

Doch ist es wahr. Seht den gekrönten Mörder!

Hat er es nicht gewußt, wie das Gerücht

Als leiser Schatten durch die Häuser glitt

Und Böses schuf? zum Bösen findet sich

Das Böse gern und deine Niedrigkeit

Grüßt alles Niedre mit dem Schwesterkuß.

Sah dich das Volk in deiner goldnen Pracht

Zur Kirche schreiten – dachte jeder Schuft

Nicht alsogleich das eine: wie gesegnet

Mit Macht und Schätzen ist doch dieser Mann

Und brauchte nur ein Kind zu töten, nur

Ein kleines Kind, ganz klein und unscheinbar,

Und dann die Tat mit Lügen überspinnen

In Friedlichkeit und Stille jahrelang –

So leicht wird Macht erworben und so willig

Strömt Überfluß dem zu, der ihn mit kaltem

Und kühnem Sinn zu locken weiß! warum

Sollt idh's nicht auch versuchen? lügen? stehlen?

Ein wenig morden? von den zehn Geboten

Drei übertreten – das belohnt sich reich,

Ich fang einmal mit dreien an – dann vier –

Dann sieben – und wenn keins mehr übrig blieb,

Was schadet es? kein hoher Wert zerbrach,

Die Tafeln nur, die Moses aus dem Feuer

Und Rauch des Berges brachte, sind dahin

Und in die Grube fegen wir die Splitter.

DER IRRE.

Nun sieht er wie ein Totes aus. Er kniet.

Er hört dich schon nicht mehr. Borís! Borís![556]

Hör nicht auf ihn, das ist ein böser Mensch,

Nikolka sagt es dir und der lügt nie.

STIMMEN.

Was tut er da? er kniet! so will er beichten?

Nein, nein, er hat gebetet. Er steht auf.

Was hält er sich am Pfeiler mit dem Arm?

Er sieht an uns vorbei! wen blickt er an?

BORÍS.

Herr, ich erkenne dein gerechtes Licht,

Hier stehe ich und will die Wucht des Strahls

Empfangen in der Brust. Schon faß ich's ganz,

Daß du mich nicht zerstörst, du baust mich auf,

In voller Bläue wölbt sich über mir

Der Himmel des Gerichtes und kein Blitz

Schlägt mich so stark, wie deine Sonne trifft.

DER WEISSBART.

So ist es wahr? er beichtet? er bekennt

Den Kindesmord?

DIE MENGE.

Ein Mörder ist der Zar.

Er schlug das Königskind. Das Antlitz Gottes

Hat sich von ihm gewandt. Den Mörder seht!

Den Mörder! seht den Mörder! das Gericht!

BORÍS.

Noch weiß ich nicht, ob jene Tat geschah,

Doch weil ich sie in meinem Wunsch empfing,

So ist sie denn geschehen und du hast

Den Spruch gesprochen, Herr, und ihn vollbracht.

Zerbrochen hast du meiner Hände Werk,

Den Sohn als Richter über mich gesetzt,

Entfremdet meiner Diener Herz und sie

Dem Fremden zugeführt, das Grab gesprengt,

Zum Leben das Gestorbene erweckt,

Und wo die zärtlich reinste Flamme brannte,

Da legtest du die Furcht um Ksénjas Liebe

Mir in das Herz und zitternd weht die Glut

Mit traurigem Geflacker. Noch zuletzt

Kommt einer, der sich deinen Menschen heißt,

Nennt mich Herodes und legt dennoch mir

Den Dornenkranz des Heilands in die Hand,

Indes der Haß aus tausend Augen mich

Zerstören will und tausend Hände schon

Erbeben in der Lust der Steinigung.

Die Augen und die Hände meines Volkes,

Dem jahrelanger Dienst Verderben heißt.

DIE MENGE.

Er meint mit Gott zu reden! Lästerung!

Gott redet nicht mit Mördern! Gott verwirft ihn![557]

Hört ihr den Unhold lästern? steinigt ihn!


Viele reißen Steine aus dem Pflaster. Geschrei und Verwirrung. Viele heben die Hand zum Wurf.


BORÍS.

Hie bin ich, Herr! hier bin ich!


Er greift sich nach dem Herzen und sinkt am Pfeiler nieder, bleibt liegen. Eine Stille.


EINER.

Starb der Zar?

ZWEITER.

Wer warf den Stein?

STIMMEN.

Ich nicht! ich nicht! ich nicht!

ZWEITER.

Gott selbst warf ihn zu Boden.

ERSTER.

Fort von hier!

Wenn sie den Toten sehen, heißt es gleich,

Daß wir's getan.

ZWEITER.

Doch keiner warf den Stein.


Von Schreck ergriffen beginnt die Menge hinauszueilen. Es entsteht ein Gedränge. Verwirrte Rufe, Flüche, Geschrei.


STIMMEN.

Hinweg! hinweg! was drängt ihr so? nur zu,

Wir werden selbst gedrängt! gleich kommen sie

Und finden den Herodes! starb er denn?

Gott hat gerichtet! fort von diesem Platz!


Die Menge hat den Hof verlassen, der Lärm verklingt. Der Irre ist zurückgeblieben, geht leise auf den Zaren zu und beugt sich über ihn.


DER IRRE.

Steh auf, Borís, sie könnten wiederkommen,

Ich führe dich ins Haus. Was staunst du so?

Kein Stein hat dich getroffen, keine Hand

Hat dich berührt.

BORÍS richtet sich auf.

Wo sind die Augen hin?

Hier waren tausend Augen ...

DER IRRE lacht und bläst über seine Hand.

Kam ein Wind –

Hat so gemacht – und hui! sind sie dahin!

Jetzt kränkt dich keiner mehr.

BORÍS.

Du Gottes Mensch,

Schwörst du mir das? du bist ja der von Gott

Besessene und mußt es wissen ...

DER IRRE.

Komm,

Nikolka weiß es freilich. Laß mich nur

Auftun die Tür – nun stütze dich – nur fort –

Im Hause drinnen endet alle Not –


Borís, vom Irren unterstützt, betritt mühsamen Schrittes den Palast.

Quelle:
Henry von Heiseler: Sämtliche Werke. Heidelberg 1965, S. 552-558.
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