Fünfter Akt

[558] Ein gewölbter Wandelgang im Kreml. Links über einigen Stufen eine Bogenöffnung in der Wand, dahinter der Gang, der fortlaufend gedacht ist. Rechts eine Tür. An der rückwärtigen Wand unter einem halbrunden Fenster ein Sessel, daneben ein Schemel. Borís und der Irre von rechts. Borís löst sich aus dem Arm des Irren, blickt sich um, scheint wie erleichtert aufzuatmen.


BORÍS.

Dies ist ein guter Platz. Hier will ich ruhn.

DER IRRE.

Ein jeder Platz ist gut. Nikolka weiß es

Ganz, ganz genau. Nur böse Menschen machen

Aus guten Plätzen schlechte.

BORÍS.

Sprichst du wahr,

So helfe mir der Herr, daß meine Pest

Auch hier nicht in die alten Steine dringe

Mit ihrem Dunste, der die Sonne scheucht.

Hilf mir in jenen Sessel.

DER IRRE.

Komm, Borís.


Er rückt ihm den Sessel zurecht und hilft ihm sich niederzulassen.


BORÍS.

Soll ich dir sagen, was ich glauben muß?

DER IRRE.

Neugierig ist Nikolka. Sag es rasch.

BORÍS.

Das Licht im Fenster brachte mich darauf,

Es war, als klänge eine Rede mir

Daraus entgegen, und die Stimme sprach:

Hier sollst du ruhn, um nie mehr aufzustehn.

Ich sterb an diesem Platz, du Gottes Mensch.

DER IRRE.

Nikolka glaubt es gern. Er wußt es längst.

BORÍS.

Liest du die Schrift so klar?

DER IRRE.

Ich lese nicht,

Ich bin nicht schriftgelehrt. Doch ist ein Strahl

So übermaßen hell, fühlt auch der Blinde

Ihn auf den Lidern brennen und erkennt

Das Zeichen Gottes.

BORÍS.

Gern geh ich den Weg.

DER IRRE.

Nikolka weiß es. Oft ist er gestorben

Und immer war es im Erwachen gut.

Nicht wie nach einem Traum – viel schöner doch.

Nie hat Nikolka gern geträumt: es kommt

Ein schöner Engel, der auf Armen ihm

Die Braut entgegenträgt mit solchen Zöpfen,

Ein andermal bringt er ein Schinkenstück,[559]

Dann wieder flötet er auf einem Rohr

Die herrlichste Musik – doch das Erwachen

Ist immer traurig und Nikola weint,

Weil alles fort ist, Braut mit ihren Zöpfen,

Der gute Bissen und das süße Lied.

Beim Sterben ist es anders. Jedesmal

Denkt man bei sich: o stürbe ich doch gleich

Von neuem und noch viele tausendmal,

Denn immer schönre Lichter spielen rings

Auf allen Wiesen und die Helligkeit

Hat keine Grenzen.

BORÍS unruhig.

Kurz ist meine Zeit,

Mein Haus muß ich bestellen, eh ich dort

In deinem hellen Land erwachen darf.

Warum ist der Palast so stumm und leer?

Ist keiner hier im Haus, der nach mir sucht?

Nicht so viel Atem hab ich in der Brust,

Daß ich mit meiner Stimme wecken könnte,

Was allzufest entschlief. Hilf, Gottes Mensch,

Ruf in den Gang hinein, ruf an den Türen,

Vielleicht daß einer wach ist und dich hört.

DER IRRE.

He ho! he ho! he hollaho! he ho!


Pause.


He ho! he ho! he hollaho! he ho!


Pause.


Sie hören nicht, stumm ist das Haus. He ho!

BORÍS.

Ich habe keine Zeit. Lauf, Irrer, lauf,

Denk, daß du Flügel an den Sohlen hast,

Und lauf – dort in den Gang – dann kommt die Treppe –

Hinauf, hinauf und trag an alle Türen

Den Schrei: der Zar ist krank und ruft nach euch!

Ruf nach der Zarin! rufe Fiódor! Ksénja!

Die Diener! die Bojaren! eile dich!

Lauf und erbarme dich!


Der Irre nickt eifrig, dann springt er die Stufen empor und verschwindet im Gang.


DIE STIMME DES IRREN.

He ho! he ho!

Der Zar ist krank und ruft nach euch! he ho!


Eine Stille. Borís lauscht angestrengt.


BORÍS.

Jetzt muß ich Ruhe in der Seele fest

Mit allen Sinnen halten, sonst zerreißt

Die Ungeduld das Herz. Ich darf nicht sterben,[560]

Bevor ich nicht die Meinen wiedersah,

Ich darf die Furcht nicht zu mir lassen, sonst

Tut sie ihr Werk zu früh. Still, still, mein Herz,

Laß über dir so große Ruhe sein,

Daß keine Furcht den stillen Kreis durchbricht,

Den du mit letztem Willen schaffst. Nur still!

Es wäre gut vielleicht – wenn ich sogar

Ein wenig schlafen wollte – ich bin müd –

Die Augen schließ ich, höre dann im Schlaf

Geräusch von Schritten – immer näher – näher –

Bis ich die Augen öffne wiederum

Und mit gestilltem Schlag des Herzens weiß,

Daß ich nicht mehr allein ...


Ksénja erscheint in der Tür, erblickt den Zaren, eilt mit einem halberstickten Ausruf auf ihn zu, bleibt auf halbem Wege stehn.


BORÍS mit einem Lächeln.

Nun bist du da.

Kommst du nicht näher?

KSÉNJA.

Vater ... darf ich denn?

BORÍS.

Wenn dir nicht graut vor mir ...

KSÉNJA.

Was sprichst du nur?


Sie kniet neben ihm.


BORÍS.

Kind, wenn du wüßtest, wie ich deinen Anblick

Gefürchtet ...

KSÉNJA.

Spricht nicht so!

BORÍS.

Wie sonderbar,

Die Furcht ist fort. Du sollst die Hände da

Nicht küssen, Kind, du kennst die Hände nicht.

Doch meine Furcht ist fort. Ich wünschte nur,

Dir alles zu erzählen und du sähest

Dann endlich alles klar.

KSÉNJA.

Ich weiß es jetzt –

BORÍS.

Sie wandten schaudernd alle sich von mir

Und wie sich Stück um Stück mir blutend so

Vom Herzen löste – o – da kam die Furcht,

In dir das gleiche Grauen zu erblicken,

Die riß mich fort von dir und zehrte wild

An meiner letzten Kraft. Jetzt bin ich ruhig

Und will dir alles sagen.

KSÉNJA.

Sag mir nichts.

Ich weiß es ja. Fast bin ich dran gestorben,

Eh ich's verstand. Und jetzt ist alles gut.[561]

Denn seit ich alles weiß, begriff ich alles

Und will nichts andres als dir nahe sein.

BORÍS.

Du weißt es?

KSÉNJA.

Ja.

BORÍS.

Aus welch gerechtem Grund

Die treusten Diener mich verließen?

KSÉNJA.

Ja.

BORÍS.

Du weißt es, wer das Heer der Feinde führt?

KSÉNJA.

Ich weiß.

BORÍS.

Du weißt, warum die Krone mir

Fiódor zu Füßen warf?

KSÉNJA.

Weiß alles, alles –

Es ist ja dieses Eine – immer nur

Und überall das Eine.

BORÍS.

Und der Herzog?

Der Bräutigam, der dich verlassen konnte

Um meinetwillen?

KSÉNJA.

Laß dies ruhn. Er starb.

BORÍS.

Und wenn du alles weißt – wie dann – wie dann –?

KSÉNJA.

Ich weiß doch nicht, wie ich's dir sagen kann.

Meinst du, ich könnte selbst mit mir allein

Besprechen, was du tust? ich liebe dich

Gewiß so sehr wie keinen in der Welt,

Ich weiß nur, wie du bist – sonst weiß ich nichts –

Wie gut ist diese Stunde, da ich dir

Dies einmal sagen darf – bei keinem sonst

Hab ich es so gefühlt – auch diese Qual

Der letzten Tage nenn ich gut – ich hätte

Sonst nie den Mut gefunden noch das Wort.

Jetzt aber hab ich ihn – ich fühle doch

Wie deine Liebe nach der meinen sucht

Und wie wir heute ganz beisammen sind –

Und wie du bist, das hab ich stets gewußt,

Solang ich denke – du von mir nicht auch?

Nichts andres gilt daneben – solch ein Wissen

Ist alles, was wir brauchen, du und ich –

Wie schön zu sagen, »du und ich – und Fiódor –

Und auch die Mutter« –

BORÍS.

Fiódor – und die Mutter –

Wo sind sie nur? fand sie der Bote nicht?

Hör noch dies eine, Ksénja – wenn ich starb

Sollst du –[562]

KSÉNJA.

Was sagst du – sterben –

BORÍS.

Ja – ganz recht –

Ich sagte – sterben. Kannst du denn nicht sehn,

Ksénja, mein Kind, daß ich im Sterben bin –

KSÉNJA.

Das ist ja doch nicht möglich – laß mich gleich

Den Arzt zu Hilfe rufen –

BORÍS.

Laß den Arzt –

Er kommt zu spät – und wenn du von mir gehst,

Bin ich allein – wart, Ksénja, ich vergaß,

Daß dich das Sterben schrecklich dünkt – ich meinte,

Du wärst so froh wie ich –

KSÉNJA.

Froh, Vater, froh?

BORÍS.

Was sonst! mir hat ein Heiliger erzählt

Vom seligsten Erwachen. Was ein Mensch

Erleiden muß – die Worte sagen's nicht,

Nicht fassen's unsre Sinne. Stein um Stein

Bricht unsre Welt zusammen über uns

Und schlägt die Seele wund, bis nirgends mehr

Ein Schimmer noch des kleinsten Trostes blinkt.

Dann aber, Kind ... wie nenn ich's dir? wie sag ich's?

Dann tut sich eine stille Quelle auf

Und sanfte Heilung strömt und kennt kein Maß,

Dann kommt ein Mensch und spricht als wüßte er's:

Jetzt kränkt dich keiner mehr – und so getröstet

Wird unsre Seele leicht. Dann klopft das Herz

In wildem Wunsch nach liebster Gegenwart

Und sieh, schon steht das Liebste in der Tür

Und beugt sich über uns und spricht zu uns:

Ich kenne dich, ich weiß nur wie du bist,

Ich liebe dich wie keinen in der Welt.

Und vor dem Glück hält keine Schwere stand ...

Nun ist so viel geschehen, was mich froh

Und glücklich macht – dies ist das wunderbarste,

Daß so verschwendend diese Welle fiel –

Und selbst davon nicht wissend trugst du mir

Das Wort der glücklichsten Verheißung zu –

KSÉNJA.

Ich? ich? wie wär das möglich –

BORÍS blickt sie eine Weile an, dann lächelt er.

Ja, mein Kind,

Das frage Gott, wie solches möglich wird.

Geheimnisvoll umfliegt ein dunkler Geist

Die Stätten überall und streut die Taten

Aus vollen Händen vor die Menschen hin[563]

Und in der Stunde des Gerichtes tritt

Der Mensch vor jenen Engel, der die Scharen

Zur Rechten und zur Linken sondern darf,

Und sagt: sieh, Herr, ich bringe meine Tat –

Der Engel aber spricht: die Tat ist nichts.

Sieh mir ins Aug, so weiß ich, wer du bist,

Die Tat war Hefe, doch zur Stunde gilt

Das Brot allein. – Hierin liegt alles Hoffen.

Noch mehr – Gewißheit.

KSÉNJA.

Horch.

DIE STIMME DES IRREN.

Borís! Borís!

Sie kommen gleich! sie kommen alle gleich!

Schon sind sie auf der Treppe –


Der Irre kommt gelaufen, winkend und lachend.


BORÍS.

Kommt die Zarin?

Auch Fiódor?

DER IRRE.

Und noch mehr. Klug ist Nikolka.

Der Priester kommt, der heilige Patriarch,

Und bringt den Leib des Herrn. Merkst du nicht schon

Den Duft des Weihrauchs? hörst du nicht die Stimmen?

BORÍS.

Gut hast du dies gemacht, du Gottes Mensch,

Nun aber helft mir, daß ich aufrecht stehe,

Da meine Stunde kam, und nicht gebeugt

In meiner Schwäche kaure, wenn die Freude

Mit starken Flügeln an die Pforte schlägt.


Er steht aufrecht, auf Ksénja gestützt und zur Türe hinblickend. Weiter vorn, ihm zur Linken, kniet der Irre.


Quelle:
Henry von Heiseler: Sämtliche Werke. Heidelberg 1965, S. 558-564.
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