Der Zukunftsdichter

[207] Sausende Funken,

Rollende Räder,

Mühende Massen

Wandeln die Welt ...

Wenn ich mich flüchte,

Bin ich ein Feiger,

Wenn ich mich nahe,

Trägt es die Feder,

Oder wird sie vom riesigen Schwungrad zerschellt?


Ich steh inmitten

Kampfheißer Tage,

Ich bin geworfen

In wirbelnde Flut.

Die Seele blutet,

Die weiche Seele,

Wie kann von Vater

Und Mutter sie los?

An Herzensfäden

Bin ich gebunden,

Durch Herzensfäden

Schneidet die Zeit.[208]

So laß sie schneiden!

Ich will's drum leiden,

Den Weg zu finden:

Wie werd' ich größer?

Wie werde mit andern ich selber befreit?


Worin ist Freiheit?

Worin ist Größe?

Im Mut der Menschheit,

Der dich erfüllt.

In Gattung Größe,

Freiheit im Volke,

Die dich geboren,

Das dich erzeugt.

Voraus der Gattung,

Voran dem Volke,

Ihr Vorwärts-Fühlen

Von dir geprägt!

Ihr höchstes Sehnen

Von dir verkündet,

Ihr tiefstes Leiden

Von dir verklärt.

Und nicht geschwiegen

Von deinem Schmerze,

Daß allzu grausam

Die lange Frist,[209]

Die von dem Neuland

In deiner Seele

Zum neuen Lande

Des Lebens mißt!


Spritzende Funken,

Sausende Räder,

Mühende Menschen

Wandeln die Welt.

Menschen sind Herzen,

Massen sind Seelen,

Geistermillionen

Glimmen und glühn.

Sei's an der Esse,

Sei es am Webstuhl,

Sei es am Baugerüst,

Sei es am Pflug –

Sei's auf der Berge Höh,

Sei's in der Grube,

Sei es im Männerrat,

Sei es am Herd –

Wo nur mein Blick hinschweift

Über die Lande weit,

Wächst eine neue Welt

Drunten empor.[210]

Säh sie mein Auge nicht,

Müßt' ich ein Blinder sein

Oder ein Heuchler,

Wollt' ich's nicht sehn:

Kommendes Erdgeschlecht

Hebt schon das Haupt empor,

Mächtiger Nacken trägt

Trotzigen Mut.

Neuer Gesetze Sinn

Zieht durch die Tiefen hin,

Was die Erkenntnis weckt,

Regt sich im Blut.

Menschen der Erde,

Jochesentspannt,

Grüßen die Sonne frei,

Frei Luft und Land.

Meister der Erde,

Herrn der Maschinenkraft,

Grüßen das Leben frei,

Muskelgestrafft.

Töchter der Erde,

Mütter der Zukunftsschar,

Taufen das junge Volk,

Kränzend ihr Haar:

»In all-einigem Leben,

Von selbstsüchtigem Unrecht rein,[211]

Schwungkraft soll eure Herzen durchbeben,

Schönheitschaffende Menschen zu sein!« ...


Wird sie vom riesigen Triebrad zerschellt?

Sei's drum! Meine Feder der winkenden Welt!

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 2: Buch des Kampfes, München 1921, S. 207-212.
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