Totenfrühling

[180] Gesponnen mit feuchten,

Segnenden Fingern

Hat nächtlich der Frühling

Schimmernder Schleier

Lichtgrünes Gespinst.

Nun zittern die Zweige

Von zartem Gewebe,

Und über die schwarzen,

Saftschweren Äste

Fließt hauchfeiner Flor ...

Der Mord und Gemetzel

Läßt triefen auf Erden,

Der Krankheit und Kummer

Den Menschen verhängt –

Der Kronen zersplittert

Und Keime verschleudert,

Der ewige Weber

Webt bräutliche Zier.[180]

Tod ist gekommen,

Teures genommen,

Liebende Herzen

Geschieden in Qual:

Nimmer sich freuen

Am sprießenden Neuen

Können die Toten,

Nimmer sich wärmen am sonnigen Strahl.

Allesdurchdringer,

Sprengst du den Zwinger,

Tauchst die verloschenen Augen in Licht?

Wandelst Begrabene,

Schwebend Erhabene –

Wir nur trauern in bitterm Verzicht ...?

Quelle:
Karl Henckell: Gesammelte Werke. Band 1: Buch des Lebens, München 1921, S. 180-181.
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