Die Rettung

[199] G'nug der drohenden unglückschwangern Stürme,

G'nug des giftigen Nebels, der den Freunden

Freunde birget und alte Treu in neuer

Höllengestalt zeigt!


G'nug des schrecklichen Hagels, der die Saaten

Aller Wünsche zerschlägt, hat uns das Schicksal

Zugesendet, das jüngst auf Thron' und Reiche

Blitze geschleudert;


Hat die Völker erschreckt mit jener Zeiten

Rückkehr, da in Europa's dunkeln Wäldern

Wölfe heuleten und mit mehr als Wolfsgier

Heere sich würgten.


Sahn wir, sehen wir nicht den Rhein, die Mosel,

Maas und Rhone vom Blut unschuld'ger Völker,

Roth vom Blute der Bürger? im Gefilde

Berge von Leichen?


Väter, Jünglinge, Kinder füllten Gräber

Vor den Heeren, damit darüber stiegen[199]

Neue Heere der Brüder in die offne

Höhle des Todes!


Und weswegen? Du wirst es hören, Nachwelt,

Wenn vom Grimme der Väter uns noch Enkel

Bleiben, hören und richten uns, entkommne

Weisere Nachwelt!


Wen der Götter, o wen soll unser Flehen

Niederrufen? Ihr heil'gen Vestalinnen,

Treue Seelen, o wer soll unsern schweren

Frevel entsühnen?


Nicht der blutige Mavors, Kriege zeugen

Kriege; Cypria nicht, ihr Band um Thronen,

Fein und lose gespannt, verewigt unsre

Sorge der Nachzeit;


Nicht die Herrscherin Juno, sie verschwägert

Nationen zu ihres Stolzes Zwietracht.

Komm hernieder, o Du, ein Strahlenjüngling,

Priester Apollo,


Mit dem lindesten Griff in Deine Saiten

Bändigend der Entbrannten Wuth; ein Lichtstrahl

Deines goldenen Köchers trenne jeden

Täuschenden Nebel,


Daß sich Brüder erkennen, daß sich Völker,

Wie von Träumen erwacht, mit Hilf' umarmen!

Singe, singe den Menschen, Du der Völker

Einziger Hilfsgott,


Harmonieen des allgemeinen Wohllauts,

Die des niedrigen Neides, der an sich nagt,

Und der tollen Begier, die nie genießet,

Schändliche Töchter,


Habsucht, Sucht zu gebieten, in den Orcus

Bannen; singe den Königen den schönsten

Königsnamen, des Vaterlandes Vater,

Tief in das Herz ein!


Denn nur Licht erfreuet und schafft Gestalten;

Nur die Muse beglückt, die aller Reiche

Wohllaut ordnet und selbst den heulend-wilden

Cerberus bändigt.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 199-200.
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