An den Schlaf

[42] Erste Stimme.


Gott des Schlafes, Freund der Ruh,

Dessen dunkle Schwingen

Uns in einem süßen Nu

Zu den Auen bringen,

Die ein schöner Licht erhellt,

Wo in einer andern Welt

Harmonieen klingen.


Freund der Menschen, holder Gott!

Unser halbes Leben

Ward, dem Ungemach zum Spott,

Deiner Hand gegeben.

Und sie herrscht im Reich der Ruh;

Purpurblumen lässest Du

Auf uns niederschweben.


Zweite Stimme.


Schönbekränzter Jüngling, sei,

Sei auch mir willkommen,

Der so oft dem Sklaven treu

Seine Last entnommen,

Der die Fessel ihm zerschlug

Und durch neuen süßen Trug

Sein Gemüth entglommen.


Unsrer Hoffnung Flügel hebt

Kühner sich in Träumen.[42]

Du, der sie mit Muth belebt,

Warum willst Du säumen?

Komm mit Deiner süßen Macht,

Uns geleitend durch die Nacht

Zu den lichten Räumen,


Beide Stimmen.


Die, seit Psyche niedersank

Aus geliebten Auen,

Sie sich sehnt äonenlang

Wiederum zu schauen,

Wo in reinem, süßem Ton –


Eine Stimme.


Augen sinkt! Ich höre schon

Harmonieen klingen.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 42-43.
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