Des Einsamen Klage

[58] Der Lenz verblüht!

Die Freude flieht!

Mein Leben hat die Nacht umhüllt,

Und meine Seel' ein Schmerz erfüllt,

Der ewig in mir glüht!


Ich irr' umher

Auf ödem Meer;

Kein Eiland winkt mir lächelnd zu:

»Komm, Pilger, komm! bei mir ist Ruh;

Du trägst am Leben schwer.«


Vom schönen Land

Bin ich verbannt;

In dunkler Ferne dämmert's kaum;

Es schwebt um mich im Morgentraum

Das Glück, das mir verschwand.
[58]

Verlassner ich!

Schlägt nie für mich

Ein Herz, das meinem Gram versteht,

Durchs dunkle Leben mit mir geht?

O Herz, wo sind' ich Dich?


Der Liebe Licht,

Mir strahlt es nicht;

Es giebt kein Herz, das für mich schlägt,

Kein Busen, der für mich sich regt,

Kein Arm, der mich umflicht!


Ich steh' allein!

Mein dunkles Sein

Hell macht der Hoffnung Morgenroth;

Nur Deine Fackel, holder Tod,

Mir strahlt mit mildem Schein.


Wo weilest Du?

Bring mich zur Ruh!

Komm, führ mich in Dein stilles Land

Und schließe mir mit sanfter Hand

Die trüben Augen zu!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 58-59.
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