Die Morgenröthe

[77] Nach dem Spanischen.


Deines Lebens schönste Blumen,

Sammle sie am Morgen früh!

Denn je mehr die Sonne steiget,

Welken sie.

Sieh, die Morgenröthe

Und des Hirten Flöte

Wecket schon die Wälder,

Schmücket schon die Felder.

Willst Du Blumen pflücken,

Mädchen, zu entzücken

In der Freude Tänzen,

Mit der Unschuld Kränzen,

Den damit zu krönen,[77]

Dem ja alle Schönen

Gerne schmeicheln: früh,

Mädchen, pflücke sie!

Sieh der Liebe Rose,

Die auf grünem Kloße

Unter Dornen stehet

Und so bald vergehet!

Sieh halb aufgegangen

Hier ein Knöspchen prangen,

Dort die Nelke winken,

Hier ein Veilchen blinken,

Und der Unschuld Sehnen

In der Lilje Thränen.

Huld und Anmuth, früh,

Mädchen, sammle sie!

Anmuth, Lieb' und Freuden

Welken hin und scheiden,

Wie das Lüftchen streichet,

Wie die Welle schleichet,

Und auf allen Auen

Kannst Du Thränen schauen,

Thränen, die Aurora

In den Schooß der Flora

Weint'. Ach, ihre Stunden

Sind so bald verschwunden.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 77-78.
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