Die Perle

[29] Nimm, o Freundin, dieser Perlen,

Dieser Silbertropfen Band!

Denn die Göttin stiller Anmuth

Hat Dir selbst sie zuerkannt.


Als sie aus des Meeres Wellen

Wie ein Traum der Liebe stieg,

Kam demüthig eine Muschel,

Die sie trug und sittsam schwieg.


Wellen hüpften um die Göttin,

Weste buhlten um sie her;[29]

Aber die gefällig-gute

Dienerin gefiel ihr mehr.


»Womit soll ich Dich belohnen?«

Sprach sie, und vom Silberglanz

Ihrer Glieder schwamm die Muschel

Silbern schon im Wellentanz.


»Nimm den Tropfen meines Haares,

Künftig nur der Unschuld Schmuck!«

Und der Tropfen ward zur Perle

In der Muschel, die sie trug.


Ewig jetzt ein Schmuck der Unschuld,

Stiller Anmuth selbst ein Bild,

Ohne Gaukelei der Farben

In bescheidnen Reiz gehüllt,


Sehnet sie sich aus der Krone

Des Monarchen in das Band,

Das der Unschuld Haar umschlinget,

Einer Göttin Haar entwandt.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 29-30.
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