Warum?

[62] Warum verzäuntest Du, Natur, mit Alpenhöhen

Der Musen und der Künste Mutterland?

Warum umschlossest Du mit wilden Pyrenäen,

Wo irgend sich ein holdes Tempe fand?

Du bargst das Gold in tiefe Grüfte;

Selbst Hygiea's Quell entspringt

Im Thale rauher Klüfte,

Wo kaum ein Vogel singt.


»Das that ich,« spricht Natur, »um vor Barbaren

Zu bergen jedes stille Musenland;

Um vor Entweihenden es zu verwahren,

Macht' ich die Straße wild und unbekannt.

Dem Weichling schloß ich hinter Klüfte

Den Quell Hygea's, und das Gold

Verbarg ich tief in Grüfte,

Daß Ihr's nicht suchen sollt.


Durch Arbeit blühet Euch in jedem Thale

Des goldnen Glückes stiller Selbstgenuß,

Durch Mäßigung in jedem Eurer Mahle

Gesundheit und der Freuden Ueberfluß.

Hyperboreer Geist und Sitten

Umzäunen Wälder rings umher;

Das Volk der wilden Britten

Umschloß ich mit dem Meer.«


Und dennoch wandern plündernd sie, berauben

Der Musen und der Künste Vaterland,[62]

Begraben ihren Raub, die Thörichten! und glauben,

Sie hätten jetzt der Griechen Kunstverstand.

Der Weichling siechet an der Quelle

Hygea's in dem rauhen Thal

Und suchet in der Hölle

Das Gold zu seiner Qual.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 62-63.
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