Das menschliche Leben

[373] Ein philosophisches Seestück.


Mit Dämmernacht bedeckt auf wüstem, weitem Meer,

Ohn' Leitstern und Magnet, zieht dort ein schwimmend Heer;[373]

Sie rudern; Jeden treibt Gefahr und Trieb zum Ruder,

Und Niemand weiß, wohin, und Jeder frägt den Bruder:

»Wohin?« Sie sehen All', wie weit ein Ruder schlägt,

Doch wohin Well' und Schlag und Meer sie Alle trägt –

Da blinden, stammeln sie! und Alle streben weiter.

Der – leiten will er nicht und will auch keinen Leiter,

Und rudert! – Heere dort, in Haufen ziehen die,

Und Schreier ziehn voran, und Alle rufen sie:

»Mir nach! mir nach allein!« und klopfen wild und flammen

Anmaßend wild empor; jetzt stürmen die zusammen

Und zwingen, fluchen, drohn und quälen mit sich fort.

Das arme Mitleid folgt und lindert hie und dort

Und tröstet, wo es kann; die Schiffe kreuzen, zagen.

Wohin hat Strudel dies, wo das der Strom verschlagen?

Auf Klippen? in den Grund? Untiefen? Sand und Strand?

Ach, der sie schiffen hieß! – Trifft eines, keines Land? –

Sei ruhig! Alle trägt das milde Meer schon weiter,

Der keine Leiter hat, und alle blinde Leiter!

Wer schnell und ruhig treibt, wer ächzt und liegt im Sand:

Sieh! dort lacht Ufer schon, sie kommen All' an Land.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 373-374.
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