Die Dämmerung des Lebens

[300] 1771.


O Du, den nur die Lilienwange,

Den nur ein Rosenmund entzückt,

Der sehnend auf zur Morgenröthe

In der Geliebten Auge blickt,[300]

O Freund, die Morgenröthe steigt

Und neiget sich zur Abendröthe,

Und Lilie und Ros' erbleicht.


Was aber bleibt Dir, das mit Wonne

Sich auch auf blasser Wange malt?

Was Dir auch in des Lebens Dämmrung

Mit schönrem Himmelsglanze strahlt?

Du schweigest? Freund, ein gutes Herz!

Mitleidend wird es uns ein Engel,

Erscheint als Engel uns im Schmerz.


Die Rosen hat er Erdenblumen

Gelassen, hat ihn abgelegt,

Den Strahlenschmuck, die Sonnenblicke,

Den Kranz, den er dort oben trägt;

Er kommt im Thränenschmuck und spricht:

»Die Dämmerung wird Morgenröthe!

Freund, weine, doch verzage nicht!«

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 300-301.
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