Eine Paraphrase des Vaterunser

[418] Gott, der im hohen Himmel wohnet

Und uns, uns Asche, Kinder nennt,

Der über Kron' und Scepter thronet

Und doch für Staub vor Liebe brennt,

Ich nenne Dich den Herrn und sinke

Voll Ehrfurcht auf mein Angesicht[418]

Und bete: »Vater, Vater, winke

Den Scepter mir zur Zuversicht!«


Dein Name, den das Heer der Himmel

Mit Zittern dreimal heilig preist,

Dem jauchze aller Welt Getümmel:

»Verehrt sei Vater, Sohn und Geist!«

Dein Reich der Himmel senke nieder,

Und Segen ströme Deine Hand!

So kommt uns güldne Ruhe wieder,

Und unsre Welt wird Gottes Land.


Dein Wink gebeut dort Seraphinen

Vor Dir; er will, und es geschicht:

So laß Dir, Gott, die Völker dienen!

Du willst das Beste stets, wir nicht.

Speis' uns mit Früchten Deiner Güte,

Dein Gnadenthau sei unser Trank!

Dem Menschen preis' ihn Eu'r Gemüthe,

Und Himmel hören Euren Dank.


Vergieb die Schuld uns schwachen Armen!

Wir fehlten, sündigten nicht gern.

Sieh, wir vergeben mit Erbarmen

Die Schulden unsern Schuldigern.

Da lau'rt der Feind; laß ihn nicht siegen!

Gieb Kraft uns, wenn er uns versucht!

Lehr unsre schwachen Arme kriegen,

Und Lorbeer sei des Sieges Frucht!


Einst reiß' aus allen Unglückswellen

Uns Deine Rechte! Hoch hervor,

Wo keine Laurer nach uns stellen,

Dahin steigt unser Wunsch empor.

Sprich Ja! und alle Himmel neigen

Sich Deiner Ehre weit und breit.

Dein, Herr, ist Reich und Kraft! Wir schweigen;

Singt, Engel, Gottes Herrlichkeit!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 418-419.
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