Die Kindheit Jesu. Ein Oratorium

[519] Weihnachten 1772.


Ein Engel.


Entsetzet Euch nicht!

Sieh, ich verkündig' Euch große Freude

Und aller Welt!

Euch ist geboren Christus, der Herr,

Und liegt in Kripp' und Windeln.


(Himmlische Musik von fern ohne Worte, Gesang, der nachher heißen wird: »Ehre, Ehre sei – den Menschen Heil!«)


Die Hirten.


Ihr Brüder, sind wir? wähnen? hören? sehn?

Ein Engel! welch ein Glanz! sein himmlisch Angesicht!

Und welche Stimm':

»Entsetzt Euch nicht!

Euch ist geboren!«


(Die vorige Himmelsmusik kommt näher, noch ohne Worte.)


Ein anderer Hirt.


Naht der Himmel?

Bin ich im Himmel? – Paradies

Um mich umher! – Und sprach er nicht

Uns große Freuden? »Geboren! Entsetzt Euch nicht!«


(Zum Dritten, am Stärksten.)


A.


Ach, in meinen Ohren

Ist Jubel und Weissagung! – Er,

Den Gott verhieß,

So lange

Erflehet, lange

Ersehnt, der Erdbeseliger!


(Arioso.)


Soll alle Heiden

Wie Heerden weiden

Im Friedenszelt.

Selige Welt!


B.


Soll – welche Freuden! –

Uns Hirten weiden

Im Himmelszelt!


[520] A.


Er bricht! der Himmel bricht!

O Licht!


Volles Chor mit Worten:


Ehre, Ehre sei Gott in der Höhe,

Friede danieden

Und den Menschen Heil!


A.


Ach, Brüder, wir erliegen

Dem Jubel! Seht! der blaue Sternenraum

Ist schon geschlossen! und auf Erden

Ist Nacht! vernehmen kaum

Den aufgeregten Freudeschall der Heerden!


B.


Wir thun, was Gott uns spricht:

»Zaget nicht!

Er liegt in Kripp' und Windeln!« Laßt uns gehn,

Den neugebornen König sehn!


Maria (froh-wehmüthig über der Krippe).


Schlummre sanft in Deiner Krippe,

Holder Knabe!

Nun mein Alles, was ich habe!

Ach, wie schwebt auf seiner Lippe

Welche Wonne! welche Huld!


Mir zum Eigenthum gegeben,

Süße Gabe!

Arm und bloß, im tiefen Schlummer,

Aber, Gott! – In Müh und Kummer

Hoffen will ich mit Geduld.


Schlummre sanft in Deiner Krippe,

Holder Knabe!

Nun mein Alles, was ich habe!

Ach, wie schwebt auf seiner Lippe

Welche Wonne! welche Huld!


Ein Engel kam – ich zitterte! – der nannte

Mich selig, nannte

Dich Gottes, ew'gen Vaters, Sohn!

In hohem Reich, auf Vater David's Thron!

Ich betete;

Da segnete

Der Himmelsbote mich, wie milde! sandte

Mich hin zur Trösterin Elisabeth. Und wie

Empfing mich sie![521]

Wie hob sie meinen Muth! Ich sang

Und glaubte – will mein Leben lang

Auch glauben! – Sieh, ich hange

Mit Mutterthränen über Dir,

Du meines Herzens Sohn!

Du Deines ew'gen Vaters Sohn!

Im Schlummer auch

Mich hörend. – Ich verlange

Mir nichts! bin Gottes! Dir,

Mein Ein und Alles, Dir

In Noth und Kummer zu leben,

Der ärmsten Mutter, mir

In fremder Stadt gegeben,

Sollst einst, o süßer Fremdling, leben

Dem Gott, der Dich gegeben hat!


Gesang der kommenden Hirten bricht ein.


Holde, holde Wundernacht!

Der Heiland ist geboren!

Wir lagen da in Himmelspracht

Alle wie verloren;

Ein Engel kam in Gottes Licht:

»Freut Euch, Hirten! zaget nicht!

Aller Welt ist Freude!«

Da kam Gesang und Himmelsklang;

Hirten, singt ihn lebenslang!

»Ehre, Friede, Freude!«


Armer Knabe, liegest da

In Kripp' und Hüll' und Binden.

In Kripp' und Binden sollt' er sein,

Christ, der Herr, zu finden!

Wir singen Dir! wir geben Dir,

Frohen Herzens geben wir

Ihm Au' und Hütt' und Heerden.

Er giebt uns Freud' und güldne Zeit;

Brüder, Hirten! güldne Ewigkeit

Wird durch ihn uns werden.


Maria.


Accompagnement.


Ich weih' ihn Gott! und meine Seel'

Erhebt den Herrn! und all mein Geist[522]

Erfreut sich Gottes, meines Heilandes!

Er hat die Blöde seiner Magd

Mit Vaterblick ersehen! Sieh,

Von nun an werden mich lobpreisen

Die Kindeskind'. Der Herr, der Herr

Hat große Ding' an mir gethan,

Der Mächtige! Sein Nam' ist hehr! Sein Herz

Von Menschenhuld und Mitleid wallend

Zu Kindeskind.


Simeon.


Choral.


In Fried' und Freude Gottes wall'

Ich nun von hinnen!

Ich sah ihn mit den Augen mein,

Meinen Heiland!

Seh' ihn! Ach, wie herzt mein Arm

Den Auserwählten Gottes!


(Accompagnement weissagend, stark, abgebrochen, prächtig.)


Mich reget Geist! ich seh'! ich seh'!

Er wird ein Licht den Völkern sein

Und seinem Volke Trost und Ruhm!

Und Vielen Heil und Vielen Fall

Und Allen Kampf! – Ich seh'! ich seh'

Ein Licht der Welt! –

Dir aber, Mutter, wird er sein

Ein Schwert ins Herz!

Ach, vieler, vieler Menschen Sinn

Wird Gott dann offenbaren. –

Und nun in Fried' und Freude laß

Mich, Gott, von hinnen!

Ich sollt' ihn sehn mit Augen mein,

Meinen Heiland;

Seh' ihn, wie's mir Gott verhieß,

Und schlummre sanft hinüber.


Schlußchöre.


Voll.


1.


Dessen Preis die Hirten sangen

Und der Engel Jubel klangen,

Alle Ewigkeiten sangen,

Jesu, nimm dies Loblied an!


[523] Getheilt.


2.


Den Maria tief im Herzen

Trug, die Selige! mit Schmerzen

Drang ein Schwert zu ihrem Herzen,

Opfer, Jesu, nimm es an!


3.


Und mit Engels Sterbeblicken

Konnte Dich auch mit Entzücken

Simeon ans Herze drücken.

Holder Jesu, nimm es an!


4.


Dessen Preis die Hirten sangen

Und der Engel Jubel klangen,

Alle Ewigkeiten sangen,

Jesu, nimm dies Loblied an!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 519-524.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Aus Den Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit: Nebst Vermischten Gedichten (Hardback) - Common
Aus Den Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit: Nebst Vermischten Gedichten (Paperback) - Common
Gedichte (German Edition)

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon