Die Schöpfung

[447] 1769.


Einst war im weiten Schöpfungsraum

Noch Alles öd und wüst und leer,

Die Erd' ohn' Hügel, Thier und Baum,

Ein großes, schwarzes, wildes Meer,

Und Gottes Hauch schwebt' drüber her.

Da sprach der Schöpfer aller Welt:

»Sei Licht!« Da stand das Meer erhellt,

Das Licht war gülden, klar und schön;

Gott sah's und freut' sich, 's anzusehn,

Und nannt's und gab es seiner Welt.

Das war der erste Tag.


Drauf nahm Gott silberhelles Meer

Und hub's so weit und breit hinan.

Da floß es oben blau daher

Hoch überm alten Ocean,

Und zwischen ward hellweite Bahn,

Die nannt' der Schöpfer aller Welt

Den Himmel! Und dies hohe Zelt

Stand blau und hell und klar und schön;

Gott sah's und freut' sich, 's anzusehn,

Und nannt's und gab es seiner Welt.

Das war der andre Tag.


Drauf nahm Gott unten Erdenmeer

Und senkt' es in die Tief' hinab.

Das Land stieg hoch darüber her,

Und unten fand das Meer sein Grab,

Wo Gott ihm Thor und Riegel gab.

Da nannt' der Schöpfer aller Welt

Es Land! Sogleich war grünes Feld[447]

Voll Kraut und Gras und Baum und Laub

Und drüber wehnder Samenstaub;

Gott sah voll Lust ins blühnde Feld.

Das war der dritte Tag.


Drauf schuf Gott hoch am Himmelszelt

Zwei große Lichter, glänzend klar,

Zu leuchten über alle Welt,

Zu herrschen über Zeit und Jahr,

Und um sie große Sternenschaar.

Da nannt' der Schöpfer mächtiglich

Die Sonn' und Mond. Und königlich

Kam sie, die Sonn', in Tagespracht,

Der Mond als Königin der Nacht;

Gott sah sie an und freute sich.

Das war der vierte Tag.


Drauf sah Gott auf die Tiefen her.

Da regt' sich schwimmend große Schaar,

Der Fisch und Walfisch in dem Meer,

Der Vogel in den Lüften klar,

Nach Ort und Art, wie Jedes war.

Da sprach der Schöpfer väterlich,

Sie segnend. Da freut' Alles sich;

Der Fisch und Walfisch hüpft' im Meer,

Der Vogel schwirrt' in Lüften her;

Gott sah sie all' und freute sich.

Das war der fünfte Tag.


Drauf sah Gott hin ins grüne Feld;

Da regt' sich stäubend große Schaar

Von Wurm und Thier, und was die Welt

Zum Kriechen oder Gehn gebar,

Nach Ort und Art, wie Jedes war.

Da sann der Schöpfer feierlich

Und sprach: »Sei Mensch!« Da regte sich

Ein Götterbild, ging hoch einher

Und herrscht' auf Erd' und Luft und Meer;

Gott sah's und segnet's väterlich.

Das war der sechste Tag.


Nachdem nun Alles war vollbracht,

Erd', Himmel und ihr großes Heer,[448]

Und Alles gut und froh bedacht

In Luft und Kluft und Land und Meer,

Und Gottes Bild herrscht drüber her;

Da sprach der Schöpfer aller Welt:

»Sei Sabbath!« Und sein Himmelszelt

Ward Ruh; die weite Schöpfung lag

Und schwieg. Da heiligt' er den Tag

Und nennt' und segnet' ihn der Welt.

Das war der siebente Tag.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 447-449.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Aus Den Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit: Nebst Vermischten Gedichten (Hardback) - Common
Aus Den Ideen Zur Philosophie Der Geschichte Der Menschheit: Nebst Vermischten Gedichten (Paperback) - Common
Gedichte (German Edition)

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Gedichte (Die Ausgabe von 1844)

Gedichte (Die Ausgabe von 1844)

Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon