Jesus

[477] Nach Valentin Andreä.


Sei gegrüßet, schönste Blume,

Aller Menschheit Blume Du!

Zu Dir kommen alle Frommen;

Gottes Gnade, Himmels Zier

Wohnt in Dir.

Ich komm' auch; o, wär' ich kommen

Lange schon und hätte Ruh!


Lange bin ich irrgegangen,

Suchte Ruh an falschem Ort.[477]

Meine Augen gehn mir über,

Und voll Wehmuth ist mein Herz,

Ist voll Schmerz;

Denn ich suchte Dich nicht, Lieber!

Suchte mich nur hie und dort.


Konnt' ich, was ich suchte, finden?

Wo ist Ruhe ohne Dich?

Geistesquälen, Herzensquälen,

Brunnen fand ich ohne Trank!

Ohne Dank

Martern sich der Menschen Seelen,

Martern oft sich ewiglich.


»In die Schöpfung will ich gehen,«

Sprach ich, »da ist Gott gewiß.

Unter Blumen werd' ich finden,

Der der Blumen Vater ist.

Wo Du bist,

Laß Dich, Vater, laß Dich finden!

Hier, o Gott, bist Du gewiß.«


Ueberall sah ich die Spuren

Seiner nahen Gegenwart;

Ahnet' ihn auf Thal und Höhen,

Fragte rings die Creatur:

»Seine Spur

Sah ich; habt Ihr ihn gesehen?

Wo ist seine Gegenwart?«


Sei gegrüßet, schönste Blume,

Du, der Gottheit Abbild, Du!

Lilien und Rosen blühen

Um Dich, und Dein Dornenkranz

Ist voll Glanz.

Was soll ich mich weiter mühen?

Den ich suchte, Gott, ist hier!


Kommt zu ihm, die Ihr, mühselig

Und beladen, suchet Ruh!

Er, er wird Euch Geistesleben,

Unschuld, Liebe, süße Kraft,

Herzenssaft,

Gottes Ruh wird er Euch geben!

Gott im Menschen – das giebst Du!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 477-478.
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