Das Ich

[205] Willst Du zur Ruhe kommen, flieh, o Freund,

Die ärgste Feindin, die Persönlichkeit!

Sie täuschet Dich mit Nebelträumen, engt

Dir Geist und Herz und quält mit Sorgen Dich,

Vergiftet Dir das Blut und raubet Dir

Den freien Athem, daß Du, in Dir selbst

Verdorrend, dumpf erstickst von eigner Luft.


Sag an: was ist in Dir Persönlichkeit?

Als in der Mutter Schooß von Zweien Du

Das Leben nahmst und, unbewußt Dir selbst,

An fremdem Herzen, eine Pflanze, hingst,

Zum Thier gediehest und ein Menschenkind

(So saget man) die Welt erblicktest: Du

Erblicktest sie noch nicht; sie sahe Dich,

Von Deiner Mutter lange noch ein Theil,

Der ihren Athem, ihre Küsse trank

Und an dem Lebensquell, an ihrer Brust,

Empfindung lernete. Sie trennte Dich

Allmählig von der Mutter, eignete

In tausend der Gestalten Dir sich zu,

In tausend der Gefühle Dich ihr zu,

Den immer Neuen, immer Wechselnden.


Wie wuchs das Kind? Es strebte Fuß und Hand

Und Ohr und Auge spähend, immer neu

Zu formen sich. Und so gediehest Du

Zum Knaben, Jünglinge, zum Mann und Greis.

Im Jünglinge, was war vom Kinde noch?

Was war im Knaben schon vom Greis und Mann?

Mit jedem Alter tauschtest Du Dich um;

Kein Theil des Körpers war derselbe mehr.

Du täuschtest Dich mit Dir; Dein Spiegel selbst

Enthüllte Dir ein andres, neues Bild.
[205]

Verlangtest Du, ein Jüngling, nach der Brust

Der Mutter? Als die Liebe Dich ergriff,

Sahst Du die Braut wie Deine Schwester an?

Und als der Traum der Ehre fort Dich riß,

Verlangtest in die Windeln Du zurück?

Schmeckt Dir die Zuckerbirne, wie sie Dir,

Dem Kinde, schmeckte? Und die innre Welt

Der Regungen, der lichten Phantasei,

Des Anblicks aller Dinge, ist sie noch

Dieselbe Dir, wie sie dem Knaben war?


Ermanne Dich! Das Leben ist ein Strom

Von wechselnden Gestalten. Welle treibt

Die Welle, die sie hebet und begräbt.

Derselbe Strom, und keinen Augenblick,

An keinem Ort, in keinem Tropfen mehr

Derselbe, von der Quelle bis zum Meer.


Und solch ein Trugbild soll Dir Grundgebäu

Von Deiner Pflicht und Hoffnung, Deinem Glück

Und Unglück sein? Auf einen Schatten willst

Du stützen Dich? und einer Wahngestalt

Gedanken, Wirkung, Zweck des Lebens weihn?


Ermanne Dich! Nein, Du gehörst nicht Dir;

Dem großen, guten All gehörest Du.

Du hast von ihm empfangen und empfängst;

Du mußt ihm geben, nicht das Deine nur,

Dich selbst, Dich selbst; denn sieh, Du liegst, ein Kind,

Ein ewig Kind, an dieser Mutter Brust

Und hangst an ihrem Herzen. Abgetrennt

Von allem Lebenden, was Dich umgab

Und noch umgiebt, Dich nähret und erquickt,

Was wärest Du? Kein Ich. Ein jeder Tropf

In Deinem Lebenssaft, in Deinem Blut

Ein jedes Kügelchen, in Deinem Geist

Und Herzen jeder regende Gedank',

Und Fertigkeit, Gewöhnung, Schluß und That

(Ein Triebwerk, das Du übend selbst nicht kennst),

Jedwedes Wort der Lippe, jeder Zug

Des Angesichtes ist ein fremdes Gut,

Dir angeeignet, doch nur zum Gebrauch.

So, immer wechselnd, stets verändert, schleicht[206]

Der Eigner fremden Gutes durch die Welt.

Er leget Kleider und Gewohnheit ab,

Verändert Sprache, Sitten, Meinungen,

Wie sie der Zeiten rastlos gehnder Schritt

Ihm aufdringt, wie die große Mutter ihm

In ihrem Schooße bildet Herz und Haupt.


Was ist von Deinen zehentausenden

Gedanken Dein? Das Reich der Genien,

Ein großer untheilbarer Ocean,

Als Strom und Tropfe floß er auch in Dich

Und bildete Dein Eigenstes. Was ist

Von Deinen zehen-zehentausenden

Empfindungen das Deine? Lieb' und Noth,

Nachahmung und Gewohnheit, Zeit und Raum,

Verdruß und Langeweile haben Dir

Es angeformt und angegossen, daß

In Deinem Leim Du neu es formen sollst

Fürs große, gute, ja fürs bessre All. –

Dahin strebt jegliche Begier, dahin

Jedweder Trieb der lebenden Natur,

Verlangen, Wunsch und Sehnen, Thätigkeit

Und Neugier und Bewunderung und Braut-

Und Mutterliebe, daß vom innern Keim

Die Knospe sich zur Blum' entfalt' und einst

Die Blum' in tausend Früchten wieder blüh'.

Den großen Wandelgang des ew'gen Alls

Befördert Luft und Sonne, Nacht und Tag.

Das Ich erstirbt, damit das Ganze sei.


Was ist's, das Du mit Deinem armen Ich

Der Nachwelt hinterlässest? Deinen Namen?

Und hieß' er Raphael: an Raphael's

Gemälden selbst vergess' ich gern den Mann

Und ruf' entzückt: »Ein Engel hat's gemalt.«


Dein Ich? Wie lange kann und wird es denn

Die Nachwelt nennen? Und am Namen liegt's?

So nennet sie mit Dir auch Mävius

Und Bavus, Stax und Nero-Herostrat.
[207]

Nur wenn, uneingedenk des engen Ichs,

Dein Geist in allen Seelen lebt, Dein Herz

In tausend Herzen schläget, dann bist Du

Ein Ewiger, Allwirkender, ein Gott,

Und ach, wie Gott, unsichtbar-namenlos.


Persönlichkeit, die man den Werken eindrückt,

Die kleinliche, vertilgt im besten Werk

Den allgemeinen, ew'gen Genius,

Das große Leben der Unsterblichkeit.


So lasset denn im Wirken und Gemüth

Das Ich uns mildern, daß das bessre Du

Und Er und Wir und Ihr und Sie es sanft

Auslöschen und uns von der bösen Unart

Des harten Ichs unmerklich sanft befrein!

In allen Pflichten sei uns erste Pflicht

Vergessenheit sein selber! So geräth

Uns unser Werk, und süß ist jede That,

Die uns dem trägen Stolz entnimmt, uns frei

Und groß und ewig und allwirkend macht.

Verschlungen in ein weites Labyrinth

Der Strebenden, sei unser Geist ein Ton

Im Chorgesang der Schöpfung, unser Herz

Ein lebend Rad im Werke der Natur!


Wenn einst mein Genius die Fackel senkt,

So bitt' ich ihn vielleicht um Manches, nur

Nicht um mein Ich. Was schenkt er mir damit?

Das Kind? den Jüngling? oder gar den Greis?

Verblühet sind sie, und ich trinke froh

Die Schale Lethens. Mein Elysium

Soll kein vergangner Traum von Mißgeschick

Und kleinem krüpplichten Verdienst entweihn.

Den Göttern weih' ich mich, wie Decius,

Mit tiefem Dank und unermeßlichem

Vertrauen auf die reich belohnende,

Vielkeimige, verjüngende Natur.

Ich hab' ihr wahrlich etwas Kleineres

Zu geben nicht, als was sie selbst mir gab

Und ich von ihr erwarb, mein armes Ich.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 205-208.
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