Erster Gesang

[229] Vom Himmel schwebete die Kunst hernieder

Auf festen, weitgespannten Adlersflügeln:

»Seh' ich Dich endlich, Land der Jugend, wieder,

Dich, stolzes Rom, auf Deinen sieben Hügeln,

Von denen durch Gesetze, Macht und Lieder

Du alle Nationen durftest zügeln?

Wo sind die Tempel, wo die Ehrenbogen,

Durch welche siegbekränzt wir Beide zogen?«


»Ihr Götter, die ich einst anbetend ehrte,

Gott Jupiter, des größten Staates Wächter,

Und Jede, die den Stolz von Roma mehrte,

Victoria und Pallas, Deine Töchter,

Auch Juno, aller Frauen Hoch- und Werthe,

Beschützerin der alten Ruhmgeschlechter –

Wo bist, Apollo, Du, damit aus allen

Erdzonen alle Künste zu Dir wallen?


Es schweiget rings um mich. In dieser Wüste

Erkenn' ich Dich, verehrte Roma, wieder?

Und Ihr Gestalten, die ich liebend grüßte,

Mit Euren Tempeln sanket Ihr danieder?

Hier seh' ich einen Rumpf, dort eine Büste –

Grausam zerstückte schöne Götterglieder!

Geflickt und hingestellt – o Angst und Jammer! –

In ein Museum, eine Rumpelkammer.


Ihr Menschen, habt Ihr Sinn und Geist verloren?

Gebt jeder Gottgestalt, was ihr gebührte,[229]

Das Heiligthum, das sie sich selbst erkoren,

Den Tempel, wo sie still die Herzen rührte,

Wo Zeus die Blitze schwang, und Aller Ohren

Gott Phöbus sang und frohe Chöre führte –

Gebt, die Ihr uns geraubt, die Tempel wieder,

Und Alles fällt vor unsern Göttern nieder!


Was seh' ich dort für neue Kunstgebäude,

Gebaut auf Gräber? – Schau! zu wessen Ehre?

Mir zum Entsetzen wird die eitle Freude.

Wohnt hier ein Gott in dieser hellen Leere?

Wie krüppelt Alles hier! – Mit innerm Leide

Seh' ich die Leidenden und hör' und höre

Von Sünderinnen, büßenden Geschwächten,

Marternden Herren und gequälten Knechten.


Weh wird mir! Führet mich zu meiner Trümmer!

Im engsten Mausoleum will ich wohnen,

Und immer soll im Angedenken, immer

Die alte Kunst in ihrer Höh mich lohnen.

Hinweg aus diesem Bild- und Meßkunstschimmer,

Geschmückt mit falschem Gold, aus falschen Kronen!

O Zeit, statt Deiner Heldenideale

Erkenne Dich und bau Dir – Hospitale!«


Da trat zu ihr die schönste der Gestalten,

Die je mein Aug' und meine Seele sah;

Indem zwei Himmelsschwingen sich entfalten,

Stand lilienbekleidet Psyche da,

Die Himmlische, zu der wir Alle wallten,

Die Menschenfreundin Psyche-Carita.

Sie, deren Funk' in Aller Herzen brennet,

Wird Carita im Himmel jetzt genennet.


»Du kennest, Edle, mich,« sprach sie mit Blicken

Der Innigkeit, die jedes Herz durchdrang.

»Ich Vielgeprüfte ward der Welt Entzücken

Durch Deine Macht, o Kunst, die sie bezwang,

Wie mich. O wolltest Menschen Du beglücken,

Auf Knieen weiht' ich Dir den tiefsten Dank,[230]

Und alle Herzen aller Nationen,

Mit schönen Thaten sollten sie Dich lohnen.


Doch ach! erinnre Dich, mit wie viel Thränen

Ward jedes Deiner Wunder einst erbaut!

Von Sklaven, die sich nach der Freiheit sehnen,

In Kammern wohnend, deren Tiefe graut;

Von Völkern, deren Ueberwinder höhnen

Und jauchzen über ihre Ketten laut;

Von Seufzern, Schweiß und Blut der Nationen

Ward auferbaut, wo Deine Götter thronen.


In Deinen Bädern, Deinen Ehrensälen,

Wie lebten die Heroen jener Zeit!

Vergöttert tranken sie aus Goldpokälen

Der Völker Schmach und sich Unsterblichkeit;

Gedrückte, die wol Niemand mochte zählen,

Sie dienten Eines großer Ueppigkeit.

Für welche Herrn und für wie feile Gäste

Erkannst Du Schmuck und Bäder und Paläste!


Die Gottgestalten, die der Künstler ehrte,

Nie milderten sie der Tyrannen Herz;

Was ihrem Uebermuth und Frevel wehrte,

Auch in Dir selbst, war ihnen Tand und Scherz.

Wer thun kann Alles, was sein Herz begehrte,

Ihn kümmert keines Wundgedrückten Schmerz;

Und Solchen dientet Ihr als Schmeichlerinnen,

Süßnährend ihren Uebermuth, Sklavinnen!


Noch jetzt, zu meinem innern stillen Leiden,

Seh' ich den Trug, mit dem die Kunst betrügt,

Den falschen Ruhm und Reiz, die falschen Freuden,

Mit denen thöricht sie beglückt und – lügt.

Sie läßt das Auge, läßt den Sinn sich weiden,

Indeß das Herz sich leer und albern wiegt,

Umklammert es mit Eis für wahre Schmerzen

Und nährt das Püppchen mit Ideenscherzen.


Was soll Dein Adytum, an dessen Schatten

Sich Aberglaub' und Irrthum ewig hängt?[231]

Kann je sich Wahrheit mit der Lüge gatten?

Erhält die Kunst, was der Verstand verdrängt?

Sprich! altete nicht Cypris, ob der matten

Ihr, Künste, gleich den Balsam reichlich schenkt?

Unsel'ge Mühe, durch den Stein, den kalten,

Vermoderte Gedanken festzuhalten!«


»Hast Du geendet?« sprach mit Bitterkeiten

Die alte strenge, majestät'sche Kunst.

»Wohl mir, daß ich in frischern Jugendzeiten

Die Welt genoß mit aller Göttergunst.

Ich buhle nicht um Eure Trefflichkeiten;

Und schuf ich meine Schöpfung Euch umsonst,

Erstarb sie Euch mit abgelebten Jahren,

So geht und bleibet was Ihr seid – Barbaren!«


»Nicht also!« sprach und kniete ihr zu Füßen,

Inbrünstig bittend, Psyche-Carita.

»Auch Du sollst unsres Sieges mitgenießen,

In Dir ist huldreich unsre Freundin da.

Erweiche Dich, wir können nie Dich missen;

Sei Du mitwirkend uns zur Hilfe nah!

Die Zeiten wechseln mit Geschäft und Stunden;

Das Neue kommt, das Alte ist verschwunden.


Was wir bedürfen, ist, der Menschen Herzen

Von innen aus zu bilden, zu erziehn,

Sie für gemeinsam Wohl in Freud' und Schmerzen

Tief zu erregen, daß sie göttlich glühn,

In ein Bestreben, nicht zu Tand und Scherzen,

Die Kraft der Liebenden vereint zu ziehn.

Begeistre sie mit dieser Art Ideen,

Und Deine Werke werden nie vergehen!


Was soll der alte Wust? Kunstschmeicheleien!

Ein längst verblichner, hohler, leerer Tand!

Die Menschheit will der Menschheit sich erfreuen;

Du, ihre Tochter, beut ihr Deine Hand!

Verdienste sollen lebend sich erneuen;

Was will der Marmor an des Grabes Rand?

Im Angedenken edler Nationen,

Im Steine nicht, muß ihr Andenken wohnen.


Der Marmor sinkt, das Brustbild wird verschmitzet,

Die Inschrift, die es nennt, ist ohne Spur;[232]

Was einzig uns Unsterblichkeit beschützet,

Ist Deine Kunst, o Künstlerin Natur,

Die Immer-lebende, die wärmt und nützet

(Das Thätigste ist ihr das Beste nur),

Die Kunst,« sprach Carita, »die, zart in Flammen,

Zu jedem Schicksal Menschen schmilzt zusammen.«


Da stand vor ihnen, der sie Beide liebte,

Der Menschheit und der Künste Genius,

Gott Amor. »Freundin, was den Sinn Dir übte,

War Vorspiel nur zu höherem Genuß;

Und das, was Psychen kränkt', was sie betrübte,

Wird Beiden Euch der Freuden Ueberfluß.

Die Gottheit spricht: Mit aller Völker Händen

Soll ein Pygmalion das Werk vollenden!«


»Wie Götter einst zu Menschen niederstiegen,

So edle sich die Menschheit göttergleich.

Die Regel, die die Kunst ersann, wird siegen

In der Vernunft wie in der Formen Reich,

Und Alles wird sich hold zusammenfügen

Zu einem Kunstgebilde, sich nur gleich.

Nimm diesen Kranz! er schützt Dich vorm Veralten;

Nur Menschenwohl kann Künste jung erhalten.«


Die alte Kunst sprach: »Deine süße Lehre

Belebt mich selbst zur Psyche-Carita;

Verjünget fühl' ich mich; denn ich gehöre

Mit meinem Werth den Menschen, ihnen nah.

Die hohe Regel, die ich lieb' und ehre,

Steht ihrer weiten, großen Schöpfung da.

Die höchste Kunst, zu der sich Herzen wenden,

Die göttliche, kann Liebe nur vollenden.«


Sie sprach's. Unsichtbar stand an ihrer Seite,

Gehüllt in Nacht, die dumpfe Barbarei,

Tief brütend, was des Schicksals Spruch bedeute:

»Pygmalion erschafft die Künste neu,

Daß froh verjünget jede höher schreite,

Von Dunst und Trug und Vorurtheilen frei!«

Sie schwört bei sich, das Werk, wo nicht zu hindern,

Doch, kann sie es, zu säumen und zu mindern.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 229-233.
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