Amor's Schicksale

[121] Nach dem Spanischen.


1.

Liebe fordert Gegenliebe;

Ohne Kampf und Siege wachsen

Amorn seine Schwingen nicht.


Von der Anmuth selbst geboren

Und von Grazien erzogen,

Blieb er, ohne Streit und Kämpfe,

Flügellos und klein und schwach.


»Schaff ihm,« sprach die weise Themis,

»Mutter, schaff ihm einen Bruder,

Der ihn fordre, der ihn reize;

Denn sein Vater war der süße

Trieb, und ihm im Busen schläget

Mächtig seines Vaters Herz.«
[121]

Dies geschah: dem Kinde sproßten,

Kämpfend mit der Gegenliebe,

Schnell die Flügel; Adlerschwingen

Trugen kühn ihn zum Olymp.


2.

Aber kampf- und sieggewohnet,

Säet Amor im Olympus

Bald auch Streit und Zwietracht aus.


Denn unglücklich war sein Bruder

Drunten scheu zurückgeblieben.

»Im Olympus,« sprach er, »kennet

Man die Gegenliebe nicht.«


Da ergriff der Gott Saturnus

Schnell den Knaben an den Flügeln,

Kürzet' ihm die kühnen Schwingen,

Schleudert' ihn zur Erd' hinab.


Seitdem flattert er hienieden,

Wie die Schwalbe, wie die Taube;

An den Hof der großen Götter

Tragen ihn die Schwingen nicht.


3.

Dafür sammelt er auf Erden

Sich ein Corps erwählter Freunde.

Musen, Grazien umgeben

Ihren Liebling. Schäferinnen,

Kinder, Jünglinge und Mädchen

Sind an jedem Fest der Ceres

Oder an Jakchus Kelter,

Sind an jedem Frühlingsfeste

Allenthalben mit ihm gern.


Und die Nachtigallen singen

Lieblicher; die Lauben blühen

Mit Jelängerundjelieber;

Rosen knospen, und die treue

Taube fliegt in seinen Schooß.
[122]

4.

Aber eingedenk auch seines

Schicksals bei den hohen Göttern,

Siehet Amor je auf Erden

Einen, spielet er ihm Trug.


Diesen wandelt er zum Kuckuk,

Jenen gar zum goldnen Regen,

Den die Schürze spottend auffängt,

Den zum Stier. Die Gottgeliebte

Wird zur Jo, wird zur Echo,

Zur betrüglich leichten Welle

Oder gar zum Aschenhäufchen

Und zum traurig-dürren Baum.


5.

Nur den Menschen ist die Liebe

Hold und freundlich. Wo im Herzen

Eros wohnet, blickt dem Bruder

Vom gesenkten Augenlide

Anteros gefällig zu.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 121-123.
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