Coalition

[162] »Politisch Lied, ein böses, böses Lied!«

So sagt das Sprichwort; und Du willst, o Freund,

Daß dichtend unsre Nation sogar

Politisire? Hör ein Märchen an,

Was ein politisch Wort, ein bloßes Wort,

Für mancherlei Besinnung dem Gemüth

Nur eines deutschen Hauses gab. Es hieß

Coalisirte Mächte.–Dir ist noch

Bekannt: man wiegte vor nicht langer Zeit

Die Kinder mit coa-coalisirt

In sanftern Schlaf. Das junge Fräulein fragte

Die gnädige Mama: »Was machen jetzt[162]

Die gnäd'gen Tanten, die coalisirten

Puissancen wol?« Der Informator hörte

Das Wort mit Aerger: »Wahrer Solöcism!

Coalui, coalitum! Es heißt

(Soll's ja so heißen) einzig coalirt,

Und nicht coalisirt. Ein Emigré

Erfand das Wort, als ob die ganze Welt

Für ihn zusammenwachsen müßte.« »Nein,«

Antwortete der Secretarius,

»Der stolze Berg erfand's, als ob die Welt

Entgegen seinem Rath nichts mehr bedeute

Als eine Reichstags-Coalition.

Sie sangen ja den zweiten Psalm!« »Woher

Es stamme,« sprach der Informator, »fremd

Ist es und tauget nicht. Sonst nannte man's

Verbündet, und da denk' ich mir den Bund.«

Es hieß auch alliirt; da denk' ich mir

Die Allianz. Doch das Zusammenwachsen

Der alliirten Mächte giebt kein Bild.

Ich schlug das Buch der Richter auf, wie Bäume

Sich um die Allianz und Monarchie

Besprachen: »Soll ich meinen süßen Most

Aufgeben?« sprach der Weinstock. »Und soll ich

Aus meiner Wurzel treten, daß ich mich

Coalisire?« sprach die Ceder. »Schlage

Der Herr nur den Propheten Daniel

Und Esra sammt der Offenbarung auf!

Da findet er so manches schöne Bild

Coalisirter Mächte: Adler, Leu

Und Lamm und Greif; es giebt ein schönes Kupfer!«

Die gnäd'ge Tante sprach's. »Verzeihung!« bat

Ein stattlicher Notarius; »allhier

Gilt nicht die Bibel. In politicis

Entscheiden wir; wir sind politici.«

»So lange darfst Du Deines Landes Baum

Und Kruste von dem Meinigen zurück-

Begehren, als sie mit dem Boden noch[163]

Nicht coalirten.« Also spricht Alfenus

Und Ulpian. »Getroffen!« riefen Alle,

»Und gar politice.« »Doch noch nicht g'nug

Bestimmt!« sprach ein Geheimer Rath; »die Kruste,

Der Baum coalescirt; doch hohe Mächte

Coalisiren sich. Sind's freie Staaten,

So heißt es Union; und schließen sie

Ein Bündniß, heißt's Conföderation;

Coalisiren Cabinette sich,

So folgt darauf Incorporation,

Der fremden Erdenkruste Einverleibung–

Ein angenehmer Actus.« Endlich ward

Dem Herrn des Hauses dieser Tummelplatz

Zu eng. »Ich dächte, Jedermann von uns

Coalescirt' und coalirte nur

Zuerst mit sich und seiner Kruste.« »Das

Ist's eben, gnäd'ger Herr,« sprach ein Statist-

Iker, der ex professo sich darauf

Geleget hatte. »Als vor Jahren ich

Mit meinem jungen Herrn auf Reisen war,

Da fiel mir auf der letzten Station

In Frankreich an der Grenze schwer es auf,

Wie Alles dort so bald coalescire.

Vor wenig Jahren waren Hennegau

Und Flandern flämisch, Lothringen war deutsch;

Und jetzt ist bis zur letzten Station

Alles französisch, um- und umgewandt,

Bekleibet, neugeschaffen, coalirt.«

Und dicht daneben hängt, an Wulst und Leib

Und Sprach' und Sitten gleich, das Brabant an,

Das Deutschland! »Wie coalescirt ein Reich?«

Fragt' ich mich selbst, »und wie coalisirt

Es sich Provinzen, die's incorporirt?

Ein schweres Staatsproblem!« Hier sehen Sie

Die große Länderkarte. Ostwärts dort

Das ungeheure Kaiserthum Groß-Tschni,

Tschong-Ku, Tschong-Hoa! Leider nennen wir's

Mit falschem Namen China! Dieses Reich

Mit seinen tausendundvierhundertzwei-

Undvierzig Strömen, vielen Brücken und

Zweitausend Bergen, hundertneunundvierzig

Millionen und sechshundertzweiundsechigtausend Menschen,[164]

Dort von der Mauer bis nach Canton zu,

Ja bis nach Lao-Tschua, Cotschin-Tschina,

Cambotscha, Tunkin, ist, wie ein Gewächs,

Mit seinem Boden trefflich coalirt.

Ein jeder Mandarin hat seinen Platz

Und seine Feder. Kommt ein fremder Lord,

Mit Freudenfeuern führt man ihn hinein,

Und bald hinaus, daß er nicht coalire.

Dagegen Hindostan, das arme Land,

Ist elend coalirt. Bramanen, Schattri,

Banjanen, Schutter, und die Fremden gar,

Seiken, Dschaten, Gebern und Afghanen,

Mongolen, Juden, Perser, Araber,

Und Europäer aller Art, Maratten,

Rasbatten; darum geht's den guten Hindus

Auch so erbärmlich. – Nun spazieren Sie

Von den Fuchsinseln bis nach Kexholm hin;

Wie hängt's zusammen! Samojeden und

Tungusen, Tatern, Kamtschadalen; da

Lebt Jeder, wie er will, wenn er nur Pelze

Und seinen Rubel giebt. – Das arme Polen,

Warum denn ward's zertheilt? Es war mit sich

Nicht coalirt; drum schnitt man es entzwei;

Nun wachsen seine Stücke neu und frisch

Zusammen durch die Cur der Sympathie.

»Das große Deutschland (warum liegt es doch

So nah an Polen?), Holland, Engeland

Mit Schottland, Irland, Caledonien,

Italien und Griechenland, Türkei

Und Walachei und Moldau –« »Ist's denn noch

Nicht aus?« rief der Baron. – »Das Beste kommt

Anjetzt. – Nun treten Sie in Frankreich ein!

Da weht französische Luft; da essen sie

Und trinken, jauchzen, reden, singen ganz

Französisch. Schon das Kind in Mutterleib,

Ich glaub', es denkt und spricht französisch. Selbst

Latein und Griech'sch spricht man französisch aus,

Und Alles mit Geschmack. Sie ziehn den Fremden

So an sich, daß er mit coalescirt.

Oft hab' ich dran gedacht, warum denn Griechen

Und Römer auch nicht so zusammenwuchsen.

Was half den Griechen ihr Achäerbund,[165]

Ihr Panionium, Amphiktyonenhof,

Ihr Panätolium? Was halfen den

Etruriern die Lucumonen? was

Den Römern ihr jus civitatis? und

Den Celtiberiern –« »Ist's noch nicht aus?

Da seh' der Herr die sieben Pfeile auf

Holländischen Ducaten mit der Aufschrift

Concordia!« »Ach, leider sind sie nur

Im Golde des Ducaten coalirt!«

»Nun so coalisir' Er denn!« »Er wird,«

Antwortete der Arzt, der bis dahin

Geschwiegen hatte, »jetzt erzählen, wie

Man die in Eins Gewachsenen curirt.

Dem Einen Schnupftobak, der Andre niest;

Purgirt den Einen – denn wie Haller sagt,

Kommt's bei in Eins Gewachsnen nicht auf Köpfe

Und Mägen an, sie sind ein Herz und Geist.«

»Nicht also!« sprach ein Casuist; »nach Köpfen

Wird ein Coalitum getauft; was ist

Da viel zu herzen?« Der Baron

War dieses Streites müde. »Seht, Ihr Herrn,

Ihr selber seid in Euern Meinungen,

Ein Wort betreffend, weder coalirt,

Noch wollt Ihr Euch coalisiren; und

Coalisirt die Welt? Nutzlose Müh!

Sei Jeder erst mit seinem Stand und Land

Und Haus und Hof und Weib und Kind und Amt

Und Pflicht, ja mit sich selbst recht coalirt;

Er wird Tschin-Tschin vergessen. Lerne doch,

Was Euch der Haushahn in der Fibel sagt,

Ein Jeder seine Lection, so steht

Es wohl in Hause, Stadt und Land und Welt.« –

Sieh, Freund, so spricht die deutsche Politik

Vom Fernsten immer und vom Weitesten,

Nur nicht von sich. Und lohnt es wol der Müh,

Die Musen mit dem Wuste zu entweihn?

Verbannt aus Deutschland ist die Politik;

Verbannet sei nur nicht die Menschlichkeit!

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 162-166.
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