Des Menschen Herz

[136] In ein Gewebe wanden

Die Götter Freud' und Schmerz;

Sie webten und erfanden

Daraus ein Menschenherz.

Du armes Herz, gewebet

Aus Lust und Traurigkeit,

Weißt Du, was Dich belebet?

Ist's Freude? ist es Leid?


Die Göttin selbst der Liebe

Sah es bedaurend an:

»O zweifelhafte Triebe,

Die dieses Herz gewann!

Im Wünschen nur und Sehnen

Wohnt seine Seligkeit,

Und selbst der Freude Thränen

Verkündigen ihm Leid.«


Mitleidig trat ihr Knabe

Hinzu mit seinem Pfeil:

»Auf! meine beste Gabe,

Sie werde Dir zu Theil!

Dein unbezwinglich Streben

Sei Liebe Dir, o Herz,

Sei Deiner Freude Leben,

Und Süßigkeit dem Schmerz!«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 136.
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