Die verschiedene Weise der Moral

[127] Auf offnem Markte mit Gebieterton

Erschien in Herrscherpracht der Gott Imperativus.

»Ich bin das Ich, der ächten Weisheit Sohn,

Ein Vocativ der Pflicht, des Rechts Nominativus.

Wer von der Würde wich, erzittre meinem Thron!

Ich bin der kleinsten Schuld Fiscal-Accusativus,

Und hinter mir dort steht zu Büttelstraf' und Lohn

Ein dunkler Schlußstein noch, der Gott Infinitivus. –

Doch wer bist Du?« »Ich bin der armen Menschheit Sohn,

Ein Flehender, der blöde Optativus;

Doch selbst mein Wunsch, mein Streben wird mir Lohn;

Denn hier ist mein Genoß, der helfende Dativus,

Ein guter Mann.« »Ihm werd' ein Bettlerlohn!

Und rufet lauter aus mit Pauken und Drommeten:

Der Menschheit Würde wird befohlen, nicht erbeten.«


Vorüber zog der Lärm; die sanfte Menschenliebe

Mit ihren Wünschen, ihrer Hoffnung blieb

Und feuert' an des Herzens zarte Triebe:

»Ihr Menschen, liebet Euch und seid einander lieb!

Verzeihet gern! wir müssen Alle fehlen.

Und hofft das Bessre stets! denn Hoffnung stärkt die Seelen.

Erwartet wenig, um so reichlicher zu geben!

Aufs Werthsein rechnet nicht! der Menschen ganzes Leben,

Statt Haben und Besitz, ist Streben.«


Entflohen war der Lärm, sein Trommeln war vorüber;

Die sanfte Stimme, zart und schwach,

Sie tönete in Aller Herzen nach.

Mit Hoffnungen gewann der Mensch das Leben lieber,

Und jeder Wunsch, so leise man ihn sprach,

Ging strebend auf die fernste Nachwelt über.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 127.
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