9. Elisabeths Trauer im Gefängniß
Englisch

[253] Von Shenstone, einem der sanftesten und natürlichsten Dichter der Engländer in ihren lezten so künstlichen Zeiten. Aus Dodsley's Collect. Tom. IV. p. 333.


Wollt ihr hören wie Elise52

Klagend im Gefängniß sang,

Als der Schwester stolze Grösse

Sie zu bittern Thränen zwang.

Spielend scherzten muntre Mädchen

Rings um ihres Kerkers Wacht;

Ach wie konnt sie jetzt beneiden,

Was der Grosse sonst verlacht.


»In der Ruhe Thal gebohren,

Wer verliesse je das Thal?[253]

Drängte sich nach Kron' und Purpur,

In des Hofes goldnen Saal?

Fern von Bosheit, wie von Schätzen,

Stiller Lieb und Freundschaft hold –

Ach, was kann wie Lieb' ergötzen,

Sie, die mehr ergötzt als Gold.


Arme Schäfer, ihr beneidet

Oft, so oft der Grossen Glück,

Weil sie Gold, statt Wolle, kleidet,

Gold, des Herzens böser Strick;

Liebe, wie die goldne Sonne,

Wärmt und stralet euch so gern,

Mahlt euch an der Brust ein Blümchen

Ueber Ordensband und Stern.


Sieh, wie dort das Mädchen singend

Ihre Heerde treibt zur Ruh:

Schlüsselblümchen neuentspringend

Grüssen sie und horchen zu.

Welche Königin der Erde

Blickte je und sang so froh?

Ach beladen mit Juwelen

Schlägt und singt kein Herze so.


Wär' ich auch mit euch gebohren,

Auch ein Mädchen in dem Thal,

Ohne Fesseln, ohne Kerker

Hüpft' ich in der Freiheit Saal.

Klimmte über Fels und Hügel,

Sänge Liebe, Lust und Scherz:

Meine Kron' ein Wiesenblümchen,

Und mein Reich des Schäfers Herz.«[254]

52

Die nachmalige Königin Elisabeth im Gefängniß zu Woodstock 1554.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart 1975, S. 253-255.
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