11.

[210] »Edler Ritter Don Rodrigo,

Jung und kühn und klug und tapfer,

Strafe dich mit Schmach der Himmel,

Daß du mir mein Herz bekämpft,

Kühner, ohne zu bedenken,

Wer du bist und wer ich bin


Daß du eine Stadt bezwungen,

Daß fünf Könige der Mauren

Du in deine Fesseln zwangest,

Daß den stolzen Grafen Gormaz

Du in früher Jugend schlugest,

Macht dich dieses so verwegen?

Welcher Spanier, o Ritter,

Tät es nicht und wohl noch mehr?


Edel zwar bist du geboren,

Auszuüben schöne Taten;

Dem, der einzig seine Pflicht tut,

Dem ist keinen Dank man schuldig,

Und gebührt er dir, so wisse,

Diese Pflicht ist nicht die meine,

Sie ist meines Vaters Pflicht.


Wenn ein Mangel an Vermögen

Mich dir anzunähern scheinet,

Mich, die meine Königsabkunft

Über dich so hoch erhebt,

O, so wisse: Königstöchter

Sind deswegen arm an Gütern,

Weil der Adel ihres Stammes

Ihnen mehr als Reichtum gilt.

Armut ist an mir kein Flecke;

Sie ist meiner Hoheit Ruhm.
[210]

Reich, das weiß ich, ist Ximene,

Darum ists, daß du sie liebest;

Nein, nicht darum; denn, Rodrigo,

Unrecht will ich dir nicht tun.

Sie auch liebt dich – Nun, so liebet!

Mir macht es den kleinsten Kummer,

Daß der Cid Ximenen liebt.


Eines reichen Grafen Tochter

Gnüget dir, du kleiner Ritter;

Ich bin arm – bedarf ein edler

Diamant, bedarf er Gold?


Schön bist du, wie einst Narcissus;

Weise – Salomon war weiser;

Edel – deren gibt es viele;

Tapfer – Spanien erziehet

Keine Memme, Don Rodrigo!

Reich – das sind so viele Narren;

Weit berühmt – das waren viele

Mehr als du, und starben dennoch,

Eingehüllet in die Tücher

Menschlicher Vergessenheit.


Ritter, wenn dein eigner Spiegel

Dir nur deine Schönheit vorhält,

So tritt her vor meinen Spiegel!

Er erniedert deinen Stolz.

Geh dann hin zu deinesgleichen,

Ritter, eine Königstochter

Blicke nur mit Ehrfurcht an!«


Also sprach die eifersüchtge

Königstochter Doña Uraca;

Und der Cid, er stand und schwieg.

Denn sie liebt' ihn tief im Herzen;
[211]

Und als sie nun ausgeredet,

Fuhr sie fort, mit ihrer Nadel

Ihm zu nähn die schönste Schärpe,

Die er – nicht begehrete.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 210-212.
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