20.

[230] Zehn Uhr wars am frühen Morgen,

Als der König seinen Schreiber

Rief und foderte Papier.

Mit vier Punkten und dem Zuge

Paraphiert er Kreuz und Namen,

Und also antwortet er:[230]

»Edle, sittsame Ximene,

Meinen Gruß Euch ehrerbietig,

Meine Hochachtung und Gunst!


Ihr beklagt um den Gemahl

Euch Gegen mich, Doña Ximene.

Wenn ich ihn zum Nachteil Eurer,

Mir zur Lust zurückbehielte,

Klagtet Ihr mit vollem Recht;

Aber da die Heidenkriege,

Die auf meinen Grenzen stürmen,

Ihn rückhalten, ist es meine

Oder ist es seine Schuld?


Daß er nicht in Euren Armen

Stets geschlafen, dies beweiset,

Edle Doña, Euer Brief.

Also glaub ich auch der Furcht nicht,

Daß Ihr einen vaterlosen

Säugling in dem Schoße tragt.


Drängt ihn nicht, zurückzukommen,

Euren Ehgemahl! Er hörte,

Auch an Eurer Seite hört' er

Mit Unlust die Kriegsschalmei.

Und wenn er nicht Feldherr wäre;

Saget mir, was wärt Ihr beide?

Edelmann und Edelfrau.


Hatt er Könige der Mauren

Fünf als Jüngling zu Vasallen,

Wollte Gott, er hätte deren

Fünfmal fünf! Denn um so minder

Hätte Feinde jetzt mein Reich.


Kann er also nicht, Ximene,

Bei Euch sein im Augenblicke,[231]

Wo Ihr ihn so sehnlich wünscht,

So erlaubt mir, edle Mutter,

Daß ich seinen Platz vertrete!

Denn ich glaub es, nur der König

Ist für ihn des Platzes wert.


Euern Brief sollt ich verbrennen?

Sehen sollen ihn die Lacher

Meines Hofes, tief beschämt.

Daß Ihr meinen nicht verbrennet,

Zeichne ich ihn zum Kontrakte

Und verbinde mich, Ximene:

Ists ein Sohn, den Ihr gebäret,

Geb ich Zelter ihm und Degen

Mit zweitausend Maravedis,

Ihm, dem Ritter, zum Geschenk;

Ist es eine Tochter, setz ich

Vierzig Mark an gutem Silber

Vom Geburtstag an ihr aus.


Und so lebet wohl, Ximene!

In der Stunde Eurer Schmerzen

Helf Euch die hilfreiche Mutter,

Aller Himmel Königin!


Nachschrift.

Eben kommt, ich hör ihn kommen,

Euer ernster, lauter Feldherr,

Mir die Lektion zu lesen,

Daß ich nicht zu Felde bin.«

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 230-232.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Cid
Der Cid (Hardback)(German) - Common
Der Cid unter Ferdinand dem Großen.
Herders Cid: Neu Durchgesehene Aufl, Volume 22 (German Edition)

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon