Zweiter Abschnitt

[322] Auch die römische Weltverfassung erreichte ihr Ende, und je größer das Gebäude, so höher es stand; mit desto größerm Sturze fiel's! die halbe Welt war Trümmer. Völker und Erdteile hatten unter dem Baume gewohnt, und nun, da die Stimme der heiligen Wächter rief: »Haut ihn ab!« – welch eine große Leere! wie ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten! Nichts minder als eine neue Welt war nötig, den Riß zu heilen.

Norden war's. Und was man auch nun über den Zustand dieser Völker für Ursprünge und Systeme ersinnen mag: das simpelste scheint das wahreste: in Ruhe waren's gleichsam »Patriarchien, wie sie in Norden sein konnten«. Da unter solchem Klima kein morgenländisches Hirtenleben möglich war, schwerere Bedürfnisse hier den menschlichen Geist mehr druckten, als wo die Natur fast allein für den Menschen würkte, eben die schwerere Bedürfnisse und die Nordluft die Menschen aber mehr härtete, als sie im warmen aromatischen Treibhause Osts und Süds gehärtet werden konnten: natürlich blieb ihr Zustand roher, ihre kleine Gesellschaften getrennter und wilder; aber die menschlichen Bande noch in Stärke, menschlicher Trieb und Kraft in Fülle – da konnte das Land werden, was Tacitus beschreibt. Und als dies nordische Meer von Völkern mit allen Wogen in Bewegung geriet, Wogen drängten Wogen, Völker andre Völker! Mauer und Damm um Rom war zerrissen: sie selbst hatten ihnen die Lücken gezeigt und sie herbeigelockt, daran zu flicken – endlich da alles brach, welche Überschwemmung des Süds durch den Nord! und nach allen Umwälzungen und Abscheulichkeiten welche neue nordsüdliche Welt!

Wer den Zustand der römischen Länder (und sie waren damals das gebildete Universum!) in den letzten Jahrhunderten bemerket, wird diesen Weg der Vorsehung, einen so sonderbaren Ersatz menschlicher Kräfte zu bereiten, anstaunen und bewundern. Alles war erschöpft, entnervt, zerrüttet: von Menschen verlassen, von entnervten Menschen bewohnt, in Üppigkeit, Lastern, Unordnungen, Freiheit und wildem Kriegesstolz untersinkend. Die schönen römischen Gesetze und Kenntnisse konnten nicht Kräfte ersetzen, die verschwunden waren, Nerven wiederherstellen, die keinen Lebensgeist fühlten, Triebfedern regen, die dalagen[322] – also Tod! ein abgematteter, im Blute liegender Leichnam – da ward in Norden neuer Mensch geboren. Unter frischem Himmel, in der Wüste und Wilde, wo es niemand vermutete, reifte ein Frühling starker, nahrhafter Gewächse, die, in die schönern, südlichern Länder – jetzt traurigleere Äcker! – verpflanzt, neue Natur annehmen, große Ernte fürs Weltschicksal geben sollten! Goten, Vandalen, Burgunden, Anglen, Hunnen, Herulen, Franken und Bulgaren, Sklaven und Longobarden kamen – setzten sich, und die ganze neuere Welt vom Mittelländischen zum Schwarzen, vom Atlantischen zum Nordmeer ist ihr Werk! ihr Geschlecht! ihre Verfassung!

Nicht bloß Menschenkräfte, auch welche Gesetze und Einrichtungen brachten sie damit auf den Schauplatz der Bildung der Welt! Freilich verachteten sie Künste und Wissenschaften, Üppigkeit und Feinheit – die die Menschheit verheeret hatten; aber wenn sie statt der Künste Natur, statt der Wissenschaften gesunden nordischen Verstand, statt der feinen starke und gute, obgleich wilde Sitten brachten und das alles nun zusammen gärte – welch ein Eräugnis! Ihre Gesetze, wie atmen sie männlichen Mut, Gefühl der Ehre, Zutrauen auf Verstand, Redlichkeit und Götterverehrung! Ihre Feudaleinrichtung, wie untergrub sie das Gewühl volkreicher, üppiger Städte, baute das Land, beschäftigte Hände und Menschen, machte gesunde und eben damit auch vergnügte Leute. Ihr späteres Ideal über die Bedürfnisse hinaus – es ging auf Keuschheit und Ehre, veredelte den besten Teil der menschlichen Neigungen: obgleich Roman, so doch ein hoher Roman: eine wahre neue Blüte der menschlichen Seele.

Bedenke man z.B., was die Menschheit in den Jahrhunderten dieser Gärung für Erholungsfrist und Kräfteübung dadurch bekam, daß alles in kleine Verbindungen, Abteilungen und Untereinanderordnungen fiel und so viele, viele Glieder wurden! Da rieb sich immer eins am andern, und alles erhielt sich in Atem und Kräften. Zeit der Gärung, aber eben diese hielt so lange den Despotismus ab (der wahre Rachen der Menschheit, der alles – wie er's nennt, in Ruhe und Gehorsam – aber wie's ist, in Tod und einförmige Zermalmung hinabschlingt!). Ist's nun besser, ist's für die Menschheit gesunder und tüchtiger, lauter leblose Räder einer großen, hölzernen, gedankenlosen Maschine hervorzubringen, oder Kräfte zu wecken und zu regen? Sollt's auch durch sogenannte unvollkommene Verfassungen, Unordnung, barbarischen Ehrenpunkt, wilde Händelsucht und dergleichen sein –[323] wenn's Zweck erreicht, immer besser als lebend tot sein und modern.

Indes hatte die Vorsehung für gut befunden, zu dieser neuen Gärung nordsüdlicher Säfte noch ein neues Ferment zu bereiten und zuzumischen – die christliche Religion. Ich darf doch bei unserm christlichen Jahrhunderte nicht erst um Verzeihung bitten, daß ich von ihr als einer Triebfeder der Welt rede-betrachte sie ja nur als Ferment, als Sauerteig, zu Gutem oder zu Bösem – wozu man noch will.

Und da verdient der Punkt, von zween Seiten mißverstanden, einige Erörterung.

Die Religion der alten Welt, die aus Morgenlande über Ägypten nach Griechenland und Italien gekommen, war in allem Betracht ein verduftetes, kraftloses Ding geworden, das wahre Caput mortuum dessen, was sie gewesen war und sein sollte. Wenn man nur die spätere Mythologie der Griechen und die Puppe von politischer Völkerreligion bei den Römern betrachtet: so braucht's keines Worts mehr. – – Und doch war nun auch fast »kein ander Principium der Tugend« in der Welt! Die römische Aufopferung fürs Vaterland war von ihrer Höhe gesunken und lag im Moraste der Schwelgerei und kriegerischer Unmenschlichkeit. Griechische Jugendehre und Freiheitliebe – wo war sie? Und der alte ägyptische Geist, wo war er, als Griechen und Römer in ihrem Lande nisteten? Woher nun Ersatz? Philosophie konnte ihn nicht geben: sie war das ausgeartetste Sophistenzeug, Disputierkunst, Trödelkram von Meinungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaschine ohne Würkung aufs menschliche Herz, geschweige denn der Würkung, ein verfallen Jahrhundert, eine verfallene Welt zu bessern! Und nun sollte Aufbau der Trümmern von Völkern geschehen, die in ihrem Zustande noch Religion nötig hatten, durch sie allein gelenkt werden konnten, Geist des Aberglaubens in alles mischten. – – Und doch fanden nun diese Völker auf ihrem neuen Schauplatze nichts, als was sie verachteten oder nicht fassen konnten: römische Mythologie und Philosophie wie Bildsäulen und Sittengestalten – und ihre nordische Religion, ein Rest des Orients, auf nordische Art gebildet, langte nicht hin – hatten eine frischere, würksamere Religion nötig – siehe da! hatte die Vorsehung sie kurz vorher an einem Orte entstehen lassen, woher man einen Ersatz der ganzen westlichen Welt am wenigsten hoffte. Zwischen den nackten Bergen Judäas! kurz vor dem Umsturz des ganzen unberühmten[324] Volkes, eben in der letzten, elendsten Epoche desselben – auf eine Weise, die allemal wunderbar bleiben wird, entstand sie, erhielt sich, schlug sich ebenso sonderbar durch Klüfte und Höhlen weiten Weg hindurch – auf einen Schauplatz, der sie so nötig hatte! worauf sie so viel, viel gewürkt! – Allemal die sonderbarste Begebenheit der Welt!

Da war's doch nun gewiß ein großes und sehenswürdiges Schauspiel, wie unter Julian die beiden berühmtesten Religionen, die älteste heidnische und die neuere christliche, um nichts weniger als Herrschaft der Welt stritten. Religion – das sahe er und jedermann! –, Religion in aller Stärke des Worts war seinem verfallnen Jahrhunderte unentbehrlich. Griechische Mythologie und römische Staatszerimonie – das sahe er ebenfalls! – war dem Jahrhunderte zu seinen Zwecken nicht zureichend. Er griff also zu allem, wozu er konnte; zur kräftigsten und ältesten Religion, die er kannte, zur Religion des Morgenlandes – regte in ihr alle Wunderkräfte, Zaubereien und Erscheinungen auf, daß sie ganz Theurgie ward; nahm soviel er konnte, Philosophie, Pythagorism und Platonism zu Hülfe, um allem den feinsten Anstrich der Vernunft zu geben – setzte alles auf den Triumphwagen des größten Gepränges, von den zwei unbändigsten Tieren, Gewalt und Schwärmerei gezogen, von der feinsten Staatskunst gelenkt – alles umsonst! sie erlag! sie war verlebt – elender Aufputz eines toten Leichnams, der nur zu andrer Zeit hatte Wunder tun können: die nackte, neue christliche Religion siegte!

Man siehet, daß die Sache ein Fremdling betrachtet, der Muselman und Mameluke sein könnte, um ebendas zu schreiben. So fahre ich fort.

Dieselbe nun so sonderbar entstandne Religion sollte doch, das ist unleugbar, nach dem Sinne des Urhebers (ich sage nicht, ob sie's in der Anwendung jedes Zeitalters geworden), sie sollte eigentliche Religion der Menschheit, Trieb der Liebe und Band aller Nationen zu einem Bruderheere werden – ihr Zweck von Anfang zu Ende! Ebenso gewiß ist's, daß sie (ihre Bekenner mögen späterhin aus ihr gemacht haben, was sie wollten), daß sie die erste gewesen, die so reine geistige Wahrheiten und so Herzliche Pflichten so ganz ohne Hülle und Aberglauben, ohne Schmuck und Zwang geleert: die das menschliche Herz so allein, so allgemein, so ganz und ohne Ausnahme hat verbessern wollen. Alle vorigen Religionen der besten Zeiten und Völker waren doch nur enge national, voll Bilder und Verkleidungen, voll Zerimonien und Nationalgebräuche,[325] an denen immer die wesentlichen Pflichten nur hingen und hinzugefügt waren, kurz Religionen eines Volks, eines Erdstrichs, eines Gesetzgebers, einer Zeit! – diese offenbar in allem das Gegenteil, die lauterste Philosophie der Sittenlehre, die reinste Theorie der Wahrheiten und Pflichten, von allen Gesetzen und kleinen Landverfassungen unabhängig, kurz, wenn man will, der menschenliebendste Deismus

Und sonach gewiß Religion des Weltalls. Es haben's andre und selbst ihre Feinde bewiesen, daß eine solche Religion gewiß nicht zu anderer Zeit, früher oder später hätte aufkeimen oder aufkommen oder sich einstehlen können – man nenne es, wie man wolle. Das menschliche Geschlecht mußte zu dem Deismus soviel Jahrtausende bereitet, aus Kindheit, Barbarei, Abgötterei und Sinnlichkeit allmählich her vorgezogen, seine Seelenkräfte durch so viel Nationalbildungen, orientalische, ägyptische, griechische, römische usw. als durch Stufen und Zugänge entwickelt sein, ehe selbst die mindsten Anfänge nur zu Anschauung, Begriff und Zugestehung des Ideals von Religion und Pflicht und Völkerverbindung gemacht werden konnten. Auch als Werkzeug allein betrachtet, schien's, daß der römische Eroberungsgeist vorhergehen mußte, überall Wege zu bahnen, einen politischen Zusammenhang zwischen Völkern zu machen, der voraus unerhört war, auf ebendem Wege Toleranz, Ideen vom Völkerrechte in Gang zu bringen, in dem Umfange voraus unerhört! – Der Horizont ward so erweitert, so aufgeklärt, und da sich nun zehn neue Nationen der Erde auf diesen hellen Horizont stürzten, ganz andre neue Empfänglichkeiten eben für die Religion mitbrachten, sie bedurften, sie allesamt in ihr Wesen verschmelzten – Ferment! wie sonderbar bist du bereitet! und alles auf dich zubereitet! und tief und weitumher eingemischet! hat lang und stark getrieben und gegäret – was wird es noch ausgären?

Ebendas also, worüber man meistens so witzig und philosophisch spottet, »wo denn dieser Sauerteig, christliche Religion genannt, rein gewesen? wo er nicht mit Teige eigner, der verschiedensten und oft der abscheulichsten Denkart vermischt worden?«, ebendas dünkt mich offenbare Natur der Sache. War diese Religion, wie sie's würklich ist, der feine Geist, »ein Deismus der Menschenfreundschaft«, der sich in kein einzeln bürgerlich Gesetz mischen sollte; war's jene Philosophie des Himmels, die eben ihrer Höhe und unirdischer Lauterkeit wegen ganze Erde umfassen konnte: mich dünkt, so war's schlechterdings unmöglich, daß [326] der feine Duft sein, angewandt werden konnte, ohne mit irdischern Materien vermischt zu werden und sie gleichsam zum Vehikulum zu bedürfen. Das war nun natürlich die Denkart jedes Volks, seine Sitten und Gesetze, Neigungen und Fähigkeiten – kalt oder warm, gut oder böse, barbarisch oder gebildet – alles, wie es war. Die christliche Religion konnte und sollte nur durch alles dringen, und wer sich überhaupt von göttlichen Veranstaltungen in der Welt und im Menschenreich anders als durch welt- und menschliche Triebfedern Begriffe macht, ist wahrhaftig mehr zu utopisch-dichterischen als zu philosophisch-natürlichen Abstraktionen geschaffen. Wenn hat in der ganzen Analogie der Natur die Gottheit anders als durch Natur gehandelt? und ist darum keine Gottheit, oder ist's nicht eben Gottheit, die so allergossen, einförmig und unsichtbar durch alle ihre Werke würkt? – Auf einem menschlichen Schauplatze laß alle menschliche Leidenschaften spielen! in jedem Zeitalter sie dem Alter gemäß spielen! so in jedem Weltteile, in jeder Nation! die Religion soll nichts als Zwecke durch Menschen und für Menschen bewürken – Sauerteig oder Schatz: jeder trägt ihn in seinem Gefäße, mischt ihn zu seinem Teige! und je feiner der Duft ist, je mehr er an sich verflöge, desto mehr muß er zum Gebrauch vermischt werden. Ich sehe in der Gegenmeinung keinen menschlichen Sinn.

Und so war nun auch, bloß physisch und in menschlichem Sinne zu reden, eben die Zumischung der christlichen Religion die gewählteste, die man sich fast denken kann. Sie nahm sich bei der täglich überhandnehmenden Not der Armen an, daß selbst Julian ihr dies einschmeichelnde Verdienst nicht ableugnen konnte. Sie ward in noch spätern Zeiten der Verwirrung einziger Trost und Zuflucht gegen die allgemeine Bedrängnis (ich rede nicht, wie die Geistlichen das immer gebrauchet!), ja, seit die Barbaren selbst Christen waren, wurde sie allmählich würkliche Ordnung und Sicherheit der Welt. Da sie die reißende Löwen zähmte und überwand die Überwinder – welch ein bequemer Teig, um tief einzudringen, weit und ewig zu würken! Die kleinen Verfassungen, wo sie alles umschlingen konnte; die weit abgesonderten Stände, wo sie gleichsam allgemeiner Zwischenstand ward; die großen Lücken der bloß kriegerischen Lehnsverfasung, wo sie an Wissenschaften, Rechtspflege und Einfluß auf die Denkart alles ausfüllte, überall unentbehrlich und gleichsam Seele zu Jahrhunderten wurde, deren Leib nichts als kriegerischer Geist und sklavischer Ackerbau war – konnte eine andre Seele als Andacht die Glieder binden, den[327] Körper beleben? War im Rate des Schicksals der Körper beschlossen: welche Torheit, außer dem Geiste der Zeit über seinen Geist zu wähnen! Es war, dünkt mich, einiges Mittel der Progression!

Wem ist's nicht erschienen, wie in jedem Jahrhunderte das sogenannte »Christentum« völlig Gestalt oder Analogie der Verfassung hatte, mit oder in der es existierte! wie ebenderselbe gotische Geist auch in das Innere und Äußere der Kirche eindrang, Kleider und Zerimonien, Lehren und Tempel formte, den Bischofstab zum Schwert schärfte, da alles Schwert trug, und geistliche Pfründen, Lehne und Sklaven schuf, weil's überall nur solche gab. Man denke sich von Jahrhunderte zu Jahrhunderte jene ungeheuren Anstalten von geistlichen Ehrenämtern, Klöstern, Mönchsorden, endlich später gar Kreuzzügen und der offenbaren Herrschaft der Welt – ungeheures gotisches Gebäude! überladen, drückend, finster, geschmacklos – die Erde scheint unter ihm zu sinken – aber wie groß! reich! überdacht! mächtig! – ich rede von einem historischen Eräugnisse! Wunder des menschlichen Geists und gewiß der Vorsehung Werkzeug.

Wenn mit seinen Gärungen und Reibungen der gotische Körper überhaupt Kräfte regte: gewiß trug der Geist, der ihn belebte und band, das Seine bei. Wenn durch jenen eine Mischung von hohen Begriffen und Neigungen in Europa ausgebreitet wurde, in der Mischung und in dem Umfange noch nie gewürkt; allerdings war auch sie darinne webend. Und ohne mich hier auf die verschiednen Perioden des Geists der mittlern Zeiten einlassen zu können; wir wollen's gotischen Geist, nordisches Rittertum im weitsten Verstande nennen – großes Phänomenon so vieler Jahrhunderte, Länder und Situationen.

Gewissermaßen noch immer »Inbegriff alle der Neigungen, die voraus einzelne Völker und Zeitläufte entwickelt hatten«: sie lassen sich sogar in sie auflösen, aber das würksame Element, das alle band und zu einer lebendigen Kreatur Gottes machte, ist in jedem einzeln nicht mehr dasselbe. Väterliche Neigungen und heilige Verehrung des weiblichen Geschlechts; unauslöschliche Freiheitliebe und Despotismus; Religion und kriegerischer Geist; pünktliche Ordnung und Feierlichkeit und sonderbarer Hang zur Aventiure – das floß zusammen! Orientalische, römische, nordische, sarazenische Begriffe und Neigungen! man weiß, wenn, wo und in welchem Maße sie jetzt und dort zusammengeflossen sind und sich modifiziert haben. – Der Geist des Jahrhunderts durchwebte und band die[328] verschiedensten Eigenschaften – Tapferkeit und Möncherei, Abenteuer und Galanterie, Tyrannei und Edelmut; band's zu dem Ganzen, das uns jetzt – zwischen Römern und uns – als Gespenst, als romantisches Abenteuer dasteht; einst war's Natur, war – Wahrheit.

Man hat diesen Geist »der nordischen Ritterehre« mit den heroischen Zeiten der Griechen verglichen11 – und freilich Punkte der Vergleichung gefunden – Aber an sich bleibt er in der Reihe aller Jahrhunderte, dünkt mich, einzig! – nur sich selbst gleich! Man hat ihn, weil er zwischen Römern und uns – quanti viri! – uns! steht, so schrecklich verspottet; andre von etwas abenteuerlichem Gehirne haben ihn so hoch über alles erhoben – mich dünkt, er ist nichts mehr und minder als »einzelner Zustand der Welt!« keinem der vorigen zu vergleichen, wie sie mit Vorzügen und Nachteilen: auf sie gegründet, selbst in ewiger Veränderung und Fortstrebung – ins Große.

Die dunkeln Seiten dieses Zeitraums stehn in allen Büchern: jeder klassische Schöndenker, der die Polizierung unsres Jahrhunderts fürs non plus ultra der Menschheit hält, hat Gelegenheit, ganze Jahrhunderte auf Barbarei, elendes Staatsrecht, Aberglauben und Dummheit, Mangel der Sitten und Abgeschmacktheit – in Schulen, in Landsitzen, in Tempeln, in Klöstern, in Rathäusern, in Handwerkszünften, in Hütten und Häusern zu schmälen und über das Licht unsres Jahrhunderts, das ist, über seinen Leichtsinn und Ausgelassenheit, über seine Wärme in Ideen und Kälte in Handlungen, über seine scheinbare Stärke und Freiheit und über seine würkliche Todesschwäche und Ermattung unter Unglauben, Despotismus und Üppigkeit zu lobjauchzen. Davon sind alle Bücher unsrer Voltaire und Hume, Robertsons und Iselins voll, und es wird ein so schön Gemälde, wie sie die Aufklärung und Verbesserung der Welt aus den trüben Zeiten des Deismus und Despotismus der Seelen d.i. zu Philosophie und Ruhe herleiten – daß dabei jedem Liebhaber seiner Zeit das Herz lacht.

Alle das ist wahr und nicht wahr. Wahr, wenn man, wie ein Kind, Farbe gegen Farbe hält und ja ein helles, lichtes Bildchen haben will – in unserm Jahrhundert ist leider! soviel Licht! –, Unwahrheit, wenn man die damalige Zeit in ihrem Wesen und Zwecken, Genuß und Sitten, insonderheit als Werkzeug im Zeitlaufe betrachtet. Da lag in diesen dem Scheine nach gewaltsamen Auftritten und Verbindungen oft ein Festes, Bindendes, Edles[329] und Großherrliches, das wir mit unsern gottlob! feinen Sitten, aufgelösten Zünften und dafür gebundnen Ländern und angeborner Klugheit und Völkerliebe bis ans Ende der Erde, fürwahr weder fühlen noch kaum mehr fühlen können. Siehe, du spottest über die damalige Knechtschaft, über die rohen Landsitze des Adels, über die vielen kleinen Inseln und Unterabteilungen und was davon abhing – preisest nichts so sehr als die Auflösung dieser Bande und weißt kein größeres Gut, was je der Menschheit geschehen, als da Europa und mit ihm die Welt frei wurde. Frei wurde? süßer Träumer! wenn's nur das, und das nur wahr wäre! Aber nun siehe auch, wie durch den Zustand in jenen Zeiten Dinge ausgerichtet wurden, über die sonst alle menschliche Klugheit hatte verblöden müssen: Europa bevölkert und gebauet: Geschlechter und Familien, Herr und Knecht, König und Untertan drang stärker und näher aneinander: die sogenannten rohen Landsitze hinderten das üppige ungesunde Zunehmen der Städte, dieser Abgründe für die Lebenskräfte der Menschheit: der Mangel des Handels und der Feinheit verhinderte Ausgelassenheit und erhielt simple Menschheit – Keuschheit und Fruchtbarkeit in Ehen, Armut und Fleiß und Zusammendrang in Häusern. Die rohen Zünfte und Freiherrlichkeiten machten Ritter- und Handwerksstolz, aber zugleich Zutrauen auf sich, Festigkeit in seinem Kreise, Mannheit auf seinem Mittelpunkte, wehrte der ärgsten Plage der Menschheit, dem Land-und Seelenjoche, unter das offenbar, seitdem alle Inseln aufgelöst sind, alles mit froh und freiem Mute sinkt. Da konnten in etwas spätern Zeiten denn soviel kriegerische Republiken und wehrhafte Städte wer den! erst waren die Kräfte gepflanzt, genährt und durch Reiben erzogen, von denen im traurigen Reste ihr noch jetzo lebt. Hätte euch der Himmel die barbarischen Zeiten nicht vorhergesandt und sie so lange unter so mancherlei Würfen und Stößen erhalten – armes, poliziertes Europa, das seine Kinder frißt oder relegieret, wie wärest du mit alle deiner Weisheit – Wüste!

»Daß es jemanden in der Welt unbegreiflich wäre, wie Licht die Menschen nicht nährt! Ruhe und Üppigkeit und sogenannte Gedankenfreiheit nie allgemeine Glückseligkeit und Bestimmung sein kann!« Aber Empfindung, Bewegung, Handlung – wenn auch in der Folge ohne Zweck (was hat auf der Bühne der Menschheit ewigen Zweck?), wenn auch mit Stößen und Revolutionen, wenn auch mit Empfindungen, die hie und da schwärmerisch, gewaltsam, gar abscheulich werden – als Werkzeug in den Händen[330] des Zeitlaufs, welche Macht! welche Würkung! Herz und nicht Kopf genährt! mit Neigungen und Trieben alles gebunden; nicht mit kränkelnden Gedanken! Andacht und Ritterehre, Liebeskühnheit und Bürgerstärke – Staatsverfassung und Gesetzgebung, Religion. – Ich will nichts weniger als die ewigen Völkerzüge und Verwüstungen, Vasallenkriege und Befehdungen, Mönchsheere, Wallfahrten, Kreuzzüge verteidigen: nur erklären möchte ich sie: wie in allem doch Geist hauchet! Gärung menschlicher Kräfte. Große Kur der ganzen Gattung durch gewaltsame Bewegung, und wenn ich so kühn reden darf, das Schicksal zog (allerdings mit großem Getöse und ohne daß die Gewichte da ruhig hangen konnten) die große abgelaufne Uhr auf! da rasselten also die Räder!

Wie anders sehe ich die Zeiten in dem Lichte! wie viel ihnen zu vergeben, da ich sie selbst ja immer im Kampfe gegen Mängel, im Ringen zur Verbesserung, und sie wahrhaftig mehr als eine andere, sehe! wieviel Lästerungen geradezu falsch und übertrieben, da ihr Mißbrauche entweder angedichtet werden aus fremden Hirn oder die damals weit milder und unvermeidlicher waren, sich mit einem gegenseitigen Guten kompensierten, oder die wir schon jetzt offenbar als Werkzeuge zu großem Guten in der Zukunft, woran sie selbst nicht dachten, wahrnehmen. Wer liest diese Geschichte und ruft nicht oft: Neigungen und Tugenden der Ehre und Freiheit, der Liebe und Tapferkeit, der Höflichkeit und des Worts, wo seid ihr geblieben! eure Tiefe verschlämmet! eure Feste weicher Sandboden voll Silberkörner, wo nichts wächst! Wie es auch sei, gebt uns in manchem Betracht eure Andacht und Aberglauben Finsternis und Unwissenheit, Unordnung und Rohigkeit der Sitten, und nehmt unser Licht und Unglauben, unsre entnervte Kälte und Feinheit, unsre philosophische Abgespanntheit und menschliches Elend! – Übrigens aber freilich muß Berg und Tal grenzen, und das dunkle feste Gewölbe konnte – nichts anders sein als dunkles festes Gewölbe – gotisch!

Riesenschritt im Gange des menschlichen Schicksals! Nähmen wir's bloß, daß Verderbnisse vorhergehen, um Verbesserung Ordnung hervorzubringen – ein großer Schritt! Um das Licht zu geben, war so großer Schatte nötig: der Knote mußte so fest zugezogen werden, damit nachher die Entwicklung erfolge mußte es nicht gären, um den hefenlosen, reinen göttlichen Trank zu geben? – mich dünkt, das folgte unmittelbar aus »der Lieblingsphilosophie« des Jahrhunderts. Da könnt ihr ja herrlich beweisen,[331] wie soviel Ecken erst haben müssen gewaltig abgerieben werden, ehe das runde, glatte, artige Ding erscheinen konnte, was wir sind! wie in der Kirche soviel Greuel, Irrtümer, Abgeschmacktheiten und Lästerungen vorhergehen, alle die Jahrhunderte nach Verbesserung ringen, schreien und streben mußten, ehe eure Reformation oder lichte, hellglänzende Deismus entstehen konnte. Die üble Staatskunst mußte das Rad all ihrer Übel und Abscheulichkeiten durchlaufen, eh unsre »Staatskunst« im ganzen Umfange des Worts, erscheinen durfte wie die Morgensonne aus Nacht und Nebel. – Noch immer also schönes Gemälde, Ordnung und Fortgang der Natur, und du glänzender Philosoph ja allem auf den Schultern!

Aber kein Ding im ganzen Reiche Gottes, kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel – alles Mittel und Zweck zugleich, und so gewiß auch diese Jahrhunderte. War die Blüte des Zeitgeistes, »der Rittersinn«, an sich schon ein Produkt der ganzen Vergangenheit in gediegenen Form des Nordlands: war die Mischung von Begriffen der Ehre und der Liebe und der Treue und Andacht und Tapferkeit und Keuschheit, die jetzt Ideal war, voraus unerhört gewesen; siehe damit, gegen die alte Welt gehalten, da die Stärke jedes einzelnen Nationalcharakters verlorengangen war, siehe eben in dieser Mischung Ersatz und Fortgang ins Große. Von Orient bis Rom war's Stamm: jetzt gingen aus dem Stamme Äste und Zweige; keiner an sich stammfest, aber ausgebreiteter, luftiger, höher! Bei aller Barbarei waren die Kenntnisse, die man scholastisch behandelte, feiner und höher: die Empfindungen, die man barbarisch und pfaffenmäßig anwandte, abstrahierter und höher: aus beiden flossen die Sitten, das Bild jener. Von solcher Religion, so elend sie immer aussah, hatte doch kaum ein Zeitalter vorher gewußt: selbst das Feinere der türkischen Religion, was unsre Deisten ihr so hoch anrechnen, war nur »durch die christliche Religion« entstanden, und selbst die elendsten Spitzfündigkeiten der Möncherei, die romanhaftesten Phantastereien zeigen, daß Feinheit und Gewandtheit gnug in der Welt war, dergleichen auszudenken, zu fassen: daß man würklich scharf anfing, in so feinem Elemente zu atmen. Papsttum hätte doch nie in Griechenland und dem alten Rom existieren können, nicht bloß aus den Ursachen, die man gewöhnlich ansieht, sondern würklich auch der uralten Simplizität wegen, weil zu dergleichen raffinierten System noch kein Sinn, kein Raum war: und Papsttum des alten Ägyptens war wenigstens gewiß eine weit gröbere[332] und plumpere Maschine. Solche Regierungsformen, bei allem gotischen Geschmacke hatten sie doch kaum vorher noch existiert; mit der Idee von barbarischer Ordnung vom Element herauf bis zum Gipfel, mit den immer veränderten Versuchen, alles zu binden, daß es doch nicht gebunden wäre. – Der Zufall oder vielmehr roh und frei würkende Kraft erschöpfte sich in kleinen Formen der großen Form, wie sie ein Politiker kaum hätte ausdenken können: Chaos, wo alles nach neuer höherer Schöpfung strebte, ohne zu wissen wie? und welcher Gestalt? – Die Werke des Geistes und des Genies aus diesen Zeiten sind gleicher Art, ganz des zusammengesetzten Duftes aller Zeiten voll: zu voll von Schönheiten, von Feinheiten, von Erfindung, von Ordnung, als daß es Schönheit, Ordnung, Erfindung bleibe – sind wie die gotischen Gebäude! Und wenn sich der Geist bis auf die kleinsten Einrichtungen und Gebräuche erstreckt – ist's unrecht, wenn in diesen Jahrhunderten noch immer Krone des alten Stamms erschiene! (nicht Stamm mehr, das sollt's und konnt's nicht sein, aber Krone!). Eben das Nicht-Eine, das Verwirrte, der reiche Überfluß von Ästen und Zweigen, das macht seine Natur! da hangen die Blüten von Rittergeist, da werden, wenn der Sturm die Blätter abtreibt, einst die schönern Früchte hangen.

So viele Brüdernationen und keine Monarchie auf der Erde! – Jedweder Ast von hier gewissermaße ein Ganzes – und trieb seine Zweige! alle trieben nebeneinander, flochten, worren sich, jedes mit seinem Safte. – Diese Vielheit von Königreichen! dies Nebeneinandersein von Brudergemeinden; alle von einem deutschen Geschlechte, alle nach einem Ideal der Verfassung, alle im Glauben einer Religion, jedes mit sich selbst und seinen Gliedern kämpfend und von einem heiligen Winde, dem päpstlichen Ansehen, fast unsichtbar, aber sehr durchdringend getrieben und beweget – wie ist der Baum erschüttert! auf Kreuzzügen und Völkerbekehrungen, wohin hat er nicht Äste, Blüte und Zweige geworfen! – Wenn die Römer bei ihrer Unterjochung der Erde den Völkern, nicht auf dem besten Wege, zu einer Gattung »von Völkerrecht und allgemeiner Römererkennung« hatten helfen müssen: das Papsttum mit alle seiner Gewaltsamkeit ward in der Hand des Schicksals Maschine zu einer »noch höhern Verbindung, zur allgemeinen Erkennung sein sollender Christen! Brüder! Menschen!« Das Lied stieg durch Mißklänge und kreischende Stimmungen gewiß in höhern Ton: gewisse mehrere gesammlete, abstrahierte, gegärte Ideen, Neigungen und Zustände breiteten sich über[333] die Welt hin – wie schoß der eine alte simple Stamm des Menschengeschlechts in Äste und Zweige!


Endlich folgte, wie wir sagen, die Auflösung, die Entwickelung: lange ewige Nacht klärte sich in Morgen auf: es ward Reformation, Wiedergeburt der Künste, Wissenschaften, Sitten! – Die Hefen sanken; und es ward – unser Denken! Kultur! Philosophie! on commençoit à penser comme nous pensons aujourd'hui: on n'étoit plus barbare.

Keinen Zeitpunkt der Entwickelung des menschlichen Geistes hat man schöner beschrieben als diesen! Da alle unsre Geschichten, Discours préliminaires zur Enzyklopädie alles menschlichen Wesens und Philosophien darauf weisen12 und von Ost und West, von Anbeginn und gestern alle Fäden, die gezogen sind oder wie Herbstspinneweben im Kopfe flattern, darauf als auf den höchsten Gipfel menschlicher Bildung zu ziehen wissen: und da das System nun schon so glänzend, berühmt, lieblich angenommen und vollkommen ausgemacht ist: so wage ich nichts hinzuzusetzen – ich lege bloß einige kleine Anmerkungen neben an.

Zuerst muß ich zum überhohen Ruhm des menschlichen Verstandes13 sagen, daß immer weniger er, wenn ich so sagen darf, als ein blindes Schicksal, was die Dinge warf und lenkte, an dieser allgemeinen Weltveränderung würkte. Entweder waren's so große, gleichsam hingeworfene Begebenheiten, die über alle menschliche Kräfte und Aussichten gingen, denen sich die Menschen meistens wiedersetzten, wo niemand die Folge, als überlegten Plan, träumte; oder – es waren kleine Zufälle, mehr Funde als Erfindungen, Anwendungen einer Sache, die man lange gehabt und nicht gesehen, nicht gebraucht hatte – oder gar nichts als simple Mechanik, neuer Kunstgriff, Handwerk, das die Welt änderte – Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, wenn das ist, wo bleibt eure Abgötterei gegen den menschlichen Geist?

Wer legte hier Venedig an diesem Platze, unter dem tiefsten Bedrängnis der Not an? und wer überdachte, was dies Venedig, allein an diesem Platze, ein Jahrtausend hindurch, allen Völkern der Erde sein konnte und sollte? Der diesen Sund von Inseln in den Morast warf, der diese wenigen Fischer dahin[334] leitete, war derselbe, der das Samenkorn fallen läßt, das zu der Zeit und an dem Orte eine Eiche werde; der die Hütte an die Tiber pflanzte, daß Rom, das ewige Haupt der Welt, daraus würde. Ebenderselbe ist's, der jetzt Barbarn hinzuführt, daß sie die Literatur der ganzen Welt, die Bibliothek zu Alexandrien (gleichsam ein versinkendes Weltteil!) vernichtigen, jetzt ebendieselbe hinzuführt, daß sie einen kleinen Rest Literatur erbetteln, erhalten und auf einer ganz andern Seite, auf Wegen, die niemand geträumt oder gewünscht hatte, nach Europa bringen sollten. Ebenderselbe, der jetzt durch sie an einer andern Seite eine Kaiserstadt zerstören läßt, daß die Wissenschaften, die da niemand suchte und die da so lange müßig waren, nach Europa fliehen – Alles ist großes Schicksal! von Menschen unüberdacht, ungehofft, unbewürkt – siehst du Ameise nicht, daß du auf dem großen Rade des Verhängnisses nur kriechest?

Wenn wir in die Umstände des Ursprungs aller sogenannten Welterleuchtungen näher eindringen: die nämliche Sache. Dort im Großen, hier im Kleinen Zufall, Schicksal, Gottheit! Was jede Reformation anfing, waren Kleinigkeiten; die nie sogleich den großen ungeheuren Plan hatten, den sie nachher gewannen; sooft es gegenteils vorher der große, würklich überlegte, menschliche Plan gewesen war: so oft mißlang er. Alle eure große Kirchenversammlungen, ihr Kaiser! Könige! Kardinäle und Herren der Welt! werden nimmermehr nicht ändern, aber dieser unfeine, unwissende Mönch, Luther soll's ausrichten! Und das von Kleinigkeiten, wo er selbst nichts weniger als so weit denkt! durch Mittel, wo nach der Weise unsrer Zeit, philosophisch gesprochen, nie so was auszurichten war! meistens er selbst das wenigste ausrichtend, nur daß er andre anstieß, Reformatoren in allen andern Ländern weckte, er aufstand und sagte, »ich bewege mich! darum gibt's Bewegung!« Dadurch ward, was geworden ist – Veränderung der Welt! Wie oft waren solche Luthers früher aufgestanden und – untergegangen: der Mund ihnen mit Rauch und Flammen gestopft, oder ihr Wort fand noch keine freie Luft, wo es tönte – aber nun ist Frühling: die Erde öffnet sich, die Sonne brütet, und tausend neue Gewächse gehen hervor – Mensch, du warst nur immer, fast wider deinen Willen, ein kleines blindes Werkzeug.

»Warum ist nicht, ruft der sanfte Philosoph, jede solcher Reformationen lieber ohne Revolution geschehen? Man hätte den menschlichen Geist nur sollen seinen stillen Gang gehen lassen, statt[335] daß jetzt die Leidenschaften im Sturme des Handelns neue Vorurteile gebaren und man Böses mit Bösem verwechselte« – Antwort: weil so ein stiller Fortgang des menschlichen Geistes zur Verbesserung der Welt kaum etwas anders als Phantom unsrer Köpfe, nie Gang Gottes in der Natur ist. Dies Samenkorn fällt in die Erde! da liegt's und erstarrt; aber nun kommt Sonne, es zu wecken: da bricht's auf: die Gefäße schwellen mit Gewalt auseinander: es durchbricht den Boden – so Blüte, so Frucht – kaum die garstige Erdpilze wächst, wie du's träumest. Der Grund jeder Reformation war allemal eben solch ein kleines Samenkorn, fiel still in die Erde, kaum der Rede wert: die Menschen hatten's schon lange, besahen's und achteten's nicht – aber nun sollen dadurch Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geändert, neugeschaffen werden – ist das ohne Revolution, ohne Leidenschaft und Bewegung möglich? Was Luther sagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt sagte es Luther! Roger Baco, Galilei, Cartes, Leibniz, da sie erfanden, war's stille: es war Lichtstrahl – aber ihre Erfindungen sollten durchbrechen, Meinungen wegbringen, die Welt ändern – es ward Sturm und Flamme. Habe immer der Reformator auch Leidenschaften gehabt, die die Sache, die Wissenschaft selbst nicht foderte, die Einführung der Sache foderte sie, und eben daß er sie hatte, gnug hatte, um jetzt durch ein Nichts zu kommen, wozu ganze Jahrhunderte durch Anstalten, Maschinerien und Grübeleien nicht hatten kommen können – eben das ist Kreditiv seines Berufs!

»Meist nur simple mechanische Erfindungen, die man zum Teil längst gesehen, gehabt, damit gespielt, die aber jetzt, durch einen Einfall so und nicht anders angewandt, die Welt veränderten.« So z.B. die Anwendung des Glases zur Optik, des Magnets zum Kompasse, des Pulvers zum Kriege, der Buchdruckerkunst für die Wissenschaften, des Kalküls zu einer ganz neuen mathematischen Welt – und alles nahm andre Gestalt an. Man hatte das Werkzeug verändert, einen Platz außer der alten Welt gefunden, und so rückte man diese fort.

Geschütz erfunden: und siehe! die alte Tapferkeit der Theseus, Spartaner, Römer, Ritter und Riesen weg – der Krieg anders und wie viel anders mit diesem andern Kriege!

Buchdruckerei erfunden! und wie sehr die Welt der Wissenschaften geändert! erleichtert und ausgebreitet! licht und flach worden! Alles kann lesen, buchstabieren – alles, was lesen kann, wird gelehrt.[336]

Mit der kleinen Nadel auf dem Meer – wer kann die Revolutionen in allen Weltteilen zählen, die damit bewürkt sind. Länder gefunden, soviel größer als Europa! Küsten erobert voll Gold, Silber, Edelsteine, Gewürz und Tod! Menschen in Bergwerke, Sklavenmühlen und Lastersitten hineinbekehrt oder hinein kultiviert! Europa entvölkert, mit Krankheiten und Üppigkeit an seinen geheimsten Kräften verzehrt – wer kann zählen! wer beschreiben! Neue Sitten, Neigungen, Tugenden, Laster – wer kann zählen und beschreiben? Das Rad, in dem sich seit drei Jahrhunderten die Welt bewegt, ist unendlich – und woran hing's? was stieß es an? die Nadelspitze zwei oder drei mechanischer Gedanken!

II. Ebendaher muß folgen, daß ein großer Teil dieser sogenannten neuen Bildung selbst würkliche Mechanik sei; näher untersucht – wird diese, wie sehr neuerer Geist! Wenn meistens neue Methoden in jeder Art und Kunst die Welt veränderten – neue Methoden entübrigten Kräfte, die voraus nötig waren, sich aber jetzt (denn jede ungebrauchte Kraft schläft!) mit der Zeit verloren. Gewisse Tugenden der Wissenschaft, des Krieges, des bürgerlichen Lebens, der Schiffahrt, der Regierung – man brauchte sie nicht mehr: es ward Maschine, und die Maschine regiert nur einer. Mit einem Gedanken! mit einem Winke! – dafür schlafen auch wie viel Kräfte! Geschütz: erfunden, und damit welche Nerve roher körperlicher Kriegsstärke und Seelenkriegsstärke, Tapferkeit, Treue, Gegenwart in einzelnen Fällen, Ehregefühl der alten Welt ermattet! Das Heer ist eine gedingte, gedankenkraft-, willenlose Maschine geworden, die ein Mann in seinem Haupte lenkt und die er nur als Pantin der Bewegung, als eine lebendige Mauer bezahlt, Kugeln zu werfen und Kugeln aufzufangen. Im Grunde also, würde ein Römer und Spartaner vielleicht sagen, Tugenden im innersten Herde des Herzens weggebrannt, und verwelkt ein Kranz militärischer Ehre – und was ist an der Stelle? Der Soldat ist erster Lohndiener des Staats in Heldenlivrei – siehe seine Ehre und Beruf! Er ist – und mit leichter Mühe die Reste von einzelnen Existenzen gesprengt: die altgotische Freiheitstände: Eigentumsformen, das elende Gebäude in schlechtem Geschmack! in Grund geschossen und zerstört, wird in seinen kleinen Trümmern so dicht blockiert, daß Land, Einwohner, Bürger, Vaterland manchmal wohl etwas, aber Herr und Knecht, Despot und Livreiendiener jedes Amts, Berufs und Standes, vom Bauer bis zum Minister und vom Minister zum [337] Priester, alles ist. Heißt Landeshoheit! verfeinte Staatskunst! neue philosophische Regierungsart! – ist's auch würklich Fürstenhut und Krone der neuern Jahrhunderte! – Worauf sie ruhen; – wie's der berühmteste Sonnenadler auf allen Münzen zeigt – auf Trommeln, Fahnen, Kugeln und immerfertigen Soldatenmützen.

Der Geist der neuern Philosophie – daß er auf mehr als eine Art Mechanik sein müsse, zeigt, denke ich, der meiste Teil seiner Kinder. Bei Philosophie und Gelehrsamkeit oft wie unwissend und unkräftig in Sachen des Lebens und des gesunden Verstandes! Statt daß in den alten Zeiten der philosophische Geist nie für sich allein bestand, von Geschäften ausging und zu Geschäften eilte, also auch nur Zweck hatte, volle, gesunde, würkende Seelen zu schaffen, seit er allein stehet und Handwerk geworden – ist er Handwerk. Der wievielste Teil von euch betrachtet Logik, Metaphysik, Moral, Physik, als was sie sind – Organe der menschlichen Seele, Werkzeuge, mit denen man würken soll! Vorbilder von Gedankenformen, die nur unsrer Seele eine ihr eigne schönere Gedankenform geben sollen – dafür schlägt man mechanisch seine Gedanken dahin ein, spielt und gaukelt – der abenteuerlichste Bursche von Klopffechter! Er tanzt mit dem Degen auf dem akademischen Seile zur Bewundrung und Freude aller, die ringsum sitzen und dem großen Künstler jauchzen, daß er nicht Hals und Bein breche – das ist seine Kunst. Ein Geschäft auf der Welt, wollt ihr's übel besorgt haben, so gebt's dem Philosophen! Auf dem Papier wie rein! wie sanft! wie schön und groß; heillos im Ausführen! bei jedem Schritte staunend und starrend vor ungesehenen Hindernissen und Folgen. Das Kind indes war würklich großer Philosoph, konnte rechnen und mit Syllogismen, Figuren und Instrumenten geläufig, oft so glücklich spielen, daß neue Syllogismen, Resultate und sogenannte Entdeckungen herauskamen – die Frucht, die Ehre, der Gipfel des menschlichen Geistes! – durch mechanisches Spiel!

Das war die schwerere Philosophie – und nun die leichte, die schöne! Gottlob! was ist mechanischer als diese. In Wissenschaften, Künsten, Gewohnheiten, Lebensart, wo sie hineingedrungen, wo sie Saft und Blüte des Jahrhunderts ist, was mechanischer als sie? Eben das alte Herkommen, das sinnlose Vorurteil von Lernen, Langsamreifen, Tiefeindringen und Spätbeurteilen hat sie ja wie ein Joch vom Halse geworfen! hat in unsre Gerichtsschranken, statt kleiner, staubichter, detaillierter Kenntnisse, wo jeder Vorfall als der behandelt und untersucht werden soll, der er ist[338] hat darin welch schönes, leichtes, freies Urteil gebracht, nach zwei Vorfällen alles zu messen und abzutun! über das Individuelle, worin allein Species facti besteht, hinüber sich am hellen, vortrefflichen Allgemeinen zu halten – statt Richter – (Blüte des Jahrhunderts!) – Philosoph zu sein: hat in unsre Staatswirtschaft und Regierungskunde statt mühsam erlangter Kenntnisse von Bedürfnissen und wahrer Beschaffenheit des Landes welchen Adlersblick! welche Ansicht des Ganzen gebracht, wie auf einer Landkarte und philosophischen Tabelle! Grundsätze durch den Mund Montesquieus entwickelt, aus und nach welchen hundert verschiedene Völker und Erdstriche aus dem Stegreif nach dem Einmaleins der Politik in zwei Augenblicken berechnet werden. – So alle schöne Künste, Handwerke und beinahe die kleinsten Tagelöhnereien – wer braucht in ihrer Tiefe mühsam wie in einem Gewölbkeller umherzuklettern, zu arbeiten? Man räsoniert! Wörterbücher und Philosophien über alle, ohne eine einzige mit dem Werkzeug in der Hand zu verstehen: sind allesamt abrégé raisonné ihrer vorigen Pedanterie geworden – abgezogner Geist! Philosophie aus zwei Gedanken, die mechanischte Sache von der Welt.

Darf ich beweisen, was der neuere Witz für eine edle mechanische Sache sei? Gibt's eine gebildetere Sprache und Periodenform, d.i. einen engern Leisten der Gedanken, der Lebensart, des Genies und Geschmacks als bei dem Volke, von dem er sich unter hundert Gestalten am glänzendsten in der Welt verbreitet hat? Welch ein Schauspiel ist mehr Marionette eines schönen Regelmaßes – welche Lebensart mehr Äfferei einer leichten mechanischen Höflichkeit, Lustigkeit und Wortzierde – welche Philosophie mehr das Ausgekramte weniger Sentiments und eine Behandlung aller Dinge in der Welt nach diesen Sentiments geworden, als die –? Affen der Humanität, des Genies, der Fröhlichkeit, der Tugend, und eben weil sie nichts als das sind und so leicht nachgeäfft werden können, sind sie's für ganz Europa.

III. Daher wird denn nun wohl begreiflich, zu welchem Mittelpunkte die Bildung hinstrebe und immer hingelenkt werde: »Philosophie! Gedanke! – leichtere Mechanik! Räsonnement, das sich bis auf die Grundsäulen der Gesellschaft erstreckt, die sonst nur standen und trugen!« Und auch da kann ich's in zehnerlei Betracht kaum begreifen, wie das so allgemein und einzig für den Gipfel und Zweck aller menschlichen Bildung, alles Glücks, alles Guten verräsoniert werden könne? Ist denn der ganze Körper[339] bestimmt zu sehen! und muß, wenn Hand und Fuß Auge und Gehirn sein will, nicht der ganze Körper leiden? Räsonnement zu unvorsichtig, zu unnütz verbreitet – ob's nicht Neigung, Trieb, Tätigkeit zu leben, schwächen könnte und würklich geschwächt habe? –

Allerdings mag nun wohl diese Ermattung dem Geiste mancher Länder bequem sein: ermattete Glieder müssen fort, haben keine Kräfte als – etwa zum Gegendenken. Jedes Rad bleibt aus Furcht oder Gewohnheit oder Üppigkeit und Philosophie an der Stelle, und was ist nun so manche große philosophisch regierte Herde als ein zusammengezwungner Haufe – Vieh und Holz! Sie denken! man breitet Denken vielleicht unter sie aus – bis auf einen Punkt: damit sie sich von Tage zu Tage mehr als Maschine fühlen, oder nach gegebenen Vorurteilen fühlen, knirschen lernen und fort müssen – Sie knirschen – ei doch, sie können nichts als knirschen: und laben sich mit Freidenken. Das liebe, matte, ärgerliche, unnütze Freidenken, Ersatz für alles, was sie vielleicht mehr brauchten – Herz! Wärme! Blut! Menschheit! Leben!

Nun rechne ein jeder. Licht unendlich erhöht und ausgebreitet: wenn Neigung, Trieb zu leben ungleich geschwächet ist! Ideen von allgemeiner Menschen-, Völker- und Feindesliebe erhöht: und warmes Gefühl der Vater-, Mutter-, Bruder-, Kindes-, Freundesneigungen unendlich geschwächet! Grundsätze der Freiheit, Ehre, Tugend so weit verbreitet, daß sie jeder aufs helleste anerkennet, daß in gewissen Ländern sie jedermann bis zum Geringsten auf Zung und Lippen hat – und jeder von ihnen zugleich mit den ärgsten Ketten der Feigheit, Schande, Üppigkeit, Kriecherei und elender Planlosigkeit gebunden. Handgriffe und Erleichterungen unendlich verbreitet – aber alle die Handgriffe gehen in die Hand eines oder etlicher zusammen, der allein denkt: der Maschine ist die Lust, zu leben, zu würken, menschlich edel und guttätig, vergnügt zu leben, verschwunden: lebt sie mehr? Im Ganzen und im kleinsten Teile, der einzige Gedanke des Meisters.

Ist dies nun das schöne Ideal vom Zustande, zu dem wir durch alles hingebildet sind, das sich immer weiter in Europa ausbreitet, das in alle Weltteile hinschwimmet und alles polizieren will, zu sein, was wir sind – Menschen? Bürger eines Vaterlands?

Wesen, für sich etwas zu sein in der Welt? Vielleicht! wenigstens und gewiß aber allesamt nach Anzahl, Bedürfnissen, Zweck und Bestimmung politischer Kalkül: jeder in der Uniform seines[340] Standes, Maschinen! Da stehen nun jene glänzende Marktplätze zur Bildung der Menschheit, Kanzel und Schauplatz, Säle der Gerechtigkeit, Bibliotheken, Schulen und ja insonderheit die Kronen aller: illustre Akademien! In welchem Glanz! zum ewigen Nachruhm der Fürsten! zu wie großen Zwecken der Bildung und Aufklärung der Welt, der Glückseligkeit der Menschen! herrlich eingeweihet – was tun sie denn? was können sie tun? – sie spielen!

IV. Also von einigen der berühmtesten Mittel, die – die Ehre unsres Jahrhunderts! – den schöpferischen Plan haben, »Menschheit zu bilden« – ein Wort! Wir kommen damit wenigstens zu einer sehr praktischen Seite des Buchs.

Ist nicht vom Anfange an vergebens geschrieben, so sieht man, Bildung und Fortbildung einer Nation ist nie anders als ein Werk des Schicksals: Resultat tausend mitwürkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben. Und ist dies, was für ein Kinderspiel, diese Bildung bloß in und durch einige hellere Ideen zu setzen, worauf man fast von Wiederherstellung der Wissenschaften hertrabet! Dies Buch, dieser Autor, diese Menge von Büchern soll bilden: das ganze Resultat derselben, die Philosophie unsres Jahrhunderts soll bilden – was hieße das anders als die Neigungen wecken oder stärken, durch die die Menschheit beseligt wird – und welche Kluft, daß dies geschehe! Ideen geben eigentlich nur Ideen: mehrere Helle, Richtigkeit und Ordnung zu denken – das ist aber auch alles, worauf man gewiß rechnen kann: denn wie sich das alles nun in der Seele mische? was es vor sich finden und verändern soll? wie stark und daurend diese Veränderung werde und wie sie sich nun endlich in die tausendgestaltigen Anlässe und Fügungen des menschlichen Lebens, geschweige eines Zeitalters, eines ganzen Volks, des ganzen Europa, des ganzen Weltalls (wie unsre Demut wähnet) hineinmische und hineinwerfe – ihr Götter, welche andre Welt von Fragen!

Ein Mensch, der die künstliche Denkart unsres Jahrhunderts kennenlernte, läse alle Bücher, die wir von Kind auf lesen, loben und, wie es heißt, uns darnach bilden, sammlete die Grundsätze, die wir alle laut oder schweigend zugestehen, auch mit gewissen Kräften unsrer Seele bearbeiten usw., wollte hieraus nun auf das ganze lebendige Triebwerk des Jahrhunderts Schluß machen – erbärmlicher Fehlschluß! Eben weil diese Grundsätze so gäng und gäbe sind, als Spielwerk von Hand zu Hand, als Mundwerk von Lippe zu Lippe gehen – eben deswegen wird's wahrscheinlich,[341] daß sie keine Würkung mehr tun können. Braucht man, womit man spielt? und wenn man des Getreides so viel hat, daß man den Acker nicht besäet, bepflanzet, sondern als Kornboden überschütten muß – dürrer, trockner Kornboden! kann etwas wurzeln? aufgeben? kommt ein Korn nur in die Erde?

Was soll ich Exempel zu einer Wahrheit suchen, zu der fast alles, leider! Exempel wäre – Religion und Moral, Gesetzgebung und gemeine Sitten. Wie überschwemmt mit schönen Grundsätzen, Entwicklungen, Systemen, Auslegungen – überschwemmet, daß fast niemand mehr Boden sieht und Fuß hat – eben deswegen aber auch nur hinüberschwimmet. Der Theologe blättert in den rührendsten Darstellungen der Religion, lernet, weiß, beweist und vergißt – zu den Theologen werden wir alle von Kind auf gebildet. Die Kanzel schallet von Grundsätzen, die wir alle zugestehen, wissen, schön fühlen und – auf und neben der Kanzel lassen. So mit Lektüre, Philosophie und Moral. Wer ist nicht überdrüssig, sie zu lesen? und welcher Schriftsteller macht's nicht schon zum Hauptgeschäfte, gut einzukleiden: die unkräftige Pille nur schön zu versilbern. Kopf und Herz ist einmal getrennt: der Mensch ist, leider! so weit, um nicht nach dem, was er weiß, sondern was er mag, zu handeln. Was hilft dem Kranken alle der Vorrat von Leckerbissen, den er mit siechem Herzen nicht genießen kann, ja des Überfluß ihn eben siechherzig machte.

Den Verbreitern des Mediums dieser Bildung könnte man immer die Sprache und den Wahn lassen, als wenn sie »die Menschheit«, und insonderheit ja den Philosophen von Paris, daß sie »toute l'Europe« und »tout l'univers« bilden – man weiß schon, was die Sprache bedeutet – Ton! konventionelle Phrase! schöne Wendung oder höchstens nützlicher Wahn. – Aber wenn auch die auf solche Mittel der Letternkultur fallen, die ganz andre Werkzeuge – wann sie eben mit jenen dem Jahrhundert schönen Dunst geben, Augen auf den Glanz dieses unwürksamen Lichts lenken, um Herzen und Hände frei zu haben – Irrtum und Verlust, ihr seid kläglich! –

Es gab ein Zeitalter, wo die Kunst der Gesetzgebung für das einzige Mittel galt, Nationen zu bilden, und dies Mittel, auf die sonderbarste Art angegriffen, nur meist eine allgemeine Philosophie der Menschheit, ein Kodex der Vernunft, der Humanität – was weiß ich mehr? werden sollte: die Sache war ohne Zweifel blendender als nützlich. Allerdings ließen sich damit alle »Gemeinsätze des [342] Rechten und Guten, Maximen der Menschenliebe und Weisheit, Aussichten aus allen Zeiten und Völkern für alle Zeiten und Völker erschöpfen« – für alle Zeiten und Völker? – und also, leider! eben nicht für das Volk, dem dies Gesetzbuch aufgenommen sein soll als sein Kleid. So allgemeines Abgeschöpfte, ist's nicht auch Schaum vielleicht, der in der Luft aller Zeiten und Völker zerfließt? und wie anders für die Adern und Sehnen seines Volks Nahrung bereiten, daß sie im Herz stärke und Mark und Bein erfrische!

Zwischen jeden Allgemeingesagten, wenn auch der schönsten Wahrheit – und ihrer mindesten Anwendung ist Kluft! Und Anwendung am einzigen rechten Orte? zu den rechten Zwecken? auf die einzige beste Weise? – Der Solon eines Dorfs, der würklich nur eine böse Gewohnheit abgebracht, nur einen Strom menschlicher Empfindungen und Tätigkeiten in Gang gebracht – er hat tausendfach mehr getan als all ihr Räsoneurs über die Gesetzgebung, bei denen alles wahr und alles falsch – ein elender allgemeiner Schatte ist. –

Es war eine Zeit, da die Errichtung von Akademien, Bibliotheken, Kunstsälen Bildung der Welt hieß – vortrefflich! diese Akademie ist der Name des Hofes, das würdige Prytaneum verdienter Männer, eine Unterstützung kostbarer Wissenschaften, ein vortrefflicher Saal am Geburtsfeste des Monarchen. – Aber was die nun zur Bildung des Landes, der Leute, der Untertanen tue? Und wenn sie alles täte – wiefern das Glückseligkeit gebe? Können diese Bildsäulen, und wenn ihr sie an Weg und Pfosten stellt, jeden Vorbeigehenden in einen Griechen verwandeln, daß er sie so ansehe, so fühle, sich so in ihnen fühle? Schwer! Können diese Gedichte, diese schöne Vorlesungen nach attischer Art eine Zeit schaffen, wo diese Gedichte und Reden Wunder taten und würkten? Ich glaube, nein! Und die sogenannten Wiederhersteller der Wissenschaften, wenn auch Papst und Kardinäle, ließen immer Apollo, Musen und alle Götter in den neulateinischen Gedichten spielen – sie wußten, daß es Spiel war. Die Bildsäule Apollo konnte immer neben Christo und der Leda stehen: Alle drei taten eine Würkung – keine! – Könnte die Vorstellung, der Schauplatz würklichen römischen Heroismus hervorbringen und Brutus und Catos schaffen – glaubt ihr, daß euer Schauplatz stehen? daß eure Kanzel stehen würde? – Man ballet endlich in den edelsten Wissenschaften Ossa auf den Pelion – großes Unternehmen! – man weiß beinahe nicht, wozu man ballet. Die[343] Schätze liegen da und werden nicht gebraucht: wenigstens ist's gewiß nicht die Menschheit, die sie jetzt brauchet.

Es war eine Zeit, da alles auf Erziehung stürmte – und die Erziehung wurde gesetzt in schöne Realkenntnisse, Unterweisung, Aufklärung, Erleichterung ad captum und ja in frühe Verfeinerung zu artigen Sitten. Als wenn alle das Neigungen ändern und bilden könnte, ohne an ein einziges der verachteten Mittel zu denken, wie man gute Gewohnheiten, selbst Vorurteile, Übungen und Kräfte wiederherstellen oder neu schaffen und dadurch allein »bessere Welt« bilden könnte. – Der Aufsatz, der Plan wurde abgefaßt, gedruckt, vergessen! ein Lehrbuch der Erziehung, wie wir tausend haben! ein Kodex guter Regeln, wie wir noch Millionen haben werden, und die Welt wird bleiben, wie sie ist.

Wie anders dachten einst darüber die Zeiten und Völker, da alles noch so enge national war. Aus dem besondersten einzelnen Bedürfnisse stieg jede Bildung herauf und kehrte dahin zurück – lauter Erfahrung, Tat, Anwendung des Lebens, in dem bestimmtesten Kreise. Hier in der Patriarchenhütte, dort im engen Ackergebiete, dort in einer kleinen Republik Menschen, wo man alles kennt, fühlt, also auch zu fühlen geben konnte, das menschliche Herz in Hand hatte, und übersahe, was man sprach! Da war's also ein guter Vorwurf, den unser erleuchtetes Jahrhundert den minder erleuchteten Griechen macht, daß sie nichts recht Allgemeines und rein Abgezognes philosophiert, sondern immer in der Natur kleiner Bedürfnisse, auf einem engen Schauplatz gesprochen hätten. Da war's auch angewandt gesprochen, jedes Wort fand Stelle: und in den bessern Zeiten, da man noch gar nicht durch Worte sprach, durch Tat, Gewohnheit, Vorbild, tausendfachen Einfluß – wie anders! bestimmt, stark und ewig. Wir sprechen über hundert Stände, Klassen, Zeiten, Menschengattungen auf einmal, um für jede nichts zu sprechen: unsre Weisheit so fein und unkörperlich – ist abgezogner Geist, der ohne Gebrauch verfliegt. Dort war's und blieb's Weisheit des Bürgers, Geschichte eines menschlichen Gegenstandes, Saft voll Nahrung.

Wenn meine Stimme also Macht und Raum hätte, wie würde ich allen, die an der Bildung der Menschheit würken, zurufen: nicht Allgemeinörter von Verbesserung! Papierkultur! wo möglich Anstalten – tun! Laßt die reden und ins Blaue des Himmels hineinbilden, die das Unglück haben, nichts anders zu können; hat der Liebling der Braut nicht eine schönere Stelle als der [344] Dichter, der sie singt oder der Freiwerber, der um sie wirbt? Siehe, wer die Menschenfreundschaft, Völkerliebe und Vatertreue am schönsten besingen kann, hat vielleicht im Sinne, ihr auf Jahrhunderte den tiefsten Dolchstoß zu geben? Dem Scheine nach der edelste Gesetzgeber, vielleicht der innigste Zerstörer seines Jahrhunderts! Von innerer Verbesserung, Menschheit und Glückseligkeit nicht die Rede: er strebte dem Strom des Jahrhunderts nach, ward Heiland des menschlichen Geschlechts nach dem Wahne des Jahrhunderts, erstrebte sich also auch den kurzen Lohn des allen – welkenden Lorbeer der Eitelkeit, morgen Staub und Asche. – Das große, göttliche Werk, Menschheit zu bilden – still, stark, verborgen, ewig – mit kleiner Eitelkeit konnt's nicht grenzen!

V. Ohne Zweifel wird man, nach dem, was ich geschrieben, den Allgemeinsatz anbringen, daß man immer die Ferne lobe und über die Gegenwart klage; daß es Kinder sind, die sich in die Ferne des Goldschaums verlieben und den Apfel, den sie in der Hand, dafür hingeben, weil sie jenes nicht kennen – aber vielleicht bin ich dies Kind nicht. Ich sehe alles Große, Schöne und Einzige unsres Jahrhunderts ein und habe es bei allem Tadel immer zum Grunde behalten: »Philosophie! ausgebreitete Helle! mechanische Fertigkeit und Leichtigkeit zum Erstaunen! Mildheit!« Wie hoch ist seit der Wiederherstellung der Wissenschaften unser Jahrhundert darin gestiegen! mit welchen sonderbar leichten Mitteln auf die Höhe kommen! wie stark hat's sie befestigt und für die Nachkommenschaft gesichert! – ich glaube Bemerkungen darüber gegeben zu haben statt der übertriebenen Lobesdeklamation, die man in allen, zumal französischen Modebüchern findet. –

Wahrlich ein großes Jahrhundert als Mittel und Zweck: ohne Zweifel der höchste Gipfel des Baums in Betracht aller vorigen, auf denen wir stehen! Wie haben wir uns so vielen Saft aus Wurzel, Stamm und Ästen zunutz gemacht, als unsre dünnen Gipfelzweige nur fassen können! stehen hoch über Morgenländer, Griechen, Römer, zumal über den mittlern gotischen Barbarn! hoch sehen wir also über die Erde! gewissermaße alle Völker und Weltteile unter unserm Schatten, und wenn ein Sturm zwei kleine Zweige in Europa schüttelt, wie bebt und blutet die ganze Welt! Wenn ist je die ganze Erde an so wenig vereinigten Fäden so allgemein zusammengegangen als jetzt? Wenn hat man mehr Macht und Maschinen gehabt, mit einem Druck, mit einem [345] Fingerregen ganze Nationen zu erschüttern? Alles schwebt an der Spitze zweier oder dreier Gedanken!

Zu gleicher Zeit – wenn ist die Erde so allgemein erleuchtet gewesen als nun? und fährt immer fort, mehr erleuchtet zu werden. Wenn voraus die Weisheit immer nur enge national war und also auch tiefer grub und fester anzog – wie weit gehen jetzt ihre Strahlen! wo wird nicht, was Voltaire schreibt, gelesen! Die ganze Erde leuchtet beinahe schon von Voltaires Klarheit!

Und wie scheint dies immer fortzugehen! Wo kommen nicht europäische Kolonien hin und werden hinkommen! Überall werden die Wilden, je mehr sie unsern Branntwein und Üppigkeit liebgewinnen, auch unsrer Bekehrung reif! Nähern sich, zumal durch Branntwein und Üppigkeit, überall unsrer Kultur – werden bald, hilf Gott! alle Menschen wie wir sein! gute, starke, glückliche Menschen!

Handel und Papsttum, wie viel habt ihr schon zu diesem großen Geschäfte beigetragen! Spanier, Jesuiten und Holländer: ihr menschenfreundlichen, uneigennützigen, edlen und tugendhaften Nationen! wie viel hat euch in allen Weltteilen die Bildung der Menschheit nicht schon zu danken?

Geht das in den übrigen Weltteilen, wie denn nicht in Europa! Schande für England, daß das Irland so lange wild und barbarisch blieb: es ist poliziert und glücklich. Schande für England, daß die Nordschotten so lange ohne Beinkleider gingen: sie tragen sie jetzt wenigstens auf einer Stange mit sich und sind glücklich. Welch Reich hat sich in unserm Jahrhunderte nicht groß und glücklich gebildet! Ein einziges lag zur Schande der Menschheit in der Mitte da – ohne Akademien und Ackerbausozietäten, trug Knebelbärte und nährte demnach Königsmörder. Und siehe da! was mit dem – wilden Korsika das edelmütige Frankreich schon allein übernommen hatte – das taten drei – Knebelbärte: zu Menschen zu bilden, wie wir sind! gute, starke, glückliche Menschen!

Alle Künste, die wir treiben, wie hoch gestiegen! Kann man sich etwas über jene Regierungskunst, das System, die Wissenschaft zur Bildung der Menschheit denken?14 Die ganze einzige Triebfeder unsrer Staaten Furcht und Geld: ohne Religion (die kindische Triebfeder!), ohne Ehre und Seelenfreiheit und Menschenglückseligkeit im mindsten zu brauchen. Wie wissen wir den einzigen Gott aller Götter, Mammon, als einen zweiten Proteus[346] zu erhaschen! und wie zu verwandeln! und wie alles von ihm zu erzwingen, was wir nur wollen! – höchste glückselige Regierungskunst! –

Sehet ein Kriegsheer; das schönste Urbild menschlicher Gesellschaft! Alle wie bunt und leicht gekleidet, leicht genähret, harmonisch denkend, frei und bequem in allen Gliedern! edel sich bewegend! Wie helle treffliche Werkzeuge in ihrer Hand! Summe von Tugenden, die sie bei jeder täglichen Handhabung lernen – ein Bild der höchsten Vortreflichkeit des Menschengeistes und der Regierung der Welt – Resignation!

Gleichgewicht von Europa! du große Erfindung, von der kein Zeitalter? vorher wußte! wie sich jetzt diese großen Staatskörper, in denen ohne Zweifel die Menschheit am besten gepflegt werden kann, aneinander reiben, ohne sich zu zerstören und je zerstören zu können, wie wir so traurige Beispiele an der elenden Staatskunst der Goten, Hunnen, Vandalen, Griechen, Perser, Römer, kurz, aller Zeiten vor uns haben! und wie sie ihren edlen Königsgang fortgehen, diese Wassertonne voll Insekten in sich zu schlucken, um Einförmigkeit, Friede und Sicherheit zu schaffen. Arme Stadt? gequältes Dorf? – Heil uns! zu Aufrechthaltung des Gehorsams, des Friedens und der Sicherheit, aller Kardinaltugenden und Glückseligkeiten, Söldner! Verbündete! Gleichgewicht Europas! Es wird und muß, Heil uns! ewige Ruhe, Friede, Sicherheit und Gehorsam in Europa bleiben.

Da dürfen nur unsre politische Geschichtschreiber und historische Epopeendichter der Monarchie das Wachstum dieses Zustandes von Zeit zu Zeit malen!15 »Einst, traurige Zeiten! da man bloß nach Bedürfnis und eignem Gefühl etwa handelte: traurigere Zeichen, da die Macht der Regenten gar noch nicht schrankenlos, und traurigste Zeiten unter allen, da ihre Einkünfte noch nicht ganz willkürlich waren – da – wie wenig gibt's für den philosophischen Epopeengeschichtschreiber allgemein zu räsonieren, oder ins Ganze von Europa hinzumalen! keine Armeen, die vermögend wären, ferne Grenzen zu beunruhigen, kein Landesherr, der aus seinem Lande könnte, zu erobern: also alles nur auf elende Gegenwehr und Selbstverteidigung angelegt: keine Politik! kein Blick auf ferne Zeiten und Länder, keine Spekulation in den [347] Mond! also keine Verbindung der Länder durch diese menschenfreundlichen Nächstenblicke – kurz, kein – und das ist das Wort für den neusten höchsten Geschmack! – kein gesellschaftliches Leben in Europa! Gottlob! seitdem einzelne Kräfte und Glieder des Staats abgetan, Adel durch Städte, Städte durch freigelaßnes Land, und Adel, Städte und freigelaßnes Land durch Völker so glorreich gegen- und überwogen, in das Wunderding Maschinen hineingelenkt sind, niemand mehr von Selbstgerechtigkeit, Selbst würde und Selbstbestimmung weiß und wissen darf – Heil uns, welch gesellschaftliches Leben in Europa! Wo der Monarch den Staat so ganz in seiner Macht hat, daß dieser ihm nicht mehr Zweck, sondern auswärtiges Handeln durch ihn Zweck ist – wo er also so weit sieht, rechnet, ratschlaget, handelt, jeder durch Winke, von denen er nichts versteht und weiß, zum Enthusiasmus gerührt und geleitet werden, kein Staat ohne den Blick des andern eine Pflaumfeder aufheben darf – ohne daß von der fernesten Ursache sich allgemeiner Aderlaß in allen Weltteilen von selbst beschließe! Große Allgemeinheit! wie gedrungene menschliche, leidenschaftlose Kriege daher entspringend! wie gerechte, menschliche, billige Unterhandlungen daher entspringend!« Und wie wird die höchste Tugend, die Resignation, jedes einzelnen dabei befördert – hohes gesellschaftliches Leben in Europa!

Und durch wie glorreiche Mittel16 man dahin gekommen! »daß die Macht der Monarchie in gleichem Schritt mit der Entkräftung einzelner Glieder und der Stärke des Söldnerstandes gewachsen! durch welche Mittel sie ihre Vorrechte erweitert, ihre Einkünfte gemehret, ihre innern Feinde unterjocht oder gelenkt, ihre Grenzen verbreitet – das zeigt die mittlere und neuere, insonderheit die Vorgängerin von ganz Europa, die französische Geschichte.« Glorreiche Mittel, und der Zweck wie groß: Waage Europas! Glückseligkeit Europas! Auf der Waage und in der Glückseligkeit bedeutet jedes einzelne Sandkorn ohne Zweifel viel! – –

»Unser System des Handels!« Ob man sich etwas über das Verfeinte der allumfassenden Wissenschaft denke? Was waren's für elende Spartaner, die ihre Heloten zum Ackerbau brauchten, und für barbarische Römer, die ihre Sklaven in die Erdgefängnisse einschlossen! In Europa ist die Sklaverei abgeschafft17, weil berechnet ist, wieviel diese Sklaven mehr kosteten und weniger[348] brächten als freie Leute: nur eins haben wir uns noch erlaubt, drei Weltteile als Sklaven zu brauchen, zu verhandeln, in Silbergruben und Zuckermühlen zu verbannen – aber das sind nicht Europäer, nicht Christen, und dafür bekommen wir Silber und Edelgesteine, Gewürze, Zucker und – heimliche Krankheit: also des Handels wegen und zur wechselseitigen Bruderhülfe und Gemeinschaft der Länder!

»System des Handels!« Das Große und Einzige der Anlage ist offenbar! Drei Weltteile durch uns verwüstet und polizieret und wir durch sie entvölkert, entmannet, in Üppigkeit, Schinderei und Tod versenkt: das ist reich gehandelt und glücklich. Wer ist, der nicht an der großen Ziehwolke, die Europa aussaugt, Anteil haben, sich in sie drängen und, kann er nicht andere, seine eigne Kinder als größter Handelsmann entleeren müßte? – Der alte Name Hirt der Völker ist in Monopolisten verwandelt – und wenn die ganze Wolke mit hundert Sturmwinden denn bricht – großer Gott Mammon, dem wir alle jetzt dienen, hilf uns! –

»Lebensart und Sitten!« Wie elend, als es noch Nationen und Nationalcharakter gab.18 was für wechselseitiger Haß, Abneigung gegen die Fremden, Festsetzung auf seinen Mittelpunkt, väterliche Vorurteile, Hangen an der Erdscholle, an der wir geboren sind und auf der wir verwesen sollen! einheimische Denkart! enger Kreis von Ideen – ewige Barbarei! Bei uns sind, gottlob! alle Nationalcharaktere ausgelöscht! wir lieben uns alle, oder vielmehr keiner bedarf's, den andern zu lieben; wir gehen miteinander um, sind einander völlig gleich – gesittet, höflich, glückselig! haben zwar kein Vaterland, keine Unsern, für die wir leben; aber sind Menschenfreunde und Weltbürger. Schon jetzt alle Regenten Europas, bald werden wir alle die französische Sprache reden! – Und denn – Glückseligkeit! es fängt wieder die güldne Zeit an, »da hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache! wird eine Herde und ein Hirte werden!« Nationalcharaktere, wo seid ihr?

»Lebensart und Sitten Europas!« Wie spät reifte in den gotischen Zeiten des Christentums die Jugend: kaum im dreißigsten Jahre mündig: man verlor den halben Teil seines Lebens in einer elenden Kindheit. Philosophie, Erziehung und gute Sitten, welche neue Schöpfung habt ihr geschaffen! Wir sind jetzt im dreizehnten Jahre reif, und durch stumme und laute Sünden im zwanzigsten verblühet. Wir genießen das Leben, recht in der Morgenröte und schönsten Blüte![349]

»Lebensart und Sitten Europas!« Welche gotische Tugend Bescheidenheit, jugendliche Blödigkeit, Scham!19 Frühe werden wir des zweideutigen, unbehülflichen Mantels der Tugend los; Gesellschaften, Frauenzimmer (die nun am meisten bei Scham entbehren! und die sie auch am wenigsten nötig haben!), selbst unsre Eltern wischen sie uns frühe von den Wangen oder, wenn das nicht, Lehrmeister guter Sitten! Wir gehen auf Reisen, und wer wird sein ausgewachsenes Kleid der Kindheit, außer Mode und Anstand, wiederbringen? Wir haben Dreustigkeit, Ton der Gesellschaft, Leichtigkeit, uns alles zu bedienen! schöne Philosophie! »Zärtlichkeit des Geschmacks und der Leidenschaften!«20 Immer waren Griechen und Römer in ihrem Geschmacke noch wie grob! hatten am wenigsten den Ton des Umgangs mit dem schönen Geschlechte! Plato und Cicero konnten Bände Gespräche über Metaphysik und männliche Künste schreiben, und es sprach nie ein Weib. Wer sollte bei uns ein Stück, und wenn's auch Philoktet auf seiner wüsten Insel wäre, ohne Liebe aushalten! Voltaire – aber man lese, wie ernstlich er selbst für der Nachfolge gewarnet. Frauenzimmer sind unser Publikum, unsre Aspasien des Geschmacks und der Philosophie. Wir wissen Kartesianische Wirbel und Newtonische Attraktionen in ein Schnürleib einzukleiden: schreiben Geschichte, Predigten und was nicht mehr, für und als Weiber. Die feinere Zärtlichkeit unsres Geschmacks ist bewiesen.

»Schöne Künste und Wissenschaften!«21 Die gröbern haben freilich die Alten, und zwar die elende unruhige Regimentsform, kleine Republiken, ausbilden können; aber seht auch, wie grob jene Beredsamkeit Demosthenes'! jenes griechische Theater! grob selbst jene gepriesene Antike! Und mit ihrer Malerei und Musik ist's gar nur aufgedunsnes Märchen und Zetergeheul gewesen. Die feinere Blüte der Künste hat auf die glückselige Monarchie gewartet! An den Höfen Ludwigs kopierte Corneille seine Helden, Racine seine Empfindungen: man erfand eine ganz neue Gattung der Wahrheit, der Rührung und des Geschmacks, von der die fabelhaften, kalten, prachtlosen Alten nichts gewußt – die Opera. Heil dir, Oper! du Sammelplatz und Wetteifer aller unsrer schönen Künste!

In der glückseligen Monarchie war's, wo's noch Erfindungen[350] gab.22 Man erfand statt der alten pedantischen Universitäten glänzende Akademien. Bossuet erfand eine Geschichte, ganz Deklamation und Predigt und Jahrzahlregister, die den einfältigen Xenophon und Livius so weit übertraf: Bourdaloue erfand seine Redegattung, wie besser als Demosthen! Man erfand eine neue Musik – Harmonie, die keiner Melodie bedurfte, eine neue Baukunst, was jener unmöglich geglaubt, eine neue Säule – und was die Nachwelt am meisten bewundern wird, eine Architektur auf der Fläche und mit allen Produktionen der Natur – das Gartenwesen! voll Proportionen und Symmetrie! voll ewigen Genusses und ganz neue Natur ohne Natur. Heil uns! was konnten wir allein unter der Monarchie erfinden!

Am spätsten fing man an zu philosophieren.23 Und wie neu! ohne System und Grundsätze, daß es frei bliebe, immer zu andrer Zeit auch das Gegenteil zu glauben. Ohne Demonstration! in Witz gehüllet: denn »alle strenge Philosophie hat nie die Welt gebessert«24. Endlich gar – herrliche Erfindung! – in Mémoires und Wörterbüchern, wo jeder lesen kann, was und wieviel er will – und die herrlichste der herrlichen Erfindungen, das Wörterbuch, die Enzyklopädie aller Wissenschaften und Künste. »Wenn einst durch Feuer und Wasser alle Bücher, Künste und Wissenschaften untergehen; aus und an dir, Enzyklopädie! hat der menschliche Geist alles!« Was die Buchdruckerkunst den Wissenschaften, ist die Enzyklopädie der Buchdruckerkunst geworden25: höchster Gipfel der Ausbreitung, Vollständigkeit und ewigen Erhaltung.

Nun sollte ich noch das Beste, unsre ungeheuren Fortschritte in der Religion, rühmen. Da wir gar die Lesarten der Bibel aufzuzählen angefangen! in den Grundsätzen der Ehre, seitdem wir das lächerliche Rittertum abgeschafft und Ordens zu Leitbändern der Knaben und Hofgeschenken erhoben – am meisten aber unsern höchsten Gipfel von menschlichen – Vater-, Weibs- und Kindestugenden rühmen – aber wer kann in einem solchen Jahrhunderte, als das unsre ist, alles rühmen! Gnug, wir sind »Gipfel des Baums! in himmlischer Luft webend: die goldne Zeit ist nahe!«[351]

Quelle:
Sturm und Drang. Weltanschauliche und ästhetische Schriften. Band 1, Berlin und Weimar 1978, S. 322-352.
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