Achte Sammlung

[73] (1796)
[73]

91.
Sechstes Fragment

Wiederauflebung der Alten


Was der Poesie des Mittelalters fehlte, war nicht Stoff und Inhalt, nicht guter Wille und Endzweck; es fehlte ihr nicht an Idealen, auf welche sie hinarbeitete und sich bemühte; aber Geschmack, innere Norm und Regel fehlte ihr. Keine äußere Form des Sonetts, Madrigals oder der Stanze, der Reim am wenigsten, keine Scholastik, selbst die arabische Philosophie nicht, sie mochte aus Spanien, Afrika oder Palästina kommen, konnte ihr diese Regel gewähren; nur ein Mittel war dazu, die Wiedererweckung der Alten.

Immer hatten diese, auch in den dunkelsten Jahrhunderten, einige Liebhaber, sogar Nachahmer gefunden, ob man von ihnen gleich nur wenige kannte und diese wenigen in einer finstern Luft durch einen häßlichen Nebel ansah. Bekanntlich war Petrarca einer der ersten, der sich durch unablässigen Fleiß eine fast klassische Denkart angebildet hatte, ohne welche er seine liebliche Vulgarpoesie schwerlich hätte erschaffen mögen. Ihm folgten mehrere Liebhaber und Bewunderer der Alten, bis nach einer langen Morgenröte endlich heller Tag anbrach. Von Orient aus kamen die vertriebenen griechischen Musen nach Italien; mit einem wunderbaren Enthusiasmus für die Sprache, die Werke und Wissenschaften der Griechen wurden sie aufgenommen, und alles belebte sich neu. Laß es sein, daß fortan, insonderheit im nächsten Jahrhundert, die Landessprache keine Dichter bekam, wie Dante und Petrarca gewesen waren; beide, insonderheit der letzte hatte in seiner Art die Blüte hinweggebrochen, so daß kein Nachahmer ihn übertreffen konnte. Dafür aber öffnete sich eine Aussicht, die zehntausend Petrarchisten[75] nicht hätten eröffnen mögen. Poliziano, Pico, Bembo, Castiglione, Casa und so viel andre Geschichtschreiber, Dichter, Philosophen und Philologen schrieben nicht nur klassisch Latein, sondern einige derselben dachten auch klassisch und erwägten die Werke der Alten. Die Strozza, Sannazar, Fracastor, Vida und so viele, viele andre schrieben nicht etwa nur elegante lateinische Verse; man las, man übersetzte die Alten; Machiavell u.a. dachten ihnen männlich nach. Künstler erschienen, die im Geschmack der Griechen und Römer verzierten, baueten, bildeten, malten; das himmlische Genie Raffael erschien, von einer griechischen Muse mit einem Engel erzeuget. Da erklang ein Lied im höheren Tone; es fing wirklich eine neue Denkart mit einer neuen Zeit an; denn auch die Buchdruckerkunst war erfunden, eine neue Welt war entdeckt, die Reformation entstand. U.f.

Es hieße klein und eingeschränkt denken, wenn man diese neue Gedankenform bloß nach dem beurteilte, was sie damals hervorgebracht hat, nicht nach dem lebendigen Samen, der in ihr zu künftigen Hervorbringungen dalag. Sei es, daß die ersten Nachahmungen der Alten zu sklavisch waren, daß die erste Kritik sich zu sehr an Worte hielt und darüber oft den Geist nicht erreichte. Sei es, daß kein lateinischer Dichter dieses glücklichen Jahrhunderts einem alten Dichter gleichkäme; was schadet's? Die ersten gedruckten Ausgaben alter Autoren waren auch die vollkommensten nicht; indessen kamen sie weit umher und machten die Grundlage nicht nur zu bessern Auflagen, sondern auch zu vielen, vielen neuen Gedanken. Ohne Wiedererweckung der Alten wäre keine neue Philosophie und Beredsamkeit, keine Kritik, Kunst und Dichtkunst entstanden; Europa säße noch in der Dämmerung und labte sich an abenteuerlichen Ritterromanen. Das Licht der Alten ist's, das die Schatten verjagt und die Dämmerung aufgeklärt hat; mit ihnen haben wir empfangen, was allein den Geschmack sichert, Verhältnis, Regel, Richtmaß, Form der Gestalten im weiten Reiche der Natur und Kunst, ja der gesamten Menschheit.[76]

Warum z.B. ist die bloße Galanterie der Liebe ein falscher, mithin auch ein unpoetischer Geschmack? Weil sie etwas Unwahres in sich hält, das der reinen Sprache des Herzens und Geistes, wie es die Poesie sein soll, unwert ist. Jene Galanterie gibt Dingen einen Wert, den sie unsrer eignen Überzeugung nach nicht haben; sie malt Schönheit und Liebe mit falschen Reizen und vergisset darüber der herzergreifenden Wahrheit. Aus Mangel des Gefühls übertreibt sie; sie spielt mit Bildern und Wendungen, mit Witz und Worten. – – Echte Poesie also und eine falsche Galanterie sind unvereinbar. Möge ein verdorbner Geschmack der Zeit, möge die Mode sie dafür erkennen; der Zeitgeschmack geht vorüber, die Mode wird lächerlich; und späterhin macht die falsche Schminke das schöne Gesicht sogar häßlich.

Warum ist die übertriebne Ritterwürde ein falscher Geschmack? Weil sie als bloßes Ritual herz- und seelenlos, steif und lächerlich ist. Feierlichkeiten wird ein Wert gegeben, den sie nicht haben; Mißverhältnisse werden mit einem Schaumgolde überdeckt; geistlose Härte wird als ein Ideal der Männlichkeit gepriesen. Die Zeit kommt und streicht mit rauher Hand das Schaumgold hinweg; sie rückt die Stände anders, und sofort ist jene Mißgestalt unter einem eisernen Harnisch sichtbar. Alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verstand, Zweck, Ebenmaß, Güte des Herzens fehlt, kein Klang einer himmlischen Muse werden. –

Warum ist jene übertriebene Andacht, jenes Haschen nach dem Unendlichen, das Kalkulieren der Gottheit in unnennbaren Gefühlen ein falscher Geschmack? Weil sie eine Übervernunft sind, die weder in Sprache noch Kunst einen Ausdruck findet. Das Unermeßliche hat kein Maß, das Unendliche hat keinen Ausdruck. Je länger du also an diesen Tiefen schwindelst, desto mehr verwirret sich deine Zunge, wie sich dein Haupt verwirrte; du sagst nichts, wenn du etwas Unaussprechliches sagen wolltest. – Schwieg nicht jener Entzückte von dem, was er im dritten Himmel gesehen hatte? Alle wahre Gottbegeisterte schwiegen vom Unaussprechlichen[77] und sagten, was sie in der Sprache der Menschen, zumal in den Grenzen einer Kunst, sagen konnten. Der Ausdruck, der der Religion geziemt, ist nicht Schwärmerei, sondern Einfalt und Wahrheit.

Ist alles, was uns Umriß lehret, was unsrer Natur die ihr angemeßne Schranken zeigt und sie auf wirklichen Begriff, auf Wahrheit der Empfindung zurückführet, ein göttliches Geschenk: wie sehr tut dieses, recht verstanden und angewandt, die Poesie, die Kritik, die Philosophie und Denkart der Alten.

Diese z.B. weiß nichts von jener Höflichkeit eines übertreibenden, falschen Witzes, der Galanterie und Courtoisie sein soll; am Hofe der griechischen und römischen Musen hatte diese Kunst keinen Wert. Sie weiß nichts von jenem leeren Pomp, der dem Helden und Gott den Menschen auszieht; die heroische Poesie der Alten ist menschlich. Wozu endlich ward von den klügsten Völkern die Mythologie, wo nicht erfunden, so wenigstens an den schönsten Stellen gebraucht? Dem, was keine Gestalt hat, eine für uns lehrreiche und angenehme Gestalt zu geben, den Abglanz der blendenden Sonne im Spiegel des Meers oder in den Farben des Regenbogens zu zeigen. Uns sind im Grunde alle Einkleidungen, wo und wenn sie erfunden wurden, gleich; wir wollen sie zwar nicht unzeitig vermischen, aber alle mit Verstand gebrauchen. Aristoteles, Horaz und Quintilian sind uns nicht etwa über die Mythologie der Griechen allein, über die Mythologie jeder Nation und Religion sind ihre Grundsätze Gesetz und Regel.

Alles also, was den Geschmack der Alten unter uns befördert, sei uns wert, Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare, Nachahmungen; unter diesen Nachahmungen auch die neuere lateinische Poesie zu nennen, scheue ich mich nicht. Sie war immer ein Zeichen, daß man die Alten kannte und liebte, daß man über neuere Gegenstände im Sinne der Alten dachte, daß man ihr Richtmaß an diese neuen Gegenstände zu legen wagte. Sie hat viel Gutes gewirket. Latein sagte man, was[78] man in der Landessprache nicht sagen konnte oder dorfte; nachahmend sprach man gleichsam den Alten nach und sagte ihnen seine Lektion auf; man freuete sich, daß man sie aus ihnen gelernt und ungefährdet aufsagen konnte. Über die Vorurteile seiner Zeit, seines Ordens, Volks und Standes hob mancher sich, ohne daß er's wußte, auf Schwingen irgendeines alten Dichters empor; oder wenn er hiezu nicht Kraft gnug hatte, kam er doch nachahmend dem Geschmack und bessern Verständnis des Dichters, in dessen Weise er schrieb, näher und ward, auch nachlallend, mit ihm vertrauter. Endlich schloß sich durch die neuere lateinische Poesie eine Gesellschaft zusammen, von der vorher noch keine Zeit gewußt hatte; in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, den britannischen Inseln, den nordischen Königreichen, in Livland, Polen, Preußen, Ungarn, in Deutschland, Holland u.f. hat man lateinisch nicht nur versifizieret, sondern hie und da gewiß auch gedichtet. Italien, Frankreich, Deutschland, Polen, vor allen Holland hat Männer gehabt, die mit dem Latein wie mit ihrer Muttersprache umzugehen wußten und in ihm Gedichte gaben, die in jeder Landessprache Aufmerksamkeit gebieten würden. Selbst die Vortrefflichen, die der Sprache und Poesie ihrer Nation eine bessere Gestalt gaben, hatten diese meistens im Lateinischen zuerst versucht, wie außer den Italienern die Beispiele Miltons, Cowleys, Grotius', Heinsius', Opitz' u.f. zeigen. Fast alle Reformatoren, Erasmus, Luther, Zwingli, Melanchthon, Camerarius, Beza u.f., waren Liebhaber der Alten, Liebhaber der griechischen und lateinischen Dichtkunst. Die gebildetsten Staatsmänner, wie Thomas Morus, de Thou, Hopital u.f., Botschafter, Päpste, Kardinäle waren lateinische Dichter. Ein Helikon vereinigte sie und weckte Stimmen vom Ätna bis zum Hekla, vom Ausfluß des Tago bis zur Weichsel und der Düna.

Ich will mich nicht auf den Gemeinplatz einlassen, daß alle echte Kritik und Philosophie der Neueren nur eine palingenesierte Pflanze der Alten sei; denn woher hatten neben den weltbekannten Kommentatoren Erasmus, Grotius, Heinsius,[79] Boileau, Gravina, der edle Shaftesbury und die wenigen sonst, die ins Herz der Kritik drangen, ihre Weisheit als von den Alten? Eine spanische, deutsche, irländische Kritik gibt es nicht; aber eine griechische und römische Kritik gibt es. Mit ihr fängt die Kultur aller europäischen Landessprachen in Poesie und Prose, ja durchaus das Bestreben nach einem bessern Geschmack in ganz Europa an; den Beweis hievon liefert die Geschichte.




92.

Es tut mir leid, daß ich Ihrem Fragment einige Einwendungen entgegensetzen muß; wozu aber wäre die Heuchelei auch im Lobe des Geschmacks der Alten nötig?

Zuerst gibt Ihr Fragment es selbst zu, daß auch vor der sogenannten Erweckung der Alten in jedem Fach große Männer, Denker und Dichter gelebt haben, und ebensowenig wird bezweifelt werden können, daß seit dieser Entdeckung große Männer gelebt und geschrieben haben, die von den Alten wenig oder nichts wußten. Ich darf von den ersten nur Dante, von den letzten nur Shakespeare anführen; wieviel andre möchten zu nennen sein! Die größten Erfindungen sind in den Zeiten gemacht, die wir barbarische, rohe Zeiten nennen; vielleicht haben in ihnen auch die größesten Männer gelebet. Damals standen die Köpfe noch nicht so dicht aneinander; jeder hatte zum eignen Denken freien Raum; um sie war Dämmerung; desto munterer aber wirkten sie und dorften in der Mittagssonne der Alten eben noch nicht erblinden. Wie ein Roger Baco vor hundert Kommentatoren des Aristoteles gilt, so gibt es romantische Gedichte der mittleren, selbst der neueren Zeit, bei denen man den Geschmack der Alten gern vergißt und in ihnen wie im Feenreich lustwandelt. Ich erinnere Sie an so manche Romane, die uns der Graf Tressan und seine Gehülfen gegeben, ja seit Wiederauflebung der Wissenschaften an die größesten Lichter aller kultivierten Nationen. Woher nahmen Ariost und die ihm[80] vorgingen, woher Spenser, Shakespeare, und zwar in seinen rührendsten Stücken, Form und Inhalt? Nicht aus den Alten, sondern aus der Denkart des Volks und seinem Geschmack in ihren und den mittleren Zeiten. Glauben Sie, daß Shakespeare, auch wenn er die Alten mehr gekannt hätte, als er sie kannte, ihnen ängstlicher nachgegangen wäre? Wie leicht konnte er sie kennenlernen, da schon so manche in englischen Übersetzungen neben ihm existierten! Er ließ diese den Ben Jonson studieren und hielt sich an das Märchen, an die Novelle der mittleren Zeit, aus denen er seine dramatische Schöpfung hervorrief. Seitdem haben die Briten den Äschylus, Sophokles, Euripides gelesen, kommentiert, übersetzt und emendieret; aus dem allen aber ist kein zweiter Shakespeare worden.

Zweitens. Zu viele Proben haben es erwiesen, daß die Alten kennen und nachahmen, uns ihnen noch nicht gleichstelle, da ihre gelehrtesten Kenner oft die unglücklichsten Schöpfer gewesen. Wie ging es dem Trissino mit seinem »Befreiten Italien«? dem Gravina und Maffei mit ihren Dramas im Geschmack der Alten? Die gelehrten Kenner der Alten, Casa, Bembo u.f., überstiegen den Petrarca nicht; den Chiabrera, Redi, Filicaja, Lemene vermochte ihre Kenntnis der Alten und ihre Gelehrsamkeit sogar vor dem bösen Geschmack ihrer Zeit nicht zu sichern. Unter den Engländern war Cowley mit den Alten sehr bekannt; er schrieb und dichtete selbst lateinisch; seine prosaischen Aufsätze sind mit der Bescheidenheit und Würde eines Römers geschrieben, und welches sonderbare Phantom bildete sich dieser gelehrte Dichter an Pindar ein! In wie bösem Geschmack erschuf er jene Odengattung, die seinen Landsleuten wirklich ein Verderb des Geschmacks ward! – Also hilft auch hier das Alter für Torheit nicht; jeder Neuere behält seine natürliche Größe, falls er in seinem Studium auch den griechischen und römischen Helikon aufeinandertürmte und sich droben hinaufstellte.

Drittens. Nun kann ich zwar gegen die schöne lateinische[81] Schreibart vieler Neueren in Poesie und Prose nichts einwenden und finde in ihnen für mich ein großes Vergnügen; für sich selbst aber, was taten diese Schriftsteller mehr, als daß sie ihre Pflicht erfüllten? Muß jeder, der in einer Sprache schreibt, in ihr gut zu schreiben suchen, so wäre es ja dreifache Schande, die Sprache, in welcher jene Römer schrieben, schlecht zu behandeln. Wer in ihr nicht schreiben kann, wie er soll, schreibe, wenn er's vermeiden kann, in ihr gar nicht; hat er in ihr leidlich oder gut geschrieben, so ist's ihm nicht mehr Lob als jedem andern, der in seiner Sprache gut spricht, oder einem Flötenspieler, der seine Flöte gut spielet. – Wenn Schriftsteller durch eine sogenannte schöne Schreibart, die bei keinem Vernünftigen von einer guten Denkart getrennet werden kann, wenn vor allen lateinische Schönschreiber sich von einer guten Denkart durch diese Sprache freigesprochen glauben, wo sind wir denn mit der Regel der Alten? Dieser scriptor denkt an Worte; an Sachen und Gründe wenig. Übersetzt sein Latein in eine gemeine Sprache, und ihr findet die trivialsten Dinge in einem Ton gesagt, vor dem die demütige Landessprache beinah verstummet. Dort ging das gelehrte Kind in einem Gängelwagen, oder vielmehr der Gängelwagen (ambitus verborum) ging statt des gelehrten Kindes und nahm es mit; dem rund-viereckten Vehikul entnommen, wie erbärmlich ist seine Gestalt, wie schwach und dürftig! Und doch machte man so oft die Erfahrung, daß unter allen literarisch Stolzen es fast keine stolzeren als die Lateinschreiber gebe. Sie sind die alten Barone, deren Diplom rückwärts über das Christentum, deren Unsterblichkeit vorwärts über den Jüngsten Tag der Landessprache hinausreicht. Sie schreiben nicht für ihre Nation in der sogenannten Vulgar- oder Pöbelsprache, sondern für Welt und Nachwelt in der einzig-unvergänglichen Göttersprache. Wie wohl wird dem Leser in der Geschichte der Literatur, wenn nach zu Grabe getragenen Schoppen (Scioppiorum) die Periode der eigentlichen Wissenschaften (Scienzen) anfängt, in welcher[82] man sich nicht mehr über Worte und Autoritäten schoppisch zankte. –

Endlich. Wahre Kenner der Alten hat es immer nur wenige gegeben! Die Kritik der Silben und Worte ist eine unentbehrliche, nützliche Kunst; sie erfodert Genie, Takt und vor andern viel Kenntnisse, Fleiß und Übung; daß sie aber die Kenntnis der Alten noch nicht sei, von der das Fragment eine Palingenesie der Dinge herzuleiten scheinet, dies ist wohl sonnenklar. Kritiker, wie Ruhnken an Hemsterhuis schildert, sind selten; auch von denen, die die Alten mit Geist lesen, wählt jeder sich gern seinen Alten, den er über alle hinaussetzt, nach welchem er dann, auch mit Fehlern und Schwächen, seine Denkart präget Eine Reihe von Beispielen wäre anzuführen, aus welchen erhellen würde, wie selten wir in den Alten sie selbst, wie noch seltner wir in ihnen ihr Höchstes, das καλον καγαϑον der Griechen- und Römerwelt, ihre Regel des Geschmacks im Wahren, Guten und Schönen studieren. Am öftersten schauen wir sie wie Narzisse an, denken daran, was wir über sie zu sagen haben, und bewundern unsre Gestalt in dem flüssigen Spiegel der alten heiligen Quelle. Statt an ihnen gehen zu lernen, verlieren manche durch sie den gesunden Brauch ihrer eignen Glieder.


93.

Ihre Einwendungen könnte ich mit Sprüchwörtern beantworten, z.B.: »Rom ist nicht in einem Jahr gebaut.« »Je schwerer die Kunst, desto mehr Pfuscher.« »Je organisierter der Körper, desto böser seine Fäulung« u.dgl. Ich will aber mit Gründen antworten; in der Hauptsache sind wir eins.

Daß zu allen Zeiten und unter allen Völkern Talente ans Licht kommen, ist eine Erfahrung, die eben ja jeder Bemühung um Ausbildung der Talente zum Grunde liegt. Nicht in Athen und Rom allein wurden dämonische, göttliche Männer geboren; sie bedorften auch von dorther keiner Beurkundung,[83] daß sie solche waren. Die Gabe der Muse ist eine angeborne Himmelsgabe, die kaum mit Mühe vergraben werden kann. Großer Leidenschaften und Vorstellungen fähig, sehen einige nichts als diese Bilder, sprechen in Leidenschaft, laben sich in Tönen des Wohllauts und fühlen sich geschaffen, die Gemüter andrer mit dem, was sie erfreuet und anregt, auch zu erfreuen und anzuregen. Wenn Poesie noch nicht erfunden wäre, würden solche Menschen sie erfinden, und erfinden sie täglich.

Aber wie sehr Talente dieser Art unter dem Druck einer schlechten Sprache und einer sinnlosen Mitwelt leiden, zeigt eben ja die Geschichte sowohl der rohen als der mittleren dunkeln Zeiten. Gibt es eine Kunst der Sprache, was vermag ohne Werkzeuge der Künstler?

Überdem, wie schwer wird's eben dem feurigsten Kopf, sich innerhalb der Grenzen zu halten, in denen das Wahre, Gute und Schöne eins ist, und eben auf diese, die einzige Weise, in Form und Inhalt, dadurch, was man sagt und wie man es sagt, ewig zu werden. Ihm also sowohl als denen, für die er arbeitet, ist Lehre nötig, eine Disziplin, die uns für andre, andre für uns zubereite, beide vor Ausschweifungen sichre und dem arbeitenden Genius leere Versuche, von denen er mit Reue zurückkommen müßte, erspare. Oft ist das Genie ein Edelstein, der tief im Schacht liegt, in einer harten Rinde begraben; die Rinde muß gesprengt, der Edelstein von der Hand des Künstlers bearbeitet werden u.f. – Wem gab nun die Natur das eigentliche Kunsttalent in größerm Maße als den Griechen? Auf der ganzen Erde keinem Volke wie ihnen. Gleichsam vom Instinkt geleitet, erfanden sie jeder Gestalt und Wissenschaft Maß, Ziel und Umriß. Nicht nur das Zuviele, das Ungehörige, sonderten sie ab, sondern auch dem Bleibenden, der Gestalt selbst, gaben sie Fülle, Leben und Anmut.

Wollen aber Griechen und Römer, sofern sie Griechen und Römer sind, hiemit eine Monarchie errichten, wollen sie Nationalcharaktere unterdrücken, lebende Sprache verdrängen[84] oder verschlimmern? Nichts von allem! Aufmunterung, Ordnung, Verbesserung ist ihr einziger Zweck; man darf also von ihnen nicht mehr fodern, als sie zu leisten vermögen. Sie wollen Kräfte wecken, aber nicht geben; sie sind Vorbilder, keine Schöpfer. Da indessen im Reich der Gedanken von Aufmunterung, zumal durch tätige Vorbilder, von Ordnung und Erziehung viel abhangt, so ist die Herrschaft, die jeder Verständige den Alten freiwillig einräumt, zwar keine Monarchie, aber ein Rat der Besseren zum Besten.

Lassen Sie also die würdigsten Schriften zuweilen von den unwürdigsten Händen behandelt werden, was schadet's? Geht nicht auch das Gold durch die Hände niedriger Bearbeiter und Sammler? Verlor der Diamant dadurch, daß ihn die Dürftigkeit selbst aufgrub? Wenn unter dem Text eines alten Autors sich in den Noten oft über nichts ein schreckliches Gezänk erhebt, so lasset uns vom blutigen Spiel dieser Gladiatoren, die sich zu Ehren des Verstorbenen neben seinem Grabe würgen, hinwegsehn und sie für das halten, was sie sind, Sklaven. Die Worte des Autors werden uns werter, wenn wir uns über die Wasser der Sündflut, die unten den Text überschwemmet hat, zum Gipfel emporheben und da den friedlichen Ölzweig finden. –

Da endlich der Geist, den wir aus den Schriften der Alten ziehn sollen, gesunder Verstand und ein gesundes Herz, die wahre Philosophie und Richtung des Lebens, bona Mens und Humanität ist, so ist die Einführung dieser Gottheiten für uns und unsre Nachkommen ein Werk von fortdaurender, wachsender Wirkung. Zuerst mußten diese Schriften gefunden, vervielfältiget, erklärt, erläutert, von Fehlern gereinigt, verstanden werden, ehe ihr besserer, ihr weiserer Gebrauch in jeder Anwendung ein Hauptzweck werden konnte. Hie und da ist er es schon geworden; er wird's noch mehr werden. Die Zeit der Solipsorum geht zu Ende; zu einem gemeinen Besten arbeiten wir alle.


Nachschrift

[85] Jener Amerikaner glaubte, daß in jedem Brief ein Geist eingeschlossen sei; ich wollte, daß ich diesem Briefe einen Geist einschließen könnte, den Geist der Alten. Hören Sie darüber einen apokryphischen Schriftsteller:

»Gerade, als ob unser Lernen bloß ein Erinnern wäre, weiset man uns immer auf die Denkmale der Alten, den Geist bloß durch das Gedächtnis zu bilden. Wir wissen selbst nicht recht, was wir in den Griechen und Römern bis zur Abgötterei bewundern.

Gleich einem Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, nachdem er sich aber beschauet hat, von Stund an davongeht und vergisset, wie er gestaltet war, ebenso gehen wir mit den Alten um. Gar anders sitzt ein Maler zu seinem eignen Bilde«

»Da ich bloß dem Geist der Alten nachspüre, so geht mich das Schulmeistergesicht nichts an, womit die ** ihren Autor Lesern und Zuhörern verekeln. Ich will sehr zufrieden sein, wenn ich mein Griechisch nur ungefähr so verstehe, wie Überbringer dieses seine Muttersprache Wer die Alten, ohne die Natur zu kennen, studiert, lieset Noten ohne Text und an Petrons Ausgabe in Großquart über ein klein Fragment sich wenigstens zu einem Doktor. Wer kein Fell überm Auge hat, für den hat Homer keine Decke. Wer aber den hellen Tag noch nie gesehen, an dem werden weder Didymus noch Eustathius Wunder tun. – – Der Zorn benimmt mir alle Überlegung, wenn ich daran gedenke, wie solch eine edle Gabe Gottes, als die Wissenschaften sind, verwüstet, von starken Geistern zerrissen, von faulen Mönchen zertreten werden, und wie es möglich, daß junge Leute in die alte Fee, Gelehrsamkeit, ohne Zähne und Haare (etwa falsche) verliebt sein können.«

So spricht ein Eifrer für den guten Gebrauch der Alten, und wieviel mehr könnte man davon sagen! Aber wie jemand ist, so tut er; wie wir selbst denken, so nutzen wir die Alten.


94.

[86] Die Nachschrift Ihres Briefes hat mir eine alte Wunde aufgerissen, die ziemlich verharscht war, nämlich wie wir, insonderheit mit unsrer Jugend, die Alten lesen. »Das Salz der Gelehrsamkeit,« sagt Ihr Apokryphus, »ist ein gut Ding; wenn aber das Salz tumm wird, womit soll man salzen?« – Bloße Gelehrsamkeit zerstreuet und ermüdet; alles macht sie zu nacktem, vielleicht unnötigem Wissen von Worten, Stellen und Gebräuchen; sie wirft die Seele hin und her. Das Gemüt der Jugend will gesammlet, will auf den Kern gerichtet, will fürs Leben gebildet und gestärkt sein.

Ich begreife selbst, was für eine schwere Aufgabe es ist, so viele, so mannigfaltige Schriftsteller der Griechen und Römer, Dichter, Redner, Geschichtschreiber und Philosophen mit unsrer Jugend nutzbar zu lesen; der Grundsatz indessen, nach welchem sie gelesen werden müssen, ist außer Zweifel. Es ist der Sinn der Alten selbst, das Gefühl vom Wahren, Guten und Schönen, diese alle zu einem System verbunden, in eine Gestalt geordnet. Man nenne diese Gestalt das Anständige, das sich Geziemende, honestum, decorum, καλον, πρεπον oder wie man wolle; sie ist ein unterscheidender Zug der Komposition und Denkart der Alten in ihren besten Schriftstellern und würdigsten Männern, auf welchen das Auge der Jugend sich vorzüglich heften müßte.

In der Komposition der Alten nämlich hat alles Zweck, Plan und Ordnung. Nichts stehet am unrechten Ort, nichts ist müßig und unschicklich dahingeworfen; und im Ganzen herrscht, wo es irgend sein kann, lebendige Darstellung und Handlung Die griechische Sprache z.B. ist von der Bildung der Worte an bis zum Bau ihrer Silbenmaße und Perioden ein Muster des Wohlklanges, der Zusammenfügung, der Bedeutsamkeit und Grazie des Ausdrucks; die lateinische Sprache eifert ihr nach Wie in Statuen und Gebäuden die Kunst der Alten Einfalt und Würde, Bedeutung und Anmut zu vereinigen wußte, so vereinigen es die Meisterwerke ihrer[87] Sprache. Wer in Homer und Pindar, in Herodot, Plato, Cicero, Livius und Horaz diese Schicklichkeit und Kongruenz der Teile zur Eurhythmie des Ganzen weder zu finden noch anschaulich zu machen weiß, der ist des Geistes, in dem sie arbeiteten und dachten, nicht innegeworden. In wenige Werke der Neueren hat sich dieser organische Geist ergossen; wo er erscheint, macht er ein Werk seiner Natur nach unsterblich. Einfalt also und Würde, Bedeutsamkeit und Wohlordnung haben wir von den Alten zu lernen, um unsrer Denkart und Sprache im Kleinsten und Größesten eine solche Gestalt zu geben.

Aber das Anständige der Alten erstrecket sich weiter, indem Charaktere, Sitten, Grundsätze und Meinungen nicht etwa nur zu schildern, sondern darzustellen und zu verknüpfen der Zweck ihrer erlesensten Werke war. Die Tugend ist ein καλον, ein Anständiges und Vortreffliches, das mit Liebe gesucht werden will und nur durch unablässige Übung erlangt wird. Ihre besten Schriftsteller jeglicher Art zeigen darauf als auf das Zünglein der Waage menschlicher Handlungen und den edelsten Kampfpreis des menschlichen Lebens. Licht und Schatten stellen sie dar; sie kontrastieren und gruppieren Gestalten, Sinnesarten und Meinungen ohne jene neuere überspannende Heuchelei, die im Grunde jede Anwendung verwirret und zuletzt die ganze Sittlichkeit aufhebt. Haben wir das Gefühl des Anständigen, des Großen, Schönen, Anmutigen und Edlen verloren, was hält uns zurück, daß wir nicht ärger als Tiere werden? Verächtlicher sind wir gewiß. Dies Gefühl moralischer Schicklichkeit, Würde und Grazie durch Lesung der Alten in uns zu wecken und zu erhalten ist um so nötiger, da in der gegenwärtigen Welt eine Konvenienz in niederträchtigen, frechen Meinungen, die für Grundsätze gelten und im offenen Gebrauch sind, dasselbe ganz zu ersticken drohen. Daß sich zwischen uns und jenen einige äußere Umstände verändert haben und sowohl der Heroismus als der Patriotismus eine andre Gestalt gewonnen, darf jenem Gefühl, dem Charakter der Menschheit, nicht[88] schaden. Wir können edlere Heroen sein als Achill, schönere Patrioten als Horatius Cocles.

Hier also liegt meines Erachtens die Regel; sie ist eine logische, poetische, ethische Regel. Barbaren kennen sie nicht; losgebundene Willkür verachtet sie, zerstreuende Gelehrsamkeit geht vorüber. Wer sie fand, wer in seiner Jugend nach ihr gebildet wurde, der kann sie nicht vergessen; sie hat sich seinem Gemüt eingedrückt als das Herz seines Herzens, als die Seele seiner Seele. »Id facere laus est, quod decet, non quod licet.« »Quod decet, honestum est, et quod honestum est, decet.«


95.
Siebentes Fragment

Schrift und Buchdruckerei


Als bei den Griechen die Schrift noch nicht oder wenig im Gebrauch war, erklang die Sprache als ein lebendiges Wort; die Stimme des Dichters und seines Sängers war eine Aufbewahrerin aller menschlichen Empfindungen und Gedanken. Daher die Gestalt der ältesten Poesie in ihrem Reichtum an Bildern und Tönen, in ihrer Naturpracht und Naturschönheit, aber auch in ihrer Wandelbarkeit, ihrer Ungewißheit, ihren Fehlern und Mängeln.

Mit Einführung der Schrift ging der größeste Teil dieses alten Worts zu Grabe; nur weniges von ihm ward aufbehalten und allmählich geregelt. Mit Einführung der Schrift kam Prose auf, Geschichte und Beredsamkeit wurden ausgebildet; und wenn sich jetzt die Poesie neben ihnen hervortun wollte, so lief sie Gefahr, stolz, aufgeblasen und, wo sie vom lebendigen Vortrage ganz entfernt war, unverständlich und schwindelnd zu werden. Eben nur der lebendige Vortrag hatte sie[89] ehemals im Kreise einer schönen Anschaulichkeit erhalten; auf dem Theater (die Chöre ausgenommen) erhielt er sie noch lange in diesem glücklichen Kreise.

Da indessen bei einem so lebhaften Volk, wie die Griechen waren, auch das Geschriebene zum lebendigen Vortrage geschrieben war, indem Herodot z.B. einige Bücher seiner Geschichte zu Olympia wie ein Gedicht vorlas, und in den griechischen Republiken die öffentliche Beredsamkeit jeder Art des Vortrages, selbst der Philosophie, den Ton angab, so mußte notwendig auch in Schriften der Griechen sich lange Zeit jene alte, wenn ich so sagen darf, poetische Weise er halten: zu schreiben, als ob man spräche. Schreibend trug man vor; man schrieb gleichsam laut und öffentlich, als ob zu jedem Buch ein Vorleser wie sein Genius gehörte. Ohne Zweifel ist dieses die Ursache, warum in der Prose der griechische Periode so künstlich und schön wie in keiner andern Sprache ausgebildet worden; der offne Mund der Griechen, die Poesie, die ihm vorging, und der öffentliche Redevortrag, der den Rhapsodien der Poesie folgte, hatten ihn geformet.

Bei den Römern nicht anders; denn auch bei ihnen herrschte die Beredsamkeit und der öffentliche Vortrag. Ihre Gedichte lasen sie öffentlich vor; aus Persius, Juvenal, Plinius u.a. wissen wir, mit welcher Sorgfalt, mit welchem Aufwande von Kunst, zuletzt von Ziererei und Torheit.

Bei Griechen und Römern war das Bücherwesen anders wie bei uns bestellt. Man las viel weniger; große Bibliotheken waren selten und die Büchermaterialien kostbar. Man schrieb also auch weniger. In Rom schrieb nicht jeder Sklave und Bürger, sondern nur die zur Gelehrsamkeit oder zu Geschäften Erzogene: Menschen von gutem Ton, Feldherren, Staatsmänner, Kaiser. Man hielt das Schreiben für etwas Edles und, aufs beste zu schreiben, für einen Ruhm, der länger als ein Triumph währte.

Man nahm sich daher im Schreiben eine bestimmte Bahn; Zeitgenossen und Freunde teileten sich in dieses oder jenes Feld der Bearbeitung, und wie die römische Sprache imperatorisch[90] gebot, so liebte sie auch in der Schreibart die Kürze, die Bestimmtheit. Oft kehrte man den Stil um und löschte aus; man glättete und zierte, wie die Schreibtafel, so auch die Gedanken.

Der mühsamere Weg, wie man damals zu Büchern kommen konnte, machte Bücher auch werter; bei einem höheren Begriff von dem, was sie enthielten, wandte man auch mehr Fleiß auf das, was sie enthalten sollten. Welchen Wert legte Horaz auf seine wenigen Schriften! lange poliert, ließ er ein kleines Buch nach dem andern erscheinen, das bei uns wie ein Tropfe in den Ozean fließen würde. Höchst ausgearbeitet sind Virgils Werke; und dennoch war ihm die »Äneis« nicht ausgearbeitet gnug. Er wollte, daß sie ihn nicht überlebte. So sorgfältig hervorgetrieben sind fast alle Schriften, insonderheit die Gedichte der Römer. Mit drei kleinen Büchern seiner Elegien wollte Properz vor der Proserpina erscheinen; in sie alle Schönheiten der griechischen Elegie gebracht zu haben, diese Ehre war der Zweck seines Lebens. Setzet ihn, setzet Horaz, und wen Ihr wollet, in unsre bücherreichen Zeiten: schwerlich hätten sie mit soviel Zuversicht, mit so umfassendem, tiefdringenden Fleiße gedichtet. Bis zu Boëthius und Ausonius hin ist fast jedes kleinste römische Werk ein Mosaik, ein gearbeitetes Fresko– oder Miniaturgemälde.

Jedermann ist bekannt, daß in den mittleren Zeiten die Barbarei einesteils auch vom Mangel an Büchern und Schreibmaterialien herkam. Wie manche schöne Schrift der Alten ward von den Mönchen unwiederbringlich verlöscht, damit sie auf das dadurch gewonnene Pergament ihre Chorgesänge und Homilien schreiben konnten. Heil dem Erfinder des Lumpenpapiers! wo er begraben liege, Heil ihm! Mehr als alle Monarchen der Erde hat er für unsre Literatur getan, deren ganzer Betrieb von Lumpen ausgeht und so oft in Makulatur endet! Wie der Sonnenschein die Fliegen, so hat er Schriftsteller geweckt und die Sosien bereichert.

Denn man bemerke: eben in dem Jahrhunderte, in dem das Lumpenpapier in Gebrauch kam, traten auch jene längeren [91] Romane hervor, die vorher jahrhundertelang kurze Volksmärchen oder Lieder und Fabeln gewesen waren. Wie entfernt z.B. hatte Karl der Große vom Erzbischof Turpin, König Artus von Gottfried von Monmouth, Wolfdietrich von Eschilbach und jeder andre Romanheld von seinem Chronik- oder Romanschreiber gelebet! Keiner von diesen Schreibern erfand die Fabel, die er in die Büchersprache brachte; sie war längst im Munde der Sänger oder des Volks gewesen und in ihm vielfach verändert worden. Jetzt nahm sie der Genius der Unsterblichkeit auf; denn das Lumpenpapier war erfunden. Allgemach lernte man lesen, da man sonst den Sänger und Fabelerzähler nur hatte hören können.

So vermehrten sich Chroniken, Romane, allmählich auch Abschriften der Alten. Wäre die Erfindung des Lumpenpapiers früher gekommen, wieviel weniger wäre untergegangen! wieviel Schätzbares hätten wir ihr zu danken! Und noch sind wir ihr sowohl durch Überschreibung aus älteren Pergamenten als durch die von ihr veranlaßte Umarbeitungen alter Sagen und sonst viel schuldig.

Was indessen ehemals das ägyptische Schilf (βιβλοσ)

getan hatte, daß es nämlich die griechischen Rhapsoden allmählich verstummen machte und statt ihrer lebendigen Gesänge Bücher (βιβλια) in die Hand gab, das taten mit der Zeit auch die Baumwoll– und Lumpenschriften. Provenzalen und Trobadoren, Fabel- und Minnesinger schwiegen allmählich; denn man saß und las. Je mehr sich Schriften vermehrten, desto mehr verminderten sich ganz eigentümliche, freie Gedanken; endlich ward der menschliche Geist ganz in Lumpen gekleidet. Auf diese ward geschrieben, was man lesen und nicht lesen wollte; mochte es am Ende sich selbst lesen! –

Nun trat die Buchdruckerei hinzu und gab beschriebenen Lumpen Hügel. In alle Welt fliegen sie; mit jedem Jahr, mit jeder Tagesstunde vom ersten erwachenden Morgenstrahl an wachsen dieser literarischen Fama die Schwingen, bis an den Rand der Erde. Jenes Orakel: »Wenn Menschen schweigen, so werden die Steine schreien,« ist erfüllt; worüber Menschenstimmen[92] schweigen, darüber sprechen und schreien gegossene Buchstaben, merkantilische Hefte.

Nach so vielen andern eine Lobrede der Buchdruckerei zu halten wäre ein sehr unnötiges Werk; wir wissen alle, was wir an ihr haben. Nur durch sie, erst durch sie ist zusammenhangende und verglichene Erfahrung des menschlichen Geschlechts, Kritik, Geschichte und eine Welt der Wissenschaften worden.

Aber auch was wir an ihr nicht haben, ist zu bemerken: was sie nämlich nicht geben kann, ja worin sie störet. Eignen Geist nämlich kann sie nicht geben; lebhafteren, tieferen Genuß an der Quelle des Wahren, Guten und Schönen mag sie durch die unzählbare Konkurrenz fremder Gedanken hier befördern, dort aber auch hindern.

Mit der Buchdruckerei nämlich kam alles an den Tag; die Gedanken aller Nationen, alter und neuer, flossen ineinander. Wer die Stimmen zu sondern und jede zu rechter Zeit zu hören wußte, für den war dies große Odeum sehr lehrreich; andre ergriff die Bücherwut; sie wurden verwirrte Buchstabenmänner und zu letzt selbst in Person gedruckte Buchstaben.

Von Anbeginn ist dies nicht also gewesen. Ursprünglich dachte der Mensch, er handelte und genoß, er sprach und hörte. Wenn er schreiben konnte, schrieb er, nur aber, was zu schreiben war; nicht ward er selbst, ohne zu sehen und zu hören, ein schreibender Buchstab; jetzt – – –

Ist dessen die menschliche Natur fähig? kann sie es ertragen? Verwirren sich in diesem gedruckten Babel nicht alle Gedanken? Und wenn dir jetzt täglich nur zehn Tages- und Zeitschriften zufliegen und in jedem nur fünf Stimmen zutönen: wo hast du am Ende deinen Kopf? wo behältst du Zeit zu eignem Nachdenken und zu Geschäften? Offenbar hat's unsre gedruckte Literatur darauf angelegt, den armen menschlichen Geist völlig zu verwirren und ihm alle Nüchternheit, Kraft und Zeit zu einer stillen und edlen Selbstbildung zu rauben. Selbst in der Gesellschaft sind die menschlichen Stimmen verhallet; Romane sprechen und Journale.[93]

Diderot hat irgendwo die Frage an sich getan, die wohl jeder tut, wenn er aufs Land oder auf eine Reise gehet: »welche Bücher er als Freunde mit sich nehmen möchte?« Wie im Leben so hat auch im Lesen der Mann von Herz nur wenige geprüfte Freunde, und bei eigner Komposition bleibet er gern allein.

Würden Homer und Sophokles, Horaz, Dante und Petrarca, würden Shakespeare und Milton ihre Werke im Kreise unsrer Bücher- und Lesewelt gemacht haben? Schwerlich.

Denn unverkennbar ist's, daß, je mehr durch die Buchdruckerei die Werke aller Nationen allen gemein wurden, der ruhige Gang eigentümlicher Komposition großenteils aufgehört hat. Wer fürs Publikum schreibt, schreibt selten mehr ganz für sich als den innersten Richter; daher Pascal und Rousseau unter so vielen Autoren so wenige Menschen fanden. Wird nun das Publikum gar wie ein blinder Maulesel gelenkt, und schmeichelt der Schriftsteller der Zunft, die es äffet und leitet: »Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern?« möchte man sodann jedem Schriftsteller sagen, der aus Not oder Feigheit dem häßlichen Götzen Modegeschmack dienet.

»Schreibe!,« sprach jene Stimme, und der Prophet antwortete: »Für wen?« Die Stimme sprach: »Schreibe für die Toten! für die, die du in der Vorwelt lieb hast.« – »Werden sie mich lesen?« – »Ja; denn sie kommen zurück, als Nachwelt.«




96.

»Απεχου, ανεχου!« »Enthalte dich, dulde!« Sind wir denn mit der Literatur aller Welt vermählet? Ist kein Riegel zu finden, der uns gegen das Andringen schwarzer Buchstaben schütze? kein Seil zu finden, das uns am Mastbaum halte, indem wir mitten durch den Gesang derer, die da wissen, was war, ist und sein wird, gerade hindurchfahren? Gehört fremden Meinungen unser Geschmack und Verstand, unser[94] Wille und gewissen Gehören den Seeleverkäufern unsere Seelen?

Wahr ist's. Mit der Buchdruckerei hat sich im Reich der Gedanken vieles geändert, und es kann wohl sein, daß, wenn die Wissenschaften durch sie steigen, der Geschmack sich durch sie verwirren, Genie und Sitten endlich vielleicht gar zugrunde gehen müßten, wenn sich nicht ein hülfreicher Genius des menschlichen Geschlechts annähme. Lassen Sie uns aber an diesem hülfreichen Genius nicht zweifeln.

Ehe Buchdruckerei da war, ging jede europäische Nation in einem engeren Bezirk von Ideen umher; ihr Charakter war vielleicht fester. Durch Reisen und Lesen ist allem Bösen und Guten fremder Nationen die Tür geöffnet, und wenn es sich durch den Namen Geschmack, »neuer, fremder Geschmack,« Aufmerksamkeit erwerben kann, so hat es ohne weitere Überlegung die Menge für sich. Welchen Torheiten haben wir nicht nachgeahmt? welchen werden wir noch nachahmen! Nicht etwa nur im spanischen, englischen, französischen, griechischen, ebräischen, selbst im arabischen, tatarischen, sinesischen Geschmack haben wir Deutsche gesungen und gedichtet. Die Sprache aller Wissenschaften, Bilder und Ausdrücke der verschiedensten Völker sind in unsre Poesie, in jeden Vortrag, der das Volk angehen soll, geflossen, so daß von jener tonhaltenden, gleichmütigen Denk- und Schreibart, in welche Griechen und Römer das Wesen der Schreibart setzten, wenige einen Begriff zu haben scheinen. Aus allen Völkern wird für alle Völker, aus allen Sprachen für alle Sprachen geschrieben; die subtilste Abstraktion und die niedrigste Popularität finden in demselben Buch, oft auf derselben Seite nebeneinander Raum. Wenn wir das Richtmaß, das Samuel Johnson an einige englische, von ihm genannte metaphysische Dichter angelegt hat, an jede Produktion unsrer Sprache anlegen wollten, wo stünden wir?

Vor der Buchdruckerei war es möglich, diese und jene Schrift vor diesen und jenen Augen zu verbergen; kaum ist dieses jetzt mehr möglich. Alles lieset alles, es möge von ihm[95] verstanden werden oder nicht; nach der verbotnen Speise lüstet man am meisten. Und da die Torheit derer, die dies zu frühe, zu viele, zu vermischte Lesen auf die unvorsichtigste Art befördern, mit dem Eigennutz, dem Stolz, der Eitelkeit, dem Erwerb andrer im festesten und schädlichsten Bunde stehet, so kann nur eine Macht in der Welt diesen Unfug hemmen. Es ist bessere Erziehung, die ihre Zöglinge nicht erst durch Schaden klug werden läßt, und ein stiller Bund aller Guten untereinander, nichts Unwürdiges zu verbreiten oder zu loben. Möge Gift mischen, wer da will, und das am feinsten gemischte Gift die lautesten Ausrufer finden, von uns sei der Giftmischer sowie der Ausrufer verachtet, Mit der Verwirrung des Geschmacks und dem Despotismus fabrizierender Schriftstellerei ist's so weit gekommen, daß, da das Schlechteste ohn alles Erröten auf die unverschämteste Weise gelobt werden darf, dieser unverschämte Despotismus sich selbst seinen Fall bereitet. Er muß sich selbst einen Widerstand erwecken, der ihn einschränke und bezäume, oder wir gehen durch unsre Lizenz zugrunde; denn da durch die Buchdruckerei die Kritik selbst feil geworden ist, so hat sie auch bei den Niedrigsten ihr Ansehen verloren. Ihre Faszen gelten sowenig mehr als ihr Lorbeer.

Ich komme zurück auf meinen Bund der Freunde. Wie die Buchdruckerei, so wird die Kupferstecherkunst gemißbraucht; jene hat den Geschmack in Werken des Geistes, diese in Werken der Kunst beinahe zugrunde gerichtet. Nur ein Mittel ist gegen sie wirksam: entschlossene äußerste Verachtung. Niemand kaufe ein Buch, das schlechter Kupferstiche wegen da ist; niemand besudle mit diesen Verderberinnen des Geschmacks seine Wände; denn so wie durch schlechte Bücher gute verhindert werden, so wird durch schlechte Kupferstiche die wahre Kunst getötet. Ägyptische Schwarzkünstler wollen wir die heißen, die diese beiden großen Erfindungen unsrer Nation zu einem niedrigen Erwerb entweihet haben, und Schwarzkünstlerknechte diejenigen, die ihnen zu ihrer schändlichen Fabrikware artistisch oder literarisch helfen.


97.
Achtes Fragment

[96] Reformation, Handel und Wissenschaften


Großen Begebenheiten sind immer Revolutionen des Geschmacks gefolget. Ohne in die Geschichte der Griechen und Römer, der Mönchs- und Ritterzeiten zurückgehen zu dürfen, sehen wir dies insonderheit in den Jahrhunderten, die der Reformation vorangingen und ihr folgten.

Europa ward allgemach ruhiger. Städte, Handel und Gewerbe, mit ihnen auch einige Künste fingen an zu blühen; nach und nach verfeinte sich der Geschmack mit ihnen. Dante, Petrarca, Boccaz erschienen; es erwachten die Alten in ihren Gräbern. Konstantinopel ward erobert, die Griechen flohen nach Italien, und es entstand ein Enthusiasmus ohne seinesgleichen. Die schönen Künste und die Literatur der Alten war, wiefern es die Zeit gestattete und angab, auf ihrem höchsten Gipfel.

Die Entdeckung fremder Weltteile, ein veränderter Zustand der Finanzen, des Krieges, der Stände folgte; die Buchdruckerei kam in Gang; ihr folgten neue, zumal Naturwissenschaften; dies alles läutete der Poesie der mittleren Zeiten völlig zu Grabe. Die Entdeckung fremder Weltteile mochten späterhin Camoens, Ercilla u.a. singen; der Gegenstand war groß und neu; Wunder der Natur, ungesehene Dinge wurden beschrieben; in Wissenschaften kam ein neues Universum zum Anblick, und doch taten die Gesänge von ihnen bei weitem nicht die Wirkung, die einst vielleicht ein kleiner Fabelgesang getan hatte. In dem Verhältnis, als hie und da der Reichtum, die Pracht und Freigebigkeit alter großer Familien sank, erlosch auch der Glanz ihrer alten Taten; mit ihren Hofhaltungen gingen auch ihre Lobgesänge hinunter. –

Die Reformation endlich und die Philosophie, die ihr folgte, schufen der Poesie völlig eine andre Zeit. Jahrhundertelang hatte man Klagen angestimmt über den verderbten Zustand[97] der Klerisei und aller Stände; die Zeit war gekommen, da die Erbitterung aufs höchste stieg und nicht minder in Versen als in Prose ihre scharfen Pfeile abschoß. Eine Menge Satiren dieses Inhalts, zum Teil voll Geist und Herz, erschienen; schade, daß sie sich mit der Zeit selbst überlebt haben; denn daurende Gesänge konnten sie nicht bleiben. Die Reformation selbst ist weniger eines heroischen Lob- als eines philosophischen Lehrgedichts fähig; die Verdienste der Reformatoren zeigen sich würdiger in ihren Lebensbeschreibungen und eignen Schriften als in Heldengesängen und Oden. Überhaupt verjagte das neue Licht und die zugleich mit ihm aufkommende Streittheologie aller christlichen Parteien in Europa sowohl die Schatten des Aberglaubens als manche schöne Einkleidungen, die für die Einfalt der mittleren Zeiten sehr weise ersonnen waren.

Hier beginnet nun eine große Scheidung der Völker. Nationen, die ihrem alten Lehrsystem zugetan blieben, hielten auch an ihrer alten Dichterweise, z.B. Italiener, Spanier und andre katholische Völker. Je früher sie zum guten Geschmack gelangt waren, je vielseitiger er sich bei ihnen eingewurzelt hatte, je größere Vorbilder sie besaßen, desto fester hingen sie an ihren Stanzen und Reimen. Italien ließ sich seinen Dante und Petrarca, Spanien seinen Lope, Garcilasso u.f. nicht nehmen; auch hat sich seitdem das Äußere ihrer Poesie völlig erhalten, obgleich deswegen, wie man oft glaubt, der Geist dieser Nationen seitdem nicht stillstand. Die alten Formen dünkten ihnen gut, und sie gossen darein, wenn der Genius sie antrieb, neue Gedanken.

In der protestantischen Welt dagegen kam eine neue Poesie auf. Nicht etwa nur Gegenstände der Religion wurden durch das Medium der neuen Aufklärung gesehen, sondern die gesamte Vorwelt ward durch ebendieses Medium betrachtet. In Spanien und Italien hätten Shakespeare. Milton, Butler u.f. nicht schreiben können, wie sie schrieben; eine Freimütigkeit im Denken, die ein Vorbote der Philosophie war, hatte sich in den protestantischen Ländern über manches schon verbreitet;[98] andern Gegenständen nahte sie sich nach ebender Regel. Unvermerkt also nahm die Poesie der neuen Glaubensverwandten eine philosophische Hülle um sich, die der Sinnlichkeit vielleicht schadete, dem menschlichen Geist aber notwendig war. Ein Italiener z.B. wird in den meisten Oden der Engländer durchaus nichts Lyrisches finden, da ihnen, seinem Ohr und Auge nach, Wohlklang, Fortleitung und Bestandheit der Bilder, Zusammenhang der Empfindung, kurz, Melodie und Harmonie fehlet. W. Jones zergliedert hinter seinem Kommentar über die Poesie der Morgenländer den Anfang von Miltons »Paradiese« und kann in ihm nach morgenländischer Weise nichts Poetisches finden. Vielen deutschen Dichtern würde es nicht besser ergehen; denn offenbar sind die meisten nur durch Reflexion Dichter. In den ältern Zeiten, in denen man sich der Natur freier hingab, diese in sich stehen und auf sich unbefangen wirken ließ oder sie, so gut man's vermochte, zur Kunst umschuf, war und blieb man ein Natursänger, der auf gleichgestimmte Gemüter seine Wirkung nicht verfehlte. In mancher alten englischen Ballade ist vielleicht mehr freier Wohlklang und poetischer Geist als in Young und Pope miteinander. Durch Reflexion sind diese Poeten; eine denkende ist die britische Muse.

Seit der Reformation und dem hell aufgegangnen Licht der Wissenschaften gelangen also keine persönlichen Heldengedichte mehr, mit dem Wunderbaren der alten Zeit bekleidet. Ariost konnte die Märchen, die man ehemals geglaubt hatte, seinen Italienern zierlich in Stanzen kleiden; ihm und ihnen waren sie zeitkürzende Märchen, die niemand glauben sollte. Uns kann Wieland die Geschichte Huons mit allem Zauber der Feenwelt darstellen; in seinem Märchen ist Oberon eine so wahre Person wie Huon und Karl der Große. Wenn aber Tasso eine für wahr gehaltene Religion mit in seine Dichtung mischte, so stehen beide schon nicht auf einem Grunde; selbst dem katholischen Glauben nach wird er in diesen zwischen Wahrheit und Trug gemischten Szenen eine schwächere Wirkung hervorbringen, als die ein reines Märchen[99] hervorbrächte. Protestanten werden den Milton wie einen Bramante und Michael Angelo bewundern, schwerlich aber sein Gedicht mit so ungestörtem Glauben lesen, wie sie ein reines Märchen lesen würden; das Religionssystem schadet seinem Gedichte. – Historische Epopeen haben daher in der neueren Zeit fast keine Wirkung getan, weil ihnen als Gedichten durchaus der Glaube fehlet. Das Zeitalter der Elisabeth, ob sie gleich selbst eine Dichterin war und Schmeicheleien sehr liebte, ward nur in Sonetten besungen oder in Allegorien; Cromwell und die Wiederherstellung Karls II. nur in Oden gepriesen. Auch mit größeren Talenten, als Chapelain hatte, wäre seine Jeanne d'Arc so wenig die bleibende Nationalheldin einer Epopee geworden, als wenig es Voltaires Heinrich der Vierte worden ist. Nur in Stellen kann seine »Henriade« etwa als ein philosophisches Lehrgedicht gelten; der Streit zwischen Dichtung und Geschichte ist und bleibt in ihr widrig. Auch kein Held der Deutschen hat hinter Otnit, Dietrich von Bern, dem Könige Giebich und dem Zwergenkönige Laurin den epischen Lorbeer erlangen mögen, weder Heinrich, der Befreier Deutschlands, noch Maximilian, Gustav Adolf u.f. Durch eine aufrichtige Beschreibung ihrer Taten werden sie mehr geehrt als durch eine mit Wahrheit gemischte Fabel, der am Ende niemand glaubet. Wir sind aus dieser Dämmerung hinaus und wollen durchaus Märchen als Märchen, Geschichte als Geschichte lesen. Ein Teil der platonischen Gesetzgebung in Ansehung der Dichter ist also ohne Hinaustreibung derselben bloß und allein durch die linde Hand der Zeit bewirkt worden; eine verwirrte Mischung der Fabel und Wahrheit widerstehet unserm Gedankenkreise.

Was vom Lobe gesagt ist, gilt auch vom Tadel; die echte Muse hasset auch in ihm alles zu Bittere, geschweige die Verleumdung. Warum fallen persönliche Satiren so bald in Vergessenheit oder Verachtung? Ihrer Ungerechtigkeit und Übertreibung, kurz, des unedlen Gemüts wegen, das der Begeistrung einer Muse nicht wert war. Es gibt z.B. kaum ein witzigeres, ein lehrreicheres Gedicht gegen die Schwärmerei,[100] als Butlers »Hudibras« ist; auch hat es zur damaligen Zeit seinen Zweck mehr erreicht, als wenn der Dichter auf den königlichen Märtyrer das frömmste Heldengedicht geschrieben hätte; wer indessen wird es jetzt ohne einigen Überdruß, wenigstens ohne den Wunsch lesen, daß sein Verfasser die Gabe der Muse, die er besaß, edler angewandt hätte? – Swift, vielleicht der strengste Verstandesmann, den England unter seine Schriftsteller zählet, der unbestochenste Richter in Sachen des Geschmacks und der Schreibart, gab sich, von bösen Zeitverbindungen gelockt, ins Feld der Satire; wer aber ist, der von Anfange bis zu Ende seines Lebens ihn deswegen nicht bitter beklaget? So treffend seine Streiche, so vernünftig seine Raserei in Einkleidungen und Gleichnissen sein mag, wie anders sind seine Sätze und Sprüche, wo er reine Vernunft redet! Alles, was die Engländer humour nennen, ist Übertreibung; ein verzeihlicher Fehler der Natur, der hie und da zur Schönheit werden kann, nur aber zu einer National- und Zeitschönheit. Die Alten kannten das Reizende eines kleinen Eigensinnes auch; sie waren aber weit entfernt, die ganze Gestalt eines Menschen als Unform diesem einen Zuge aufzuopfern. Nur dahin ist humour zu sparen, wohin er gehöret, und die gemeine humoristische Poesie hat das Unglück, daß sie sich mit der Stunde selbst überlebet.

Was vom Lobe und Tadel gilt, gilt auch von der sogenannten poetischen Beschreibung. Alle Poesie ist von der Zeit abgedankt oder wird von ihr abgedankt werden, die durch Bilder und Gleichnisse die Sache selbst, die durch Farben und Zierat das Bild verdunkelt. So manche poetische Landbeschreibung der Engländer steht da, daß sie uns mit sehenden Augen blind mache; so manche andre, daß wir bei Umschreibungen bekannter Gegenstände oder Begriffe gar nichts denken sollen. Die meisten metaphysischen Gedichte aller Nationen hat ein neues System der Folgezeit sanft in Vergessenheit gebracht; die Dichtkunst vollends, die unter dem Vorwande, neue Erfindungen zu schildern, das Wörterbuch neuer Künste und Handwerke poetisch zu ergänzen sich anmaßt,[101] sie gehört völlig unter die unfreien Künste. Der Muse sind bessere Schilderungen angewiesen als die, worin sie der Handwerker selbst durch eine schlichte Erzählung bei Vorzeigung der Instrumente übertreffen möchte.

Endlich das Unmoralische des Dichters. Hier hat die Zeit gewaltsam den Vorhang aufgezogen und in ihrem strengen Gericht keiner falschen Grazie geschonet. Wo sind die – – –? Wo sind sie? Wer will, wer mag sie lesen? Und nicht auf unzüchtige Dichter allein geht dies Urteil des Rhadamanthus, sondern auch auf jeden widernatürlichen, wahre Verhältnisse des Lebens zerstörenden Dichter. Wie manches Beispiel haben wir auch hierüber schon erlebet! Dies Licht, diesen Tag haben Reformation, Philosophie und der unbestechliche Zeuge in uns, das reine Menschengefühl, verbreitet.




98.

Der Unterschied, den das Fragment zwischen Poesie aus Reflexion und (wie soll ich sie nennen?) der reinen Fabelpoesie macht, ist mir aus der Geschichte der Zeiten, auf die das Fragment weiset, ganz erklärlich worden. Solange nämlich der Dichter nichts sein wollte als Minstrel, ein Sänger, der uns die Begebenheit selbst phantastisch vors Auge bringt und solche mit seiner Harfe fast unmerklich begleitet, solange ladet der gleichsam blinde Sänger uns zum unmittelbaren Anschauen derselben ein. Nicht auf sich will er die Blicke ziehen, weder auf sein graues Haar noch auf sein Gewand, noch auf den Schmuck seiner Harfe; er selbst ist in der Vision der Welt gegenwärtig, die er uns ins Gemüt ruft.

Dies war der Ton aller Romanzen- und Fabelsänger der mittleren Zeit, und (um bei der englischen Geschichte zu bleiben, aus der das Fragment Beispiele holet) es war noch der Ton Gottfried Chaucers, Edmund Spensers und ihresgleichen. Der erste in seinen ›Canterbury-Tales‹ erzählt völlig noch als ein Troubadour; er hat eine Reihe ergötzender Märchen[102] zu seinem Zweck der Zeitkürzung und Lehre, charakteristisch für alle Stände und Personen, die er erzählend einführt, geordnet; er selbst erscheint nicht eher, als bis an ihn zu erzählen die Reihe kommt, da er denn seinem Charakter nach als ein Dritter auftritt. So Spenser, obgleich er schon weit künstlicher singet, indem er die Gestalten seiner Welt schon emblematisch ordnet. Der Fehler, den man ihm zur Last gelegt hatt.126 daß jedes seiner Bücher ein für sich bestehendes Ganze sei, ist ja eben die Natur und der Zweck seiner Erzählung; übrigens hat er seine Ritter- und Feengestalten viel vorsichtiger als Ariost geordnet. – – –

Zur Zeit der Reformation verschwand mit der Welt solcher Gesänge, der Ritter- und Feenwelt, auch die Art ihrer Darstellung; die Dichter waren nicht mehr einfache Sänger fremder Begebenheiten, sondern gelehrte Männer, die uns das Gebäude ihres eignen Kopfs zur Schau bringen wollten, indem sie dasselbe wohl durchdacht niederschrieben, damit wir's lesen. Dies gibt allem eine andre Art und Gestalt. Lassen Sie mich zu dem Zweck einige englische Dichter parteilos durchgehen.

Von Shakespeare fangen wir an. Er stehet zwischen der alten und neuen Dichtkunst als ein Inbegriff beider da. Die Ritter- und Feenwelt, die ganze englische Geschichte und so manch anderes interessantes Märchen lag vor ihm aufgeschlagen; er braucht, erzählt, handelt sie ab, stellet sie dar mit aller Lieblichkeit eines alten Novellen- und Fabeldichters. Seine Ritter und Helden, seine Könige und Stände treten in der ganzen Pracht ihrer und seiner Zeit vor, die in so manchen Gesinnungen und dem ganzen Verhältnis der Stände gegeneinander uns jetzt wie eine aus den Gräbern erstehende Welt vorkommt. Wie oft müssen wir über die wundersame Einfalt und Befangenheit jener Zeiten lächeln! In dem allen ist er ein darstellender Minstrel, der Personen, Auftritte,[103] Zeiten gibt, wie sie sich ihm gaben und zu seinem Zweck dienten. Nun aber, wenn er in diesen Szenen der alten Welt uns die Tiefen des menschlichen Herzens eröffnet und im wunderbarsten, jedoch durchaus charakteristischen Ausdruck eine Philosophie vorträgt, die alle Stände und Verhältnisse, alle Charaktere und Situationen der Menschheit beleuchtet, so milde beleuchtet, daß allenthalben das Licht aus ihnen selbst zurückzustrahlen scheinet, da ist er nicht nur ein Dichter der neuern Zeit, sondern ein Spiegel für theatralische Dichter aller Zeiten. Laßt dem alten guten W. Shakespeare alles, was ihm und seinen Zeiten gehört; gebt uns aber mit seiner unendlichen Bescheidenheit, die nirgend in Person repräsentiert, in welchen Gestalten es sei, soviel innere Charakteristik soviel tiefe und schneidende Wahrheit, als er aus seiner alten Welt uns darbrachte.

Mit Milton fängt sich die neuere englische Dichtkunst an; mich dünkt, er zeige die Summe dessen, was Reflexion in der Dichtkunst zu leisten vermöge. Der unglückliche blinde Mann war in Zeiten gefallen, in üble Zeiten


fall'n on evil days,

On evil days though fall'n and evil tongues,

In darkness and with dangers compass'd round,

And solitude; yet not alone –


Er rief seine Urania vom Himmel, die ihn im nächtlichen Schlummer oder am frühen Morgen besuchte und seinen Gesang beherrschte. Dem gelehrten, starkmütigen Mann stand bei einer großen Kenntnis der alten und italienischen Dichter auch eine Welt voll Sachen, insonderheit aber seine Sprache dergestalt zu Gebot, daß er bei seinem erwählten Thema, an welchem er sich etwas sehr Großes dachte, in jedem Wort[104] und Laut, in jeder Zusammenstellung und Verknüpfung der Worte sich seine eigene altneue klassische Sprache nach Mustern der Alten als Philosoph und Meister ausschuf. Sein großes Gedicht sollte kein Märchen der alten Zeit, sondern in Form der Erzählung ein heiliges Gedicht über Himmel und Hölle, über Paradies, Unschuld und Sünde, mithin eine Aussicht über unser ganzes Geschlecht werden. Nicht wollte er etwa bloß zeitkürzend vergnügen, sondern belehrend erbauen und seine Enzyklopädie von Wahrheiten in einer heiligen Sprache feststellend verewigen. Daher wählte er weder Chaucers Reime noch Spensers Stanzen; den prächtigen Jambus wählte er, der in manchem englischen Psalm und alten Volksgesange wie zur Trompete ertönt, auch in Shakespeares tragischen Stücken auf der Bühne viel Wirkung getan hatte. Er brauchte ihn aber nicht wie Shakespeare leicht und fließend, sondern, dem Inhalt seines Gedichts und seinem Geist angemessen, wie in heroischem Schritt, obwohl abwechselnd und mannigfaltig, dennoch eintönig, prächtig und edel. Weder Young noch Thomson, weder Glover noch Akenside haben ihn hierin erreichet. Jede Kadenz, jedes Bild und Gleichnis, jede ungewohnte Redart ist von dem blinden Mann sorgfältig ausgedacht und an ihre Stelle geordnet. Vielleicht gibt's keinen englischen Dichter, der die viel- und einsilbigen Wörter dieser fast einsilbigen Sprache angenehmer zu wechseln und die barbarische Dissonanz seiner Zeiten


–the barbarous dissonance

of Bachus and his revellers


kunstvoller von sich zu treiben gewußt hätte als Milton. Und wie in seinen beiden »Paradiesen« ward er in seinem »Lycidas« und »Comus,« in seinem »Allegro« und »Penseroso,« selbst im »Samson« und andern Gedichtarten in Ansehung[105] der Sprache und Anordnung der Gedanken, insonderheit in seinem musikalischen Verstau, ein von seiner Nation noch unerreichtes Muster. Solange die englische Sprache lebt, wird Milton der Anführer ihres Chorgesangs in Jamben, der erzählenden Naturbeschreibung in ebendiesem Silbenmaße und im Ausdruck des Affekts jener monodischen Klage bleiben, die seine Nation nach ihm so vielfach gebraucht hat. In jeder Zeile des Gesanges ist er der Vater eines poetischen Numerus und Rhythmus, den der blinde Barde mit Überlegung erfand und seiner unharmonischen Sprache mit sehr harmonischem Ohr gleichsam aufzwang.

Neben Milton lebte Cowley, ein gleichfalls gelehrter, von ihm aber sehr verschiedener Dichter. Geübt in der Sprache der Römer, durchdrungen von der Schönheit der Natur, deren Pflanzen und Bäume er mit liebendem Fleiß besang, noch mehr durchdrungen von der praktischen Philosophie der Alten (wovon seine schönen Versuche in Versen und Prose zeigen), hatte er dennoch das Unglück, mit seiner sogenannten Pindarischen Ode ein glänzend böses Beispiel aufzustellen, dem man nur zu oft nachgefolgt ist. Pindar nämlich in seiner Ode ist nie trunken; jedes Bild, jede mythologische Geschichte, ja jeder Spruch in ihm stehet umschrieben da, und der ganze Gang des Gesanges ist weise geordnet. Der böse Geschmack, der zu Cowleys Zeiten insonderheit an Hofe herrschte, verführte ihn, sowohl in seinen anakreontischen als pindarischen Oden statt des Ausdrucks der Empfindung Pfeile des Witzes zu werfen und hiezu Versart und Reim anzuwenden. Unter seinen witzigen sind oft auch große Gedanken, ja, verschiedne Oden wären ohne diese gesuchte Manier Muster schöner Phantasien; denn es ist in ihnen viele Wissenschaft und viel Scharfsinn. Die Ode Cowleys ist nachher von andern, Mason, Grey, Akenside u.f., sittsamer, wohl auch gelehrter gemacht worden; ich zweifle aber, ob auch harmonischer im Sinne der Alten. Sie ist und bleibt ein gotisches Gebäude, unzusammenhängend und unübersehbar in ihren Teilen, übertrieben in Bildern, mit Zierat überladen, in der[106] Abwechslung des Rhythmus ungleich und unharmonisch. Seitdem sich gar die Laune oder Satire derselben bedient hat, mißgönnet man ihr den Name Ode ganz; britisches Capriccio sollte sie heißen. – Cowley war also selbst im Fehlerhaften ein Dichter aus Reflexion, oft nur ein witziger Dichter; demohngeachtet aber ist er ein guter Gesellschafter, von dem man angenehm lernet.

Mit Cowley lebte Waller und gab einer andern Manier den Namen, die den französischen Artigkeiten nahekommt; aber warum ist sie mir artig? Galanterie ist eine Modeschönheit; sie ändert sich mit den Zeiten. Auch sind von Waller fast nur noch die Stücke beliebt, die Empfindung verraten. Von Prior, Littleton, und wer auf ebendem Wege ging, gilt dasselbe. Die fashionable Poetry der Engländer hat sich in Ausdrücken und Wendungen dergestalt wiederholet, daß man nicht nur bei jedem Reim den folgenden, sondern oft auch bei der ersten Zeile des Stücks die letzte zuvor weiß.

Mit dem verderbten Hofe Karls II. ging die Herrschaft des spielenden Witzes zu Ende; die britische Muse ward, was sie anfangs gewesen war, eine denkende Muse.

Ich übergehe die Beiträge Denhams, Roskommons, Dorset, Garths zu Gründung eines bessern Geschmacks; Dryden voran, Pope nach ihm zeigten, worin die Poesie der Neueren am natürlichsten bestehe, nämlich in versifiziertem gesundem Verstande. Beide Dichter (mit ihnen Gay, Parnell, Prior u.a.) haben fast alle Einkleidungen versucht, deren ihre Sprache fähig war; sie konnten's aber nicht weiter bringen, als gesunden Verstand in nachgeahmten, hie und da selbst erfundnen Einfassungen zu reimen. Pope brachte es darin aufs höchste. In seiner unsangbaren Sprache hat er in englischer Manier das getan, was Metastasio in einer Sprache, die ganz Gesang ist, auf eine ungleich angenehmere Weise tat; er brachte nämlich alle schöne Sentenzen, philosophische Grundsätze und Lebensregeln aufs kürzeste und zierlichste in Reime und wird darin schwerlich übertroffen werden. Zehn Dichter hatten ihm[107] hierin vorgearbeitet; er kam zu rechter Zeit und brach die Blume. Bolingbroke, Shaftesbury, King und Leibniz gaben ihm zu seinem »Essay on Man« Philosophie in die Hand; er reimte ihre Systeme, so gut er konnte, und hat sie fast durchgehends vortrefflich gereimet. Auch Charaktere reimte er meistens in Gegensätzen, scharf und schneidend, insonderheit wo der Affekt ihm die Feder schärfte, also daß Popes Gedichte für eine gereimte Blütensammlung aller Moral, auch vieler Weltkenntnis und Weltklugheit dienen können. Höher hinaus aber reichte sein Genius nicht. Von Horaz, liebenswürdiger Satire, geschweige von seiner praktischen Welt- und Lebensweisheit hatte Popes Gemütsart keinen Begriff, und man muß durchaus Engländer sein, um in seinem Homer den alten oder gar den bessern Homer zu finden. Die von ihm den Römern nachgeahmten Stücke zeigen den fürchterlichen Unterschied, der zwischen ihrer und unsrer, wenigstens ihrer und Popes Poesie war. Ihre Muse geht im natürlichen Gange der Sprache edeldenkend melodisch einher; die Popische Muse geht zwangvoll und gebrechlich, oft sogar unedel daher, über und über bedeckt mit einem Geklingel von Reimen.

Noch zwei vorzügliche Dichter folgen auf Pope: Young und Thomson. Jener, der durchaus ein Original sein wollte, wetteiferte in seinen »Nachtgedanken« mit Shakespeare, Milton, Pope und allen Lehrdichtern der Welt, in seinen Satiren mit Swift (den er sehr unwert behandelt), mit Pope und allen Satirendichtern, in seinen Trauerspielen mit Shakespeare, Otway u.f. Ein kühner Versuch, original zu sein, mit welchem er aber doch am Ende nichts als »Sermons,« Predigten, zustande brachte, er mochte sie Nachtgedanken oder Oden, Satiren oder Trauerspiele überschreiben. Seine höchste und liebste Figur in den Nachtgedanken heißt Parenthyrsus (Übertreibung), die zwar allenthalben die witzigsten Tiraden, eine aus der andern, hervortreibt und unsäglich viel schöne Sachen saget, am Ende aber doch nichts tut, als den menschlichen Verstand über seine natürliche Höhe schrauben. Mich wundert, daß man Young je für einen tiefsinnigen Dichter gehalten[108] hat; ein äußerst witziger, parenthyrsisch-beredter, nach Originalität aufstrebender Dichter ist er auf allen Seiten. Reich an Gedanken und Bildern, wußte er in ihnen weder Ziel noch Maß; wie er auf Popes scherzhaften Rat in Thomas von Aquino die englische Theologie studierte, so würde er diese allenfalls auch im Koran studiert haben. Wenige Dichter sind daher mit so viel Vorsichtigkeit wie er zu lesen; in seinen Nachtgedanken, wie der Name sagt, ist er als ein Denker zu prüfen und jede Koketterie des Witzes für das zu halten, was sie ist, wenn sie auch die heiligsten Sachen beträfe.

Thomson, wie unser Geßner und Kleist ein liebenswürdiger Name. Erfunden hatte er seine Gedichtart nicht, ob sein Verehrer Aikin ihm gleich diesen Ruhm zuschreibt; in Milton u.a. lag sie, vielleicht in einem Keime, der künftig einer noch schöneren Entwickelung fähig ist, längst da. Thomson aber hat den Keim überlegend erzogen; dessen gebühret ihm die Ehre. Zu gut wußte er selbst, daß Jahrszeiten sich in Worten und einförmigen Jamben nicht malen lassen; er behandelt also sein Thema, wie er die »Freiheit,« die »Burg der Trägheit« und andre Gegenstände behandelte, philosophisch. Schildernde Lehrgedichte sind seine »Jahreszeiten«; denn mit Empfindung zur Lehre muß eine Gegend geschildert werden, wenn sie als Poesie in die Seele des Hörenden wirken soll; eine Kunst, die alle Nachahmer Thomsons nicht eben verstanden haben mögen. Er verstand sie, und so wird aus dem, was ich beigebracht habe, ziemlich klar, daß die Poesie der Engländer von Miltons Zeiten an eine reflektierende Poesie gewesen. Die italienische singet, die französische Prosa-Poesie räsoniert und erzählet, die englische in ihrer äußerst unmusikalischen Sprache denket.




99.

Das wahre Feld der englischen Poesie haben Sie nicht berühret; es ist die einkleidende Prose. Sobald Chaucers Reime und die alten Balladen abgekommen waren, man auch[109] merkte, daß Spensers Stanzen dieser Sprache ebenso schwer als langweilig werden müßten, suchte man nach dem Beispiel Frankreichs die leichteste Auskunft, Prose.

Auch hier gab den Engländern ein Engländer, Shakespeare, Art und Weise. Er hatte Charaktere und Leidenschaften so tief aus dem Grunde geschildert, die verschiedenen Stände, Alter, Geschlechter und Situationen der Menschen so wesentlich und energisch gezeichnet, daß ihm der Wechsel des Ortes und der Zeit, Griechenland, Rom, Sizilien und Böhmen, durchaus keine Hindernisse in den Weg legten, und er mit der leichtesten Hand dort und hier hervorgerufen hatte, was er wollte. In jedem seiner dramatischen Stücke lag also nicht nur ein Roman, sondern auch ein in seiner Art aufs vollkommenste nicht etwa beschriebener, sondern dargestellter philosophischer Roman fertig, in dem die tiefsten Quellen des Anmutigen, Rührenden, wie andernteils des Lächerlichen, Ergetzlichen geöffnet und angewandt waren. Sobald also jene alten Ritter- und Liebesgeschichten, von denen zuletzt Philipp Sidneys »Arkadia« sehr berühmt war, einer neueren Denkart Platz machten, so konnte man in England kaum andre als Romane in Shakespeares Manier, d.i. philosophische Romane, erwarten.

Der Weg zu ihnen war freilich ein beschwerlicher Weg; er ging durch Politik und Geschichte. Da England das erste Land in Europa war, in welchem der dritte Stand über Angelegenheiten des Reichs mitsprechen dorfte, und von den Zeiten der Elisabeth an es ein so bewerbsamer Handelsstaat geworden war, so gingen die eigentümlichen Sitten seiner Einwohner natürlicherweise freier auseinander. Nicht alles war und blieb bloß König, Baron, Ritter, Priester, Mönch, Sklave. Jeder Stand zeichnete sich in seinen Sitten ungestört aus und dorfte nicht eben, um der Verachtung zu entgehen, Sitten und Sprache seiner höhern Mitstände nachahmen; kurz, er dorfte sich auch in seinem humour zeigen. Ohne Zweifel ist dies der Grund, warum die Engländer diese Eigenschaft so eifrig zu einem Zuge ihres Nationalcharakters[110] gemacht haben; ihr humour nämlich war ein Sohn der Freimütigkeit und eines eignen Betragens in allen Ständen. Witz, Eigensinn, gute und böse Laune, tolle Einfälle u.f. haben andre Nationen wie sie, oft besser als sie; nur keine Nation (ehemals vielleicht die Holländer und einige deutsche Reichsstädte ausgenommen) glaubte sie so offenbar äußern zu müssen, weil jede andre Nation das Gesetz der Gleichstellung mit andern zu hoch hielt. Wie aber der Italiener seinen Capricci, der Franzose seiner Gaskonade freien Lauf läßt, so gab der Engländer seinem trägeren humour nach: ein großes Feld für Komödien und Romane. –

Wie die Parlamente in England das öffentliche Reden in Gang brachten so die öffentlichen Blätter das Schreiben über Meinungen und Charaktere. Zeitungen und Pamphlets, Wochenblätter und Monatschriften hatten Einkleidungen und Schreibart dem englischen Roman gleichsam zugebildet; daher es kein Wunder ist, daß der französische, spanische und italienische Roman eine ganz andre Straße nahm. Insonderheit ist der englische Roman den Triumvirn der englischen Prose, Swift, Addison und Steele, den größesten Dank schuldig. Der erste schrieb seine Sprache in der höchsten Genauigkeit (Proprietät), die er in einer Menge von Einkleidungen zu erhalten wußte. Sein Roman der Menschenfeindschaft, »Gulliver,« ist vielleicht vom menschenfreundlichsten, aber kranken, tiefverwundeten und seines Geschlechts überdrüssigen Denker geschrieben. Der glückliche Addison war von einer froheren Gemütsart. Er und sein Gehülfe, Steele, besaßen ebendie goldne Mittelmäßigkeit, die zu guten Prose-Schriftstellern gehöret. Als Männer von Geschmack und von Weltkenntnis hatten sie das Richtmaß in sich, für die Menge zu schreiben, in keine Materie zu tief zu dringen und zu rechter Zeit ein Ende zu finden. Sie haben der englischen Prose Cours gemacht und ihr das Mittelmaß gegeben, über und unter welchem man nicht schreibet.

Nun konnten also nach und nach (viele andre Vorarbeiten ungerechnet) die drei glücklichen Romanhelden auftreten,[111] Fielding, Richardson, Sterne, die zu ihrer Zeit Epoche machten. So verschieden ihre Manier ist, so wenig schließen sie andre glückliche Formen aus, wie Smollets, Goldsmiths, Cumberlands und in andern Nationen andre schätzbare Originale zeigen. Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig; denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten – in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz interessieret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz interessieret. Die größesten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu; denn sie ist Poesie in Prose.

Man sagt zwar, daß in ihren besten Zeiten die Griechen und Römer den Roman nicht gekannt haben; dem scheint aber nicht also. Homers Gedichte selbst sind Romane in ihrer Art; Herodot schrieb seine Geschichte, so wahr sie sein mag, als einen Roman; als einen Roman hörten sie die Griechen. So schrieb Xenophon die »Cyropädie« und das »Gastmahl,« so Plato mehrere seiner Gespräche; und was sind Lucians wunderbare Reisen? Wie jeder andern haben also auch der romantischen Einkleidung die Griechen Ziel und Maß gegeben. Daß mit der Zeit der Roman einen größeren Umfang, eine reichere Mannigfaltigkeit bekommen, ist natürlich. Seitdem hat sich das Rad der Zeiten so oft umgewälzt und mit neuen Begebenheiten auch neue Gestalten der Dinge zum Anschauen gebracht; wir sind mit so vielen Weltgegenden und Nationen bekannt worden, von denen die Griechen nicht wußten; durch das Zusammentreffen der Völker haben sich ihre Vorstellungen aneinander so abgerieben, und überhaupt ist uns der Menschen Tun und Lassen selbst so sehr zum Roman worden, daß wir ja die Geschichte selbst beinah nicht[112] anders als einen philosophischen Roman zu lesen wünschen. Wäre sie immer auch nur so lehrreich vorgetragen als Fildings, Richardsons, Sternes Romane! –

Viel denkende Dichter hat also England in Poesie und Prose hervorgebracht, und die Nation ist auf sie unermeßlich stolz; die Dichter selbst aber starben meistens eines elenden, wohl gar des Hungertodes.


100.

Der poetische Himmel Britanniens hat mich erschreckt. Wo sind unsre Shakespeare, unsre Swifts, Addisons, Fieldings, Sterne? Wo ist jene Menge von Edlen, die vorangingen oder wenigstens mit am Werk waren, die Philipp Sidney, Walter Raleigh, Baco, Roscommon, Dorset, Algernon Sidney, Shaftesbury, Halifax, Sommers, Bolingbroke, Littleton, Walpole u.f.? Wir wachten auf, da es allenthalben Mittag war und bei einigen Nationen sich gar schon die Sonne neigte. Kurz, wir kamen zu spät.

Und weil wir so spät kamen, ahmten wir nach; denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen. Franzosen, Spaniern, Italienern, Briten, selbst Holländern ahmten wir nach und wußten nie recht, wozu und weswegen. Unser verdiente Opitz war mehr Übersetzer als Dichter. In Weckherlin u.a. ist der größeste Teil fremdes Gut. So sind wir fortgeschritten; und wer ahmt uns nach? Wenn in Italien die Muse singend konversiert, wenn sie in Frankreich artig erzählt und vernünftelt, wenn sie in Spanien ritterlich imaginiert, in England scharf- oder tiefsinnig denket, was tut sie in Deutschland? Sie ahmt nach. Nachahmung wäre also ihr Charakter, eben weil sie zu spät kam. Die Originalformen waren alle verbraucht und vergeben.


101.

[113] So übel stehet's nicht mit der deutschen Muse, wie Sie fürchten. Es ist vielleicht der Hauptfehler unsrer Nation, daß sie aus zu großer Gefälligkeit gegen Fremde sich selbst nicht kennet und achtet.

Wahr ist's, wir kamen spät; desto jünger aber sind wir. Wir haben noch viel zu tun, indes andre ruhn, weil sie das Ihrige geleistet haben.

Und waren wir in jenen Zeiten müßig? Nichts weniger; durch andre, vielleicht wichtigere Geschäfte wurden wir von einer Bahn zurückgehalten, die uns immer noch blieb. Für ganz Europa standen wir damals vor den Riß, sowohl gegen Roms Despotie als gegen eindringende Hunnen und Tataren. Daß Europa nicht zum Kalmuckenlande oder zur Türkei ward, haben Deutsche verhindert; Raum zu dem friedlichen Garten, den die Musen lieben, haben sie mit ihrem Blut erfochten.

Unsre Sprache ist im Besitz älterer Poesie, als deren sich Spanier, Italiener, Franzosen und Briten rühmen können;127 einzig nur unsre Verfassung war schuld, daß wir jahrhundertelang dies Feld ungebauet ließen. Wir zogen nach Italien und sonst in der Welt umher, haben aber doch, selbst in diesen fürchterlichen Zeiten, für ganz Europa manches Nützliche erfunden. Endlich, da die Reformation aus unsrer Mitte hervorbrach und uns nach vielem andern Ungemach mit dem Dreißigjährigen Kriege eine fast allgemeine Verwüstung und die so gefährliche Bekanntschaft mit fremden Nationen auf den Hals zog: müssen wir, wenn wir die Geschichte Deutschlands durchgehn, uns nicht wundern, daß noch so viel ward, als geworden ist?

Denn nun reiseten die Fürsten, die Edeln. Sie staunten das Ausland an und sprachen, lasen, schrieben fremde Sprachen. Und unsre gutherzigen Dichter freueten sich jeder neuen[114] Sonne, die aufging, fanden sich geehrt, wenn sie Gesänge auch nur zueignen durften, ohne daß sie gelesen wurden. In Siebenbürgen dichtete der gute Opitz, Weckherlin in England und Frankreich, Fleming am Kaspischen Meer deutsche Gedichte; niemand dankte es ihnen, daß sie es taten. Und wer verdankte es dem Andreas Gryphius, dem von Lohenstein, daß sie unter ihrer Bürde bürgerlicher Geschäfte für Sprache und Poesie das taten, was sie getan haben?

Dank also auch dem guten von Logau, daß er in den wilden Zeiten des Dreißigjährigen Krieges seine dreitausend Sinn- und andre Gedichte aufschrieb, ob er gleich ein deutscher Baron war. Dank einem Dietrich von dem Werder, daß er den Tasso übersetzte und gleichwohl Hofmarschall sein konnte, ja gar ein Regiment kommandierte. Dank – o wie tief haben wir Deutsche anfangen, aus welcher drückenden Barbarei uns hervorarbeiten müssen, die uns noch allenthalben sogar als Ehre, als Vorzug, als Stammes- und Nationalruhm anklebt! »Welcher Mann von Ahnen wird ein Poete, ein Savant, ein Philosophe sein wollen, wenn er auch ein Tasso, ein Baco, ein Shaftesbury werden könnte?« – Solon und Alexander, Cäsar und Augustus, so viele Fürsten und Edle in Italien, Spanien, Frankreich, England dachten anders.

»Weil wir also spät kamen, so ahmten wir freilich viel nach; denn wir fanden viel Vortreffliches nachzuahmen.« Dies war Natur der Sache, nichts mehr und nichts minder; wer zuletzt kommt, täte sehr unrecht, wenn er nicht nachahmte. So folgten die Römer den Griechen, den Römern die Mönche, Mönchen und Arabern die Provenzalen, den Provenzalen mittel- und unmittelbar alle gebildete Nationen Europas; warum sollten diesen nicht die Deutschen folgen? Alle Kunst ist Nachahmung; nur durch Nachahmung ist der Mensch zur Kunst gelanget; nur durch sie ist er Mensch worden. Wäre also auch Nachahmung der Charakter unsrer Nation und wir ahmten nur mit Besonnenheit nach, so gereichte dieses Wort uns zur Ehre. Wenn wir von allen Völkern ihr Bestes uns eigen machten, so wären wir unter ihnen das, was der Mensch[115] gegen alle die Neben- und Mitgeschöpfe ist, von denen er Künste gelernt hat. Er kam zuletzt, sah jedem seine Art ab und übertrifft oder regiert sie alle.

Zu diesem Zweck haben wir ein vortreffliches Mittel in unsrer Gewalt, unsre Sprache; sie kann uns das sein, was dem kunstnachahmenden Menschen die Hand ist. Man rühmt den sklavonischen Sprachen nach, daß sie zur Nachbildung fremder Idiome in jeder Wendung, in jedem Übergange geschickt sei'n; die deutsche Sprache hat diese Fähigkeit vor allen Töchtern der lateinischen, selbst vor der englischen Sprache. Alle diese sind von Zwitternatur; aus ihren engeren oder weiteren Schranken können sie nicht hinaus, um sich einer fremden Sprache nur einigermaßen zu bequemen. Vor allen ist die französische Sprache die gebundenste, die gleichsam gar nicht übersetzen, gar nicht nachbilden kann; eine ewig Ungetreue, muß sie alles nur auf ihre, d.i. auf eine sehr mangelhafte Weise, sagen. Die deutsche Sprache, unvermischt mit andern, auf ihrer eignen Wurzel blühend und eine Stiefschwester der vollkommensten, der griechischen Sprache, hat eine unglaubliche Gelenkigkeit, sich dem Ausdrucke, den Wendungen, dem Geist, selbst den Silbenmaßen fremder Nationen, sogar Griechen und Römern, anzuschließen und zu fügen. Unter der Bearbeitung jedes eigentümlichen Geistes wird sie gleichsam eine neue, ihm eigne Sprache.

Mithin halte ich's nicht nur für keine Schande, wenn man uns Nachahmung vorwirft, vielmehr vermehrt es den Reichtum unsrer Gedanken und Wendungen, unsrer Vorstellungs- und Sprachweisen, wenn wir, wie keine andre Nation tun kann, die Gestalt fremder Idiome mit überlegendem Verstande und weiser Hand nachbilden. Möge Hagedorn dem Horaz, dem Pope, Chaulieu und vielen andern, die er nicht verschwiegen, möge Gleim dem Anakreon und, wenn man will, auch dem Äsop, Phädrus, Tyrtäus, Moncrif, Barnard[116] u.f. nachgeahmt haben; ahmten sie als Männer nach, also daß ihre Nachbildung in unsrer Sprache ein Werk war, um so besser; so haben sie ihre Nation mit vortrefflichen Denkweisen mehrerer Geister und Völker bereichert. Einem reichen Dichter unsrer Sprache hat man nachgerechnet, daß er in Homers, Pindars, Xenophons, Lucians, Ariosts, Cervantes, Pope, Fieldings, Sterne, sogar des Königes Davids und der Sultanin Scheherazade. Art und Manier Psalmen und Märchen, Helden- und Lehrgedichte, epische Gesänge und Romane geschrieben, gedichtet und gesungen habe. Desto besser! Um so reicher sind wir durch ihn worden. Die Ananas, die tausend feine Gewürze in ihrem Geschmack vereint, trägt nicht umsonst eine Krone.




102.

Und wäre es denn wahr, daß die Deutschen so ganz charakterlos nachahmen? Das mindeste Gefühl des Genius unsrer Sprache und unsrer Schriften zeigt etwas anders von den urältesten Zeiten her.

Leset Otfried, leset das alte Siegslied unter Ludwig; der gutmütige und biedre Charakter der Nation ist schon durchaus kennbar. Er ist's in den lateinischen Schriftstellern der mittleren Zeiten wie in unsern altdeutschen Sprüchwörtern, Apophthegmen und Reimen. Allenthalben findet ihr altdeutschen Witz und Verstand in den kürzesten ungekünstelten Worten. Wer am Charakter der deutschen Nation zweifelt, darf irgend nur ein Wörter- oder Sprüchwörterbuch, Agricola, Frank, Zinkgräf, Lehmann, oder eine Sammlung von Geschichten, Lehrsprüchen, Liedern, Fabeln und Erzählungen durchgehen. In Trimberg, Kaisersberg, Brant, Luther, Rollenhagen, Opitz, Logau, Dach, Tscherning u.f. spricht dieser verstand- und lehrreiche Genius auf allen Seiten. Vergleicht unsre deutsche Minnesänger mit den Provenzalen. Nicht nur von Seiten der Sitte gewinnen die unsern, sondern oft auch in Rücksicht der innigen Empfindung. In Süden, wenn ihr[117] wollt, ist mehr Lustigkeit und Frechheit; hier mehr Liebe und Ehre, Bescheiden heit und Tugend, Verstand und Herz.

Rechtliche Ehrlichkeit also, Richtigkeit in Gedanken, Stärke im Willen und Ausdruck, dabei Gutmütigkeit, Bereitschaft zu helfen und zu dienen: dies ist die Gemütsart unsres Volks, die es auch im Nachahmen, selbst im ungeschickten Nachahmen des Fremden nie verleugnen konnte. Denn woher fiel das Nachahmen der Deutschen oft so ungeschickt aus? Weil sie es allenthalben zu ehrlich meinten, so wurden sie oft getäuscht und betrogen Die ganze Nachahmungssucht der Deutschen rührt von ihrer Gutmütigkeit her. Sie dachten zu bescheiden von sich und wollten immer lernen, auch wo sie allenfalls lehren konnten. Der üble Geschmack, in den sie sich zu Hoffmannswaldau und Lohensteins, zu Talanders, Weise und Menantes Zeiten stürzten, rührte von ihrer gutmütigen Gefälligkeit gegen die sogenannten Leute von Welt, gegen ihre Großen und Hofleute her, die in diesem übeln Geschmack das Paradies fanden. Bessers, Königs, Heräus', Neukirchs Kanzleipoesien gingen auf ebendiesem plattgetretenen Hofwege ins Verderben.

Sobald aber der deutsche Verstand wieder zu Kräften kommen konnte, zeigte sich sogleich unsere Gemütsart wieder: Überlegung, Biederkeit und Herz. Welche kindliche Gutmütigkeit herrscht z.B. in Brockes Schriften! Wie ein Liebhaber an der Geliebten hängt er an einer Blume, an einer Frucht, an einem Gartenbeet, einem Tautropfen! Mit überströmender Wortfülle malt er seinen Gegenstand voll Liebe und Bewunderung, um ja keine andre als gutmütige Empfindungen zu erregen. Gegen Cowleys Beschreibung von Pflanzen und Blumen werden wir unsern Brockes nicht tauschen.

Die Poesie der Niedersachsen ging auf ebendem Wege fort. Hagedorn ist ihr schöner klassischer Gipfel. Lege man mir Waller, Denham, Gay, Roscommon, Dorset und noch eine Reihe solcher Helden zusammen: Hagedorn bleibt mir. Wir haben in ihm die Blüte von hundert lehrreichen, angenehmen, moralischen, fröhlichen Dichtern.[118]

Ihm gegenüber steht Haller, der eine Alpenlast der Gelehrsamkeit auf sich trug. Was von Haller mit Pope verglichen werden kann, ist über Pope; was aus Popes lebendiger Welt an feinen Satiren und Charakteren in feinem Reimgeklingel dasteht, würde Haller redlicher aufgestellt haben. Bewahre uns die Muse vor Dichtern, bei denen Verstand ohne Herz oder Herz ohne Verstand ist. Zwei Popische Gedichte wünschte ich indessen meinem Vaterlande wohl eigen, seinen »Versuch über den Menschen« und »Über die Kritik«. Ich habe nicht den mindesten Zweifel, daß wir beide besser, als Pope sie schrieb, zu ihrer Zeit bekommen werden. Unsres Hallers Gedichte sind ein Richtmaß der Sitten sowie der Wissenschaft und Gedenkart. Man kann von ihnen und den Werken mehrerer deutscher Dichter sagen, daß kein falscher Gedanke (Religionsvorstellungen etwa ausgenommen) in ihnen sei, welches man von wenig ausländischen Dichtern sagen möchte. Wie Hallers Ode auf die Ewigkeit ist, erscheint nichts Ähnliches in Pope.

Und noch hatte Haller außer seinen großen Verdiensten um mehrere Wissenschaften ein Glück, dessen sich der Engländer nicht rühmen konnte: er ward wie Opitz der Vater eines besseren Geschmacks in Deutschland, da Pope nichts anders als Drydens und mehrerer Vorgänger feinerer Nachgänger war. –

Ohne Zweifel erwarten Sie nicht, daß ich jede gutmütige Bemühung der Deutschen nach Jahren durchgehen soll, wie sie z.B. den Verstand und Witz ihrer Landsleute bald belustigten, bald erweiterten oder dazu hieher und dorther beitrugen. Jeder tat, was er tun konnte; und Gellerts, Cramers, der beiden Schlegels, Rabeners u.a. guter Wille wird dabei gewiß aufwiegen können, was die Richer, la Motte und J. B. Rousseau oder die Kings, Philipps u.f. auswärts geleistet haben. In ihrer Lage sind mir die Namen Lange und Pyra werter als hundert schreibselige Namen späterer Zeiten.

Kleist kommt; und wer verkennete an ihm sein deutsches Herz, seinen edeln Charakter? Als Künstler der Poesie, dazu[119] in mancherlei Arten, möchte ich lieber Thomson sein, Thomson insonderheit, seit er Italien gesehen hatte; aber als Mensch und Dichter gilt es keine Frage. Kleists Herz lebt in seinen Gedichten, in seinem »Frühlinge,« in mehreren seiner Oden, in seinem »Geburts- und Grabesliede,« in seiner »Sehnsucht nach Ruhe,« in »Cissides und Paches«. Nach seinem »Seneca« wollen wir ihn nicht messen; aber den edlen Geist, das patriotisch-menschliche Gemüt, das mitten unter Kriegesszenen in diese kleinen Gedichte wie in ein Asylum floh und jetzt darin wie in einer zerstückten Urne sein ewiges Denkmal findet, wollen wir wert halten und lieben.

Ihm füge ich Lessing und Gleim bei. Des ersten Genius lebt in jeder Zeile seiner Schriften, zumal in seinem »Nathan«; und in Gleims Schriften schläget gewiß ein Herz vom wahresten deutschen Charakter. Zu seinen Kriegsliedern war Lessing der Vorredner; in seinen Fabeln, Liedern und mehreren seiner Gedichte verbinden sich Mut und Treue, Freundesgefühl, Einfalt und Stärke. Klopstocks Ode »An Gleim« ist ein Bild des Dichters und seiner Gedichte.

Man ist gewohnt, Klopstock den deutschen Milton zu nennen; ich wollte, daß beide nie zusammen genannt würden, und wohl gar, daß Klopstock den Milton nie gekannt haben möchte. Beide Dichter haben heilige Gedichte geschrieben; ihre Muse aber ist nicht dieselbe. Wie Moses und Christus, wie das Alte und Neue Testament stehen sie einander gegenüber. Miltons Gedicht, ein auf alten Säulen ruhendes durchdachtes Gebäude. Klopstocks Gedicht, ein Zaubergemälde, das in den zartesten Menschenempfindungen und Menschenszenen von Gethsemane aus über Erd und Himmel schwebet. Die Muse Miltons ist eine männliche Muse, wie sein Jambus; die Muse Klopstocks eine zärtere Muse, die in Erzählungen, Elegien und Hymnen unsre ganze Seele, den Mittelpunkt ihrer Welt durchströmet. In Ansehung der Sprache hat Klopstock auf seine Nation mehr gewirkt, als Milton vielleicht auf die seinige wirken konnte, wie er denn auch ungleich vielseitiger als der Brite über dieselbe gedacht hat. Eine seiner[120] Oden im Geschmack des Horaz ist nach dem Richtmaß der Alten mehr wert als sämtliche hochaufgetürmte britische Odengebäude. – Daß Klopstock zu seinem »Hermann« einen Glück fand, daß er durch seine Gesänge ihn und andre seines Geistes zu dieser Gattung einfacher Musik weckte, gehöret mit zu den glücklichen Begegnissen seines Lebens; dem blinden Barden in Britannien ward mit seinem »Lycidas« und »Samson« dies Glück nicht. Wenn überhaupt die Muse der Tonkunst in der Einfalt und Würde, die ihr gebühret, zu uns zurückzukehren würdigte, wessen Worte würden sie freundlicher herniederzaubern als Klopstocks? –

Wollten wir die goldnen philosophischen Oden unsres Uz gegen die Oden des Cowley, Hagedorn gegen Waller, Cronegks bessere Gedichte gegen Prior, Witthof (in seiner ersten Ausgabe) gegen Akenside, Gerstenberg selbst gegen Otway und Waller vertauschen? Ich bleibe bei meinen Landesleuten; bei wenigerm Glanze der Kunst ist in ihnen mehr Gemüt, mehr wahre Empfindung. In allen Liedern, die von unsrer Jugend gesungen werden, so verschieden der Genius der Dichter sei, in Claudius, Hölty, Stolberg, Jacobi, Voß, Schiller ist der Charakter unsrer Nation, Gemüt, kennbar. –

Selbst die Art, wie sich die Deutschen fremder Erscheinungen angenommen haben, zeigt die Herzlichkeit ihres Charakters. Wo ist dem Milton und Ossian wärmer gehuldigt worden als in Deutschland? Stand in England jemand auf, der sich des galischen Sängers angenommen hätte wie Denis, den er beseelt hätte, wie z.B. Kosegarten und mehrere unserer Landsleute? Nehmet eine ausgewählte Sammlung deutscher Lieder und stellet sie der besten englischen entgegen: an innerem Werte, wohin wird die Waage sinken? Ihre Gesänge der Empfindung sind meistens schottische Lieder.

Gern nenne ich noch zusammen Wieland und Geßner. Den ersten hat man sehr unzeitig mit Voltaire verglichen, mit Voltaire, der bei dem hellesten Kopf und der schlauesten Gewandtheit doch nur ein witziger Satyr war, und zwar im Grunde nur in einer Manier des Witzes, die er tausendfach[121] zu verändern und nach dem Geschmack seines Zeitalters, ja womöglich jeder Person in demselben zu modifizieren wußte. Die Muse unsres Landsmannes ist ein reinerer Genius, der in jeder Gestalt, die er annimmt, gewiß einen edleren Zweck hatte, als uns bloß witzig zu amüsieren. Ein echter Jüngling jener alten gaya ciencia, ob er uns nach Delphi oder Tarent, nach Sizilien oder Salerno, ins Faß des Diogenes oder an die Tafelrunde, nach Bagdad oder ins Feenland geleite. Der Geist der Sokratischen Schule verließ ihn selten; denn seine oft mißverstandene Philosophie ist am Ende doch Weisheit des Lebens.

Warum ist Geßner von allen Nationen, die ihn kennenlernten, mit Liebe empfangen worden? Er ist bei der feinsten Kunst Einfalt, Natur und Wahrheit. In Darstellung einer reinen Humanität sollte ihn selbst das Silbenmaß nicht binden; wie auf einem Faden, der in der Luft schwebt, lässet er sich in seiner poetischen Prose oder prosaischen Poesie jetzt auf blühende Fluren hinab, jetzt schwinget er sich in die goldnen Wolken der Abend- und Morgenröte, bleibet aber immer in unserm blauen Horizont gesellig, froh und glücklich. Mit Kindern ward er ein Kind, mit den ersten Menschen einer der ersten schuldlosen Menschen, liebend mit den Liebenden und selbst geliebt von der ganzen Natur, die ihm in seiner Unschuld ihren Schleier wegzog. Gerade der einfachste Dichter, dessen ganze Manier Verbergung der Kunst war, ist unser berühmteste Dichter worden und hat manche Ausländer mit dem süßen Wahne getäuscht, als sei alle unsre Poesie reine Humanität, Einfalt, Liebe und Wahrheit.


103.

Bei der gutmütigen Lehrhaftigkeit, die Sie den Deutschen zuschreiben, vergessen Sie, daß Form das Wesen der Poesie ist; und wer begreift schwerer, was Form sei, wer kann sich in sie minder fügen, geschweige sich dieselbe an- und zubilden,[122] als ein Deutscher? Unser Leben, unsre ganze Verfassung ist ja Unform.

Ihr gelehrter Opitz übersetzte aus allen Sprachen; aber wie schwer! wie einförmig! Lesen Sie seine »Antigone,« seine »Trojanerinnen,« seinen »Apoll und Daphne« (eine italienische Oper), seine Sonette und Sinngedichte: wie schwer und einförmig!

Zweitens. Kritik muß die Poesie als Kunst ausbilden; was ist aber Kritik bei den Deutschen? Eine verpachtete Bude, eine verachtete Lästerschule. Was ist vom Geschmack einer Nation zu halten, die auf ihren Richterstühlen des Geschmacks namenlose feile Liktoren verehret? Was ist von ihrer Gutmütigkeit zu halten, wenn sie falsch Maß und Gewicht des Urteils öffentlich duldet?

Endlich scheinet's, daß die deutsche Poesie auf die von Ihnen angezeigte Weise eine Kinderpoesie sei und sein werde. Sie unterhält uns mit schönen Bildern und Abstraktionen oder zaubert uns in ein Arkadien voll Unschuld, Liebe und Einfalt, das nirgend ist als in der Phantasie der Dichter. Es ist also leicht zu begreifen, daß Männer von Geschäften und reell denkende Menschen sich mit Phantastereien solcher Art wenig abgeben werden. Sie sind Spielwerke der Weiber und Kinder, überhaupt aber exzentrischer, müßiger Menschen.


104.

Form ist vieles bei der Kunst, aber nicht alles. Die schönsten Formen des Altertums belebet ein Geist, ein großer Gedanke, der die Form zur Form macht und sich in ihr wie in seinem Körper offenbaret. Nehmt diese Seele hinweg, und die Form ist eine Larve.

Vollends poetische Form ist vom Gedanken und von der Empfindung dergestalt abhängig, daß ohne diese sie wie ein schöngezimmerter Block dastehet; denn Poesie wirkt durch Rede. Rede aber enthält nicht nur, sondern sie ist eine Folge[123] von Gedanken. Ohne diese ist das schönste Sonett ein Klinggedicht, nichts weiter. Soll ich wählen, Gedanken ohne Form oder Form ohne Gedanken, so wähle ich das erste. Die Form kann meine Seele ihnen leicht geben.

Und wären die Deutschen denn von jeher so formlos gewesen? Bei den Minnesingern finde ich dies nicht; bei »Reineke dem Fuchs« noch minder. Ihre alten Lieder, Sprüche und Erzählungen haben eine so gedrungene, oft so geistige Form, daß es schwer sein würde, ein Wort hinzuzutun oder hinwegzunehmen. Opitzens Manier ist freilich einförmig; Dank ihm aber für diese Einförmigkeit, die zum Zweck hatte, uns bei der Skansion der Silbenmaße festzuhalten. Hätte er sich wie seine Vorgänger an der bloßen Deklamation gereimter Verse begnügt, so wäre er freilich abwechselnder worden; er hätte uns aber auch auf den Irrweg aller der Nationen geführt, die bis auf den heutigen Tag noch keine echte Quantität der Silben haben. Unsre Sprache gebietet gleichsam Form, mehr als irgendeine andre; die französische, die englische Sprache sind, mit ihr verglichen, in der Poesie formlos; denn nur Willkür und Übereinkunft hat bei ihnen hier diese Art des Reims, dort jene Regel des Geschmacks festgestellt, die der Sprache selbst nach unbestimmt waren. Unsre Sprache strebt der schwersten, zugleich aber auch der schönsten und bestimmtesten Form nach, der Form der Alten.

Zuerst versuchten wir dieses lyrisch; wer ist, der eine Ode Uz', Klopstocks, Ramlers formlos nennen dörfte? Der letztgenannte Dichter hat in dem, was Form der Sprache ist, in Oden, Liedern, Kantaten, Idyllen und Sinngedichten so viel geleistet und an den beliebtesten Formen eigner und fremder Werke so oft gebessert, daß des Boileau Feile gegen die seinige ein stumpfes Werkzeug scheinet. Klopstocks kleinste Ode, Gerstenbergs kleinstes Gedicht ist eine lebendige Form; und wer hat uns mehrere und angenehmere Formen gegeben als unser Götz, den man den vielförmigen nennen könnte? Auf jedem Hügel des Helikons suchte seine Muse die zarteste[124] Blumen und band sie auf die vielfachste, zierlichste Weise in Kränze und Sträußchen. Sanft ruhe die Asche dieses während seines Lebens unbekannt gebliebenen Dichters; mit jedem Frühlinge blühe fortan sein Andenken auf!

Sind Kleists sämtliche kleine Gedichte ohne Form? Sind Wielands Erzählungen, vom leichtesten Märchen bis zu seinem »Agathon« und »Oberon« hinauf, formlos? Lessings Stücke vom Epigramm und Liede bis zu seiner »Minna« und »Emilie,« »Philotas« und »Nathan,« jede Fabel und Parabel, ja, ich möchte sagen, jedes Urteil und Fragment dieses scharfsinnigen Weisen hat Form und ist Form, auch wo er vielleicht irret, auch wo er nur lernte.

Ein andrer Dichter hat sich der Form der Alten auf einem neuen Wege genahet. Durch eine teilnahmlose genaue Schilderung der Sichtbarkeit und durch eine tätige Darstellung seiner Charaktere, Goethe. Sein »Berlichingen« ist ein deutsches Stück, groß und unregelmäßig, wie das deutsche Reich ist, aber voll Charaktere, voll Kraft und Bewegung. In jedem seiner späteren Stücke hat er eine einzelne gewählte Form im leichtesten Umriß zu ihrer Art vollendet. So sein »Clavigo,« seine »Stella,« sein »Egmont,« »Tasso« und jene schöne griechische Form, »Iphigenia in Tauris«. In ihr hat er wie Sophokles den Euripides überwunden. Auch aus dem Reich der Unformen rief er Formen hervor, wie sein »Faust,« sein »Kophta«; auch andre Gedichtarten sind nach Form der Alten glücklich von ihm bearbeitet worden. Wer nach diesen und andern Produktionen, auch in Übersetzungen aus fremden Sprachen, die Poesie der Deutschen formlos nennen will, der zeige mir unter Italienern, Spaniern, Franzosen und Engländern bessere Formen. Wenn an mehrere ihrer Dichter das Richtmaß gelegt würde, das Lessing in einigen Stücken an Corneille und Voltaire legte, wo bliebe Form und Umriß? –

Bei dem allen aber komme ich auf den Anfang meines Briefes zurück: Form ist nicht alles in der Dichtkunst; auch muß man einer Nation Formen nicht aufdringen, die ihr durchaus fremd sind. Was in der Welt schadete es uns, wenn[125] wir keine italienische Oper oder keine englische Komödie hätten? Diese mit allen ihren humoristischen Launen und Charakteren ist bei uns in der Natur nicht da; und ich sehe kein Übel darin, daß sie fehle; auch ist die ganze Wirtschaft dieser Komödie keine deutsche Haushaltung. Wer verbände uns also, fremde Karikaturen anzustaunen und aus ihnen ein erzwungenes Vergnügen zu schöpfen? So die kleine italienische Oper; sie will in Italien gesungen und gespielt sein. Wo sie dies nicht werden kann, was ist natürlicher, als daß trotz der besten Musik, ein fremdes Volk an ihrem fremden oft unbedeutenden Inhalt, an Ränken und Scherzen, die bei ihm nicht in Gebrauch sind, keinen Geschmack findet? Der angenehme Müßiggang, das dolce far niente, bei dem man sich öffentlich auch an Possen als an Kunststücken vergnügt und die Zeit hintändelt, ist unter unserm härtern Himmel nicht zu Hause. Wer aus einem mühseligen Leben ins Schauspiel tritt, will sich nicht bloß an der Form als an einem Kunststück freuen, sondern durch etwas Innigeres geweckt sein. Viele Kunstprodukte fremder Nationen sind Kinder der Üppigkeit und eines Verderbens der Sitten, von dem glücklicherweise manche Provinz unsrer arbeitseligen Nation noch nicht weiß; sollen wir ihr diese Produkte mit den Ursachen wünschen, die sie erzeugten, und den Geschmack an ihnen verbreiten? Führet einen gesunden jungen Mann, ein gesundes keusches Mädchen in die Kammer des abgelebten Lüstlings oder der feilen Unzucht; werden sie, denen ein besserer Trieb im Herzen schlägt oder sich in leisen Wünschen reget, an den frechen Reizungsmitteln dieser Ausgearteten und Abgestorbenen Vergnügen finden oder sie mit Entzücken ansehn? Schonet der Unschuld unsrer Nation wenn ihr sie auch eine dumme Unschuld nennen solltet; beim belohnenden Gefühl ihrer Gesundheit will sie gern mancher lüsternen Form entbehren. Jedes Volk hat seinen Kreis des Wohlanständigen in sittlichen Begriffen und Gefühlen, aus welchem es keine erjagte Lizenz eines fremden Volks reißen muß.[126]

Daß übrigens die feine Komödie bei uns manche Schwierigkeiten findet, ist unleugbar, aber auch sehr erklärlich. Erziehet die Nation, und sie wird auch an feineren Zügen der Sittlichkeit Geschmack finden. Da jetzt alles sich lesend vergnügen will, meistens aber das Schlechtste lieset, wären nicht hundert Mittel da, diese Lesereien aufs Bessere zu leiten? Bedienet euch nur einiger dieser Mittel, und das Verderben ist noch abwendbar. Sehr undeutsch wäre es, wenn bei uns die Moralität ein verspotteter Name würde; der alten Sitte nach gehört sie mit zu unserm Charakter und kann uns durch nichts ersetzt werden. Uns fehlet Witz und leichte Natur, uns fehlt ein schöner Himmel, die Unmoralitäten nur einigermaßen lustig und leidlich zu machen; deutsche Üppigkeit war daher von jeher grob, weil sie in unser Klima, in unsre Lebensart und überhaupt zum deutschen Charakter nicht gehöret.

Lassen Sie mich diesen Brief noch mit dem Andenken eines fröhlichen Dichters schließen, der uns unvergessen sein sollte, Zachariä. Seine komischen Epopöen, seine lyrischen und musikalischen Gedichte enthalten in einer leichten Form so viel Schönes und bei einer glücklichen Natur ein so geselliges Leben, daß ich sie statt mancher neueren Ziererei jungen Leuten in die Hand wünschte. Und nun zur Kritik der Deutschen!


105.

Mangel an Kritik sollte die Krankheit nicht sein, an der der Deutsche litte; unsre Langsamkeit, unsre ruhige Überlegung macht uns, dächt ich, zu gebornen Kunstrichtern.

Gesunder Verstand war von jeher das Lob, nach welchem der Deutsche strebte. Hundert Sprüchwörter und Redarten unsrer Sprache zeigen, daß wir auch im gemeinen Leben es auf ein Richtmaß der Sitten treu und ehrlich anlegten.

Und wir hatten Mut, unser Urteil zu sagen. Die Reformation, die von Deutschland ausging, war eine laut und scharf[127] gesagte Kritik über eine Menge damals geltenden Unfugs. Solange diese Streitigkeiten daureten, übten wir Kritik angriffs- und verteidigungsweise; andre Nationen folgten uns nach.

Und zwar taten wir dies (wenige vielleicht nötige Fälle ausgenommen) mit einer Bescheidenheit, in der uns andre Nationen eben nicht nachfolgten Unter allen Reformatoren der Philosophie z.B. war Leibniz der bescheidenste Reformator. Alle Systeme der Alten, glaubte er, ließen sich vereinigen, weil in jedem etwas Wahres und Vorzügliches sei; eine solche friedliche Vereinigung war von Jugend auf der Lieblingsplan unsres Weisen. Mit unüberwindlicher Gelassenheit stellete er seine Meinungen mit den Meinungen Descartes, Shaftesbury, Locke, Newtons zusammen; vor so parteiischen Ohren der letzte Streit geführt ward, blieb seine Kritik dennoch ebenso fest als bescheiden. Ich bewundere die Geduld, die er sich zu Vereinigung der Kirchen in Beantwortung theologischer Zweifel nahm; er antwortete jedem, wie er's fassen und ertragen konnte.

Mit Leibniz starb dieser Geist philosophischer, friedlicher Kritik nicht aus; auch Wolff und seine Schüler erwiesen ihn selbst gegen ihre bittersten Feinde. Allen Freunden der Leibnizischen Denkart ist eine gesunde Kritik heilig, weil sie sich in der Mathematik an Genauigkeit der Begriffe und des Ausdrucks gewöhnt haben und keine menschliche Wissenschaft verachten. Der friedliche Alexander Gottlieb Baumgarten ward mit seiner seltenen, fast ängstlichen Präzision, ohne daß er's wußte und wollte, der Vater einer Schule echter Kritik, auch der schönen Wissenschaften und Künste in Deutschland. Lambert und Kant haben ihre Architektonik und Kritik an seinen Lehrbüchern geschärfet. –

Wie nun? und dennoch hätte Ihr Vorwurf Grund, daß eben in diesem Felde, der Region des Geschmacks und Vortrages, in Deutschland eine parteiische Kritik mit falschem Maß und Gewicht handle? Sie klagen die Gutmütigkeit unsrer Nation an, die sich alles gefallen lasse, alles ertrage und[128] dulde? – Mich dünkt, die Geschichte der Zeit gebe hierüber einige Auskunft.

Als Opitz, Logau, Tscherning u.f. im bessern Geschmack zu schreiben anfingen, warfen sie sich nicht zu Richtern jedes fremden Geschmacks auf; ihre Werke waren Kritik; die Anweisungen, die Opitz und seine Nachfolger gaben, betrafen meistens nur Sprache und Verskunst.

Und sie haben hierin auf eine friedliche Art viel geleistet. Wenn ich Schottels, Stielers, Frisch, Bödikers, Wachters, Haltaus' u.a. stille Verdienste um unsre Sprache mit den heftigen und nutzlosen Streitigkeiten unwissender Schriftsteller in den folgenden Zeiten vergleiche, so sehe ich dort fleißige Ameisen und Bienen zusammentragen, hier laute Wespen schwirren und stechen. Es ist wahr, man lobte sich damals etwas zuviel untereinander; die Glieder der Fruchtbringenden Gesellschaft, des Blumen- und Schwanenordens u.f. munterten sich einander durch gegenseitiges, oft zu reiches Lob auf. War dies indessen nicht sehr verzeihlich? Nach so langen Trübsalen theologischer Streitigkeiten und des Dreißigjährigen Krieges freueten sich diese alten Kinder, daß sie auch eine Sprache hätten, in der sie schreiben und reimen könnten; und ist nicht viel, viel Gutes durch die Mitglieder dieser Gesellschaften bewirkt worden? Wie viele schreiben denn jetzt in Prose, wie Zincgref, Opitz, Harsdörfer, Rist, Lohenstein u.a. schrieben? – Lasset uns doch die guten Bemühungen unsrer Vorfahren nicht verkennen! auch über uns wird man einst als über Vorfahren richten.

Es ist schon bemerkt worden, daß an der französischen Sprachenmengerei und an dem italienisch-falschen Geschmack, der im Anfange unsres jetzt abgehenden Jahrhunderts einriß, eigentlich die deutschen Höfe schuld waren. Ihnen bequemten sich die Schriftsteller; und auch Leibniz, der zu Fortbildung der deutschen Sprache so vortreffliche Grundsätze nicht nur hatte, sondern auch bei der Akademie in Gang bringen wollte, auch er schrieb ein Deutsch, das seiner Zeit gemäß war. Noch mehr fronten Christian Thomasius,[129] Tenzel n.a. diesem Geschmack, der damals für Artigkeit galt; daher Thomasius die gesunde Kritik, die er an die Rechtswissenchaft und andre Scienzen wandte, auf den Geschmack nicht anwenden konnte. Canitz, als Hofmann, gab nur durch seine Gedichte, deren wenigste leider zu uns gekommen sind, ein besseres Muster.

Der erste, der mit scharfen Pfeilen auf den Lohensteinischen Geschmack losging, war meines Wissens Wernicke, ein Preuße. In England und Frankreich an einen bessern Geschmack gewöhnt, wollte er sowohl durch seine Sinngedichte (»Überschriften«) als durch die Anmerkungen, mit denen er sie begleilete, diesen auch den Deutschen zu kosten geben.

Nicht mit vielem Erfolg: denn seine Überschriften waren hart und die Anmerkungen doch nur Spöttereien. Sollte man an jene, die »Überschriften« nämlich, das Maß der Griechen und Römer legen, wieviel Überwitz, wie mancher falsche, erzwungene Zierart müßte hinweggetan werden, auf welchen, er doch, wie die verschiedenen Ausgaben derselben zeigen, selbst den mühsammsten Fleiß gewendet. Also war auch sein Geschmack bei weitem nicht rein und vollendet.

Die Hofverse dauerten fort, bis fern von Höfen in seinem Garten Brockes die Natur und, ebenso fern von Höfen, Bodmer und Breitinger Sitten malten. Immer bleibt Deutschland diesen Reformatoren des Geschmacks sowie den hamburgischen Patrioten Dank schuldig; sie taten, was sie zu ihrer Zeit tun konnten. Breitingers. »Dichtkunst« und Abhandlungen zeigen durchaus einen Kenner der Alten, der seinen Geschmack an ihnen bewährt hat; auch Bodmers Bemühungen, aus Neueren, sowohl ausländischen als unsrer alten deutschen Sprache uns einen größeren Reichtum an Gedanken, Bildern, Fabeln, Einkleidungen und Ausdrücken als Kunstrichter und Dichter zuzuführen haben ihren Zweck nicht verfehlet. Er hat viel aufgeregt und sich fast über Vermögen bemühet, indem er bis in sein greises Alter wie der frischeste Jüngling an jedem neuen Produkt unserer Sprache teilnahm.

Warum aber mußte diese Kritik, die doch Philosophie ist,[130] und ein besserer Geschmack am Schönen und Guten durch einen unwürdigen Federkrieg eingeführt werden? Tat nicht auch Gottsched, was er tun konnte? Die Weisesten in diesem Streit, Haller und Hagedorn, schwiegen. Der erste hat auch als Prosaist so viel Verdienst um den bessern Geschmack im Vortrage der Wissenschaften, daß ihm auch die deutsche Kritik vielleicht den ersten Kranz reichet. Mitten unter stürmischen Faktionen brachte er ein schmales Blatt deutscher Kritik unter den Schutz einer Sozietät der Wissenschaften selbst und gründete ihm dadurch nicht nur Unparteilichkeit, Billigkeit und Gleichmut, sondern auch Teilnahme am Fortgange des menschlichen Geistes in allen Weltgegenden und Sprachen. Seitdem sind die »Göttingischen gelehrten Anzeigen« nicht nur Annalen, sondern auch Beförderinnen und, ohne ein Tribunal zu sein, konsularische Fasten und Hülfsquellen der Wissenschaft worden, zu denen man, wenn manche einseitige Kritik verstummt ist, wie durch lybische Wüsten zum stillen, kenntnisgebenden Orakel der Wissenschaft reiset und dabei immer noch Hallers und seiner Nachfolger Namen segnet.

Die Trommete war erklungen; es war bestimmt, daß der bessere Geschmack der Deutschen im Schlachtgetümmel empfangen und geboren werden sollte. Wo zwei streiten, gewinnet der dritte. Nicolai schrieb seine »Briefe über den Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland« mit Übersicht der Fehler von beiden Seiten; denn schon hatten während dieses langen Streits mehrere Schriftsteller von Genie das, worüber man stritt, durch die Tat entschieden. Lessing war einer von ihnen. Seine mancherlei Vorzüge an Kenntnissen, Geschmack und Schreibart gaben ihm ohne sein Wollen das natürliche und erworbene Recht, durch ein weniges der Anfang zu vielem zu sein, das wohl nicht sein Plan war. Durch Nicolai, Mendelssohn und ihn fing die »Bibliothek der schönen Wissenschaften,« durch ihn, Mendelssohn und Nicolai fingen die »Literaturbriefe« an, unstreitig mit einem Urteil von feinerer Bestimmtheit, in einem größeren Umfang von Ideen und[131] einer schärferen Unparteilichkeit, als jene Parteien geäußert hatten. Der »Bibliothek« nahm sich, nachdem ihre Urheber vom Werk abtraten, ein Schriftsteller an, der als dramatischer und lyrischer Dichter unsrer Nation wert geworden ist, Weiße. Winckelmann, Hagedorn, Heyne, Garve u.a. machten sie eine Reihe von Jahren hindurch (in den neuesten Jahren kenne ich sie nicht) zu einer Leiterin des guten Geschmacks, die uns zugleich das Merkwürdigste fremder Nationen bekannt machte. Die »Literaturbriefe,« zu welchen nach Lessings Entfernung Abbt beitrat, taten dadurch einen merklichen Schritt weiter, daß sie bei strengem Tadel selbst oft eigene bessere Ideen entwickelten und in der gewählten Form einer Privatkorrespondenz keine Orakel der Welt sein wollten. Lessing insonderheit war ein bescheidner, gegen andre, auch wo er es nicht sein dorfte, ein nachgebender Mann, und Mendelssohn, wenn ihn die Jünger der zehnten neueren Philosophie als Philosophen ganz zum Kinde werden gemacht haben, wird in der philosophischen Kritik Deutschlands lange noch als ein schätzbarer, verdienter Name gelten.

Was nach diesen Zeiten geschehen sei, weiß ich nicht; da ich außer einem kleinen Blatt gewöhnlich kein kritisches deutsches Journal lese. Vernommen habe ich, daß man seitdem alles umfasset und dazu aus allen Ecken Kunstrichter versammelt habe; wie sie gerichtet haben, wie sie richten und richten werden, ist mir völlig fremde. Zu beklagen wäre es freilich, wenn auf diesem Wege alle Kritik in Deutschland Gewicht und Glauben verloren hätte, welches ich aber weder hoffe noch glaube. Laß es sein, daß zuweilen unbärt'ge Jünglinge denen, von denen sie gelernt hatten, das Kinn rasieren, um doch auch an ihnen berühmt zu werden; jeder honette Mann, der da sieht, wie mit seinem Nachbar gehandelt wird und wer also handelt, wird sich allmählich aus diesen anonymischen Beckenstuben zurückziehen; und so tut auch hier die Zeit ihr Werk; sie übt eine scharfe Kritik an der Kritik der Zeiten.

Wir, meine Freunde, die wir nicht zu Diktatoren der sinkenden[132] Republik wegen bestellet sind, wollen von uns selbst, von den Alten, von unsern Freunden und Feinden und von jedem lernen, der Gründe gibt und mit offnem Visier redet.




106.

Auch die Kritik ist ohne Genius nichts. Nur ein Genie kann das andre beurteilen und lehren. Nur der, der selbst Kenntnisse hat und Kräfte zeigt, kann Kräfte wecken und Kenntnisse befördern.

Seit geraumer Zeit, wie unbekannt sind wir z.B. mit den schätzbarsten Produkten des Auslandes selbst im Felde der Kritik geblieben! Lessing übersetzte Wartons »Versuch über Pope«; der zweite Teil, im Jahr 1782 erschienen, ist uns auch nicht im Auszuge bekannt worden.

Eschenburg gab in seinem »Britischen Museum« ein paar Abhandlungen aus Wartons »Geschichte der englischen Dichtkunst«; einen Auszug des ganzen Werks, sowie andrer nützlichen Werke über diesen Gegenstand, konnte er nicht geben; denn sein Museum selbst verschloß sich.

Blankenburg gab den Anfang von Johnsons »Lebensbeschreibungen der englischen Dichter,« ein Werk voll Kritik, lehrreich auch für uns Deutsche, obgleich nichts weniger als unparteilich; die Fortsetzung unterblieb.

Eschenburg gab uns Browns Buch »Über die Verbindung der Poesie und Musik«; Browns wichtigeres Werk »Über die Sitten,« das bereits im Jahr 1757 herauskam und als ein schreckender Spiegel viel Aufsehen erregte, ist noch nicht übersetzt worden.

So viel interessante Aufsätze aus Henrys, aus Littletons Geschichte, manche auch für uns merkwürdige Abhandlung aus den Sozietäten der Altertumsforscher, imgleichen von Dublin, Edinburgh, Manchester, den »Transaktionen« u.f. sind da, als ob sie für uns nicht wären. Auch mit Georg Forster, wie viel ist uns in diesem Betracht gestorben! Ein böser[133] Genius scheint sein Spiel zu haben, indem er (und wogegen?) den Faden zu zerreißen sucht, der uns mit den Gedanken andrer Nationen verknüpfet. Wir sollen auf unserm eignen Grunde metaphysizieren oder uns damit bemühen, womit sich andre längst bemühet haben.

Hierhin sollte die Kritik wirken! uns ins Universum sämtlicher gebildeten Nationen versetzen und auf unserm einsamen Gange von ihnen uns Licht und Hülfe zufördern. Überhaupt glaube ich, daß dem Charakter unsrer Nation nach die Kritik durchaus belehrend, fördernd, gutmütig, human sein müßte; nur auf diesem Wege kann sie etwas und würde gewiß viel erreichen. Unsrer gelehrten Republik mangelt äußere Aufmunterung und Achtung; wollte sie sich zum Spott der Unwissenden und zur allgemeinen Verachtung machen, indem sie sich selbst verspottet, würget und auffrißt?

Gnug von der Kritik. Sie äußerten den merkwürdigen Gedanken, daß die Poesie der Deutschen eine Kinderpoesie sei; ich hoffe, sie soll es bleiben. So ihr (im guten Verstande) nicht werdet wie die Kinder, so ist weder Tempe noch Elysium für euch.

Vor allen Dingen verschonen Sie die Poesie mit Staatsmännern, die über sie richten; das Reich der Poesie ist nicht die Staatswelt.

Wenn Sophokles seinen »Oedipus« mit der Szene des flehenden Volks eröffnet: die Pest watet, ein geheimes Verbrechen ruht auf dem Vaterlande, Jünglinge und Greise jammern, so ist diese Situation ganz menschlich. Ob Oedipus oder Lajus regiere, kümmert mich nicht; daß aber um eines Verbrechers willen das ganze Volk leide, diese Szene eröffnet ein Trauerspiel würdig.

Wenn Aristophanes Szenen der Menschheit darstellt, weswegen Friede gemacht werden müsse, so ist dies ein Gegenstand der Muse. Ob aber Kleon der Wurstmacher oder Kleon der Riemenschneider das Volk lenke, diese politische Wichtigkeit ist der poetischen Muse sehr gleichgültig.

Nichts verunreinigt den heiligen Quell mehr als politischer[134] Parteigeist; er macht die Muse zur Lügnerin, parteiisch, übertreibend, am jetzigen Augenblick als an einer Ewigkeit hangend und ihm damit die Ewigkeit erteilend. Die Tochter des Himmels wird unter den Händen der Politik eine kurzsichtige, leidenschaftliche Verleumderin, ein Kind der Erde. Die politische Poesie der Engländer sei davon ein Beispiel. Warum hat Butler den Ruhm nicht erlangt, den sein »Hudibras« so sehr verdienet? Das witzreiche Gedicht ist für ein bloßes Gespött zu lang, für die darin enthaltene Lehre und Warnung zu sehr mit Zeitanspielungen überhäuft, zu politisch. Jenes gewaltige Vernunftgenie, Swift, was hat ihn für den größesten Teil der Nachwelt unbrauchbar gemacht? Die politischen Umstände, aus welchen er sein Gespinst zog und in welche er seine köstlichen Gedanken webte. Die Politik der damaligen Zeit ist ein Traum worden; es macht uns Mühe, jeden seiner tiefen bleibenden Gedanken von einem verlebten Traume zu sondern. Wer lieset jetzt Churchills Gedichte? und wer wird Peter Pindar mit reinem Vergnügen lesen, wenn unsere Zeit vorbei ist? Beklagen wird man soviel verschwendete goldne Talente.

Mit Unwillen höre ich's also, wenn man unsrer Nation einen Swift wünschet, einen bedaurens- und hochachtungswürdigen Mann, der nur durch Mißfälle ward, was er geworden ist, und, vom Glück begleitet, ein Genius der Gerechtigkeit und der Klugheit geworden wäre und ein Swift in Deutschland? –

Hinweg also Politik aus dem Gebiet der Musen! und verwünscht sei jede Aftermuse, die der Politik frönet. Treue und Glauben, Unschuld der Sitten, Biederkeit und Einfalt das sei'n unsre Kastaliden! alles andre ist vergängliche Torheit. Zur italienischen acutezza, zur spanischen grandezza, zur französischen légèrteté, zum britischen high-spirit wird[135] sich der Deutsche nie hinaufschwingen; was er aber ist und von jeher gewesen, davon ist seine eigne Geschichte eine durch Jahrhunderte erprobte Stimme der Wahrheit. Was alle Dichter singen, wohin sie wider Willen streben, was ihnen am meisten glückt, was bei denen, die sie lesen und hören, die größeste Wirkung hervorbringt, das ist Charakter der Nation, wenn er auch als eine unbehauene Statue noch im Marmorblock daläge. Dies ist Vernunft, reine Humanität, Einfalt, Treue und Wahrheit. Wohl uns, daß uns dies sittliche Gefühl ward, daß dieser Charakter gleichsam von unsrer Sprache unabtrennlich ist, ja daß uns nichts gelingen will, wenn wir aus ihm schreiten. Lehrgeld in erzwungenen Nachäffungen haben wir gnug gegeben.

Mit diesem Charakter, wie viel können wir entbehren! Wenn andre Nationen sich im Geschmack hie- und dorthin verirrten, so wird unsre Regel feststehn, die im Mannigfaltigsten die wahreste Einfalt sucht und uns die Poesie sein läßt, was sie sein soll: ein Spiegel der Natur und Sitten, Humanität im gefälligsten, reinsten Gewande, Philosophie des Lebens. Dies war einst Orpheus' und Apollos Kunst.


107.
Neuntes Fragment

Resultat der Vergleichung

der Poesie verschiedener Völker alter

und neuer Zeit


Die Poesie ist ein Proteus unter den Völkern; sie verwandelt ihre Gestalt nach Sprache, Sitten, Gewohnheiten, nach dem Temperament und Klima, sogar nach dem Akzent der Völker.

Wie Nationen wandern, wie sich die Sprachen mischen und ändern, wie neue Gegenstände die Menschen rühren, wie ihre Neigungen eine andre Richtung, ihre Übungen ein andres Ziel nehmen, wie in der Zusammensetzung der Bilder und[136] Begriffe neue Vorbilder auf sie wirken, selbst wie die Zunge, dies kleine Glied, sich anders beweget und das Ohr sich an andre Töne gewöhnt, so verändert sich die Dichtkunst nicht nur bei verschiedenen Nationen, sondern auch bei demselben Volke. Die Poesie zu Homers Zeiten war bei den Griechen ein andres Ding als zu Longins Zeiten, selbst dem Begriff nach. Ganz ein andres war's, was sich der Römer oder der Mönch, der Araber und der Kreuzritter oder was nach wiedergefundenen Alten der Gelehrte und in verschiednen Zeitaltern verschiedner Nationen der Dichter und das Volk sich an Poesie denken. Der Name selbst ist ein abgezogner, so vielfassender Begriff, daß, wenn ihm nicht einzelne Fälle deutlich untergelegt werden, er wie ein Trugbild in den Wolken verschwindet. Sehr leer war daher der Streit über den Vorzug der Alten oder der Neuern, bei welchem man sich wenig Bestimmtes dachte.

Er ward noch leerer dadurch, daß man keinen oder einen falschen Maßstab der Vergleichung annahm; denn was sollte hier über den Rang entscheiden? Die Kunst der Poesie als Objekt? Wieviel feine Bestimmungen gehörten dazu, das Höchste der Vollkommenheit in jeder Art und Gattung nach Ort und Zeit, nach Zweck und Mitteln auszufinden und auf jedes Verglichene unparteiisch anzuwenden! Oder sollte die Kunst des Dichters nach dem Subjekt betrachtet werden, wieviel dieser vor jenem glückliche Gaben der Natur, eine günstigere Lage der Umstände, mehreren Fleiß in Nutzung dessen, was vor ihm gewesen war und um ihn lag, ein edleres Ziel, einen weiseren Gebrauch seiner Kräfte, dies Ziel zu erreichen, zu seinem Eigentum machte; welch ein andres Meer der Vergleichung! So manchen Maßstab der Dichter einer Nation oder verschiedener Völker man aufgestellt hat, so manche vergebliche Arbeit hat man übernommen. Jeder schätzt und ordnet sie nach seinen Lieblingsbegriffen, nach der Art, wie er sie kennenlernte, nach der Wirkung, die der und jener auf ihn machte Der gebildete Mensch trägt, wie sein Ideal der Vollkommenheit, so auch seinen Maßstab, diese[137] zu erreichen, in sich, den er nicht gern mit einem fremden vertauschet.

Keiner Nation dörfen wir's also verargen, wenn sie vor allen andern ihre Dichter liebt und sie gegen fremde nicht hingeben möchte: sie sind ja ihre Dichter. In ihrer Sprache haben sie gedacht, im Kreise ihrer Gegenstände imaginiert; sie fühlten die Bedürfnisse der Nation, in welcher sie erzogen wurden, und kamen diesen zu Hülfe. Warum sollte die Nation also nicht auch mit ihnen fühlen, da ein Band der Sprache, Gedanken, Bedürfnisse und Empfindungen sie fest aneinanderknüpfet.

Italiener, Franzosen und Engländer schätzen ihre Dichter, oft mit ungerechter Verachtung andrer Völker, parteiisch hoch; der einzige Deutsche hat sich verführen lassen, das Verdienst fremder Völker, insonderheit der Engländer und Franzosen, unmäßig zu übertreiben und darüber sich selbst zu vernachlässigen. Zwar einem Young (denn von Shakespeare, Milton, Thomson, Fielding, Goldsmith, Sterne ist hier nicht die Rede) gönne ich seine vielleicht etwas überspannte Verehrung bei uns gern, da er durch Eberts Übersetzung eingeführt ward, eine Übersetzung, die nicht nur alles Verdienst eines Originals hat, sondern auch die Übertreibungen ihres englischen Originals durch den Bau einer harmonischen Prose und durch die reichen moralischen Anmerkungen aus andern Nationen gleichsam zurechtfüget und mildert. Sonst aber wird es den Deutschen immer den Vorwurf einer unentschlossenen Lauigkeit zuziehn, daß die reinsten Dichter ihrer Sprache in Schulen und bei Erziehung der Jugend überhaupt so vergessen und hintangesetzt werden, wie keine benachbarte Nation es tut. Wodurch soll sich unser Geschmack, unsre Schreibart bilden? wodurch unsre Sprache bestimmen und regeln als durch die besten Schriftsteller unsrer Nation? Ja, wodurch sollen wir Patriotismus und Liebe zu unserm Vaterlande erlangen als durch seine Sprache, durch die vortrefflichsten Gedanken und Empfindungen, die in ihr ausgedrückt, die wie ein Schatz in sie gelegt sind. Gewiß irrten wir nicht nach einem Jahrtausend,[138] in dem unsre Sprache geschrieben ist, in manchen Wortfügungen noch jetzt zweifelnd umher, wenn wir von Jugend auf unsre besten Schriftsteller kennten und sie uns zu Führern wählten.

Indessen soll keine Liebe zu unsrer Nation uns hindern, allenthalben das Gute zu erkennen, das nur im großen Gange der Zeiten und Völker fortschreitend bewirkt werden konnte. Jener Sultan freuete sich über die vielen Religionen, die in seinem Reich, jede auf ihre Weise, Gott verehrten; es kam ihm wie eine schöne, bunte Aue vor, auf der mancherlei Blumen blühten. So ist's mit der Poesie der Völker und Zeiten auf unserm Erdrunde; in jeder Zeit und Sprache war sie der Inbegriff der Fehler und Vollkommenheiten einer Nation, ein Spiegel ihrer Gesinnungen, der Ausdruck des Höchsten, nach welchem sie strebte (oratio sensitiva animi perfecta). Diese Gemälde (minder und mehr vollkommene, wahre und falsche Ideale) gegeneinanderzustellen gibt ein lehrreiches Vergnügen. In dieser Galerie verschiedner Denkarten, Anstrebungen und Wünsche lernen wir Zeiten und Nationen gewiß tiefer kennen als auf dem täuschenden, trostlosen Wege ihrer politischen und Kriegsgeschichte. In dieser sehen wir selten mehr von einem Volke, als wie es sich regieren und töten ließ; in jener lernen wir, wie es dachte, was es wünschte und wollte, wie es sich erfreute und von seinen Lehrern oder von seinen Neigungen geführt ward. Freilich aber mangeln uns noch viel Hülfsmittel zu dieser Übersicht in die Seelen der Völker. Griechen und Römer beiseite gesetzt, hangen über dem Mittelalter, aus welchem bei uns Europäern doch alles hervorging, noch dunkle Wolken. Meinhards schwacher »Versuch über die italienischen Dichter« ist nicht einmal bis auf Tasso fortgesetzt, geschweige etwas Ähnliches bei andern[139] Nationen ausgeführt worden. Ein »Versuch über die spanischen Dichter« ist mit dem gelehrten Kenner dieser Literatur, dem Herausgeber des Velasquez, Diez, gestorben.

Auf drei Wegen kann man sich eine Übersicht dieses blumen- und fruchtreichen Feldes menschlicher Gedanken verschaffen, und jeder ist betreten worden.

Eschenburgs beliebte »Beispielsammlung« wählet, seiner Theorie gemäß, den Weg der Gattungen und Arten; für Jünglinge ein lehrreicher Weg bei einem geschickten Führer; denn oft kann ihn ein Name, der sehr verschiedene Dinge bezeichnet, ganz irreleiten. Homers, Virgils, Ariosts, Miltons, Klopstocks Werke tragen einen Namen der Epopee und sind doch selbst nach dem Kunstbegriff, der in den Werken liegt, geschweige nach dem Geist, der sie beseelet, ganz verschiedene Produktionen. Sophokles, Corneille und Shakespeare haben als Trauerspieldichter nur den Namen gemein; der Genius ihrer Darstellungen ist ganz verschieden. So bei allen Gattungen der Dichtkunst bis zum Epigramm hinunter. –

Andre haben die Dichter nach Empfindungen geordnet, da denn insonderheit Schiller128 viel Feines und Vortreffliches gesagt hat. Allein, wie sehr laufen die Empfindungen ineinander! welcher Dichter bleibt einer Empfindungsart dergestalt treu, daß sie seinen Charakter, zumal in verschiednen Werken, bezeichnen könnte? Oft rühret er ein Saitenspiel von vielen, ja von allen Tönen, die sich eben durch Disharmonien heben. Die Welt der Empfindungen ist ein Geister-, oft ein Atomenreich; nur die Hand des Schöpfers vermag daraus Gestalten zu ordnen.

Die dritte, wenn ich so sagen darf, Naturmethode ist, jede Blume an ihrem Ort zu lassen und dort ganz, wie sie ist, nach Zeit und Art, von der Wurzel bis zur Krone zu betrachten. Das demütigste Genie hasset Rangordnung und Vergleichung.[140]

Es will lieber der Erste im Dorf sein als der Zweite nach Cäsar. Flechte, Moos, Farrenkraut und die reichste Gewürzblume: jedes blühet an seiner Stelle in Gottes Ordnung.

Man hat die Dichtkunst subjektiv und objektiv, nach den Gegenständen, die sie schildert, und nach den Empfindungen, mit denen sie Gegenstände darstellt, geordnet; ein wahrhafter und nützlicher Gesichtspunkt, der auch zu Charakterisierung einzelner Dichter, z.B. Homers und Ossians, Thomsons und Kleists u.a., der rechte scheinet. Homer nämlich erzählt die Geschichten seiner Vorwelt ohne merkliche besondre Teilnehmung; Ossian singet sie aus seinem verwundeten Herzen, aus seiner traurig-fröhlichen Erinnerung. Thomson schildert Jahrszeiten, wie die Natur sie gibt; Kleist singet seinen Frühling, mit oft einbrechenden Gedanken an sich und seine Freunde, als eine Rhapsodie, von Ansichten mit Empfindung beseelet. Indessen auch dieser Unterschied bezeichnet Dichter und Zeiten der Dichtkunst sehr leise; denn auch Homer nimmt teil an seinen Gegenständen, als Grieche, als Erzähler, wie in den mittleren Zeiten die Balladensänger und Fabliers, wie in neueren Zeiten Ariost und Spenser, Cervantes und Wieland. Ein mehreres zu tun wäre außer seinem Beruf gewesen und hätte seine Erzählung gestöret. In Anordnung und Bezeichnung seiner Gestalten aber singt auch Homer auf die höchste Weise menschlich; wo es uns nicht also scheinet, liegt der Unterschied an der Denkart der Zeiten und ist sehr erklärbar. Ich getraue mich, in den Griechen jede reine menschliche Gesinnung, vielleicht im schönsten Maß und Ausdruck, aufzufinden, nur alles an Ort und Stelle. Aristoteles, »Poetik« hat Fabel, Charaktere, Leidenschaften, Gesinnungen unübertrefflich geordnet.

Zu allen Zeiten war der Mensch derselbe; nur er äußerte sich jedesmal nach der Verfassung, in der er lebte. Sehr mannigfaltig ist die Poesie der Griechen und Römer, in ihren Wünschen und Klagen, in ihren Beschreibungen voll Lust und Freude. So die Poesie der Mönche, der Araber, der Neueren. Den großen Unterschied, der zwischen dem Morgen- und[141] Abendlande, zwischen Griechen und uns eintrat, hat keine neue Kategorie, sondern die Vermischung der Völker, der Religionen und Sprachen, endlich der Fortgang der Sitten, der Erfindungen, der Kenntnisse und Erfahrungen bewirket; ein Unterschied, der schwerlich mit einem Wort auszudrücken sein möchte. Wenn ich bei einigen Neuern das Wort Dichter aus Reflexion gebrauchte, so war auch dies unvollkommen; denn ein Dichter aus bloßer Reflexion ist eigentlich kein Dichter.

Der Poesie Grund und Boden ist Einbildungskraft und Gemüt, das Land der Seelen. Ein Ideal der Glückseligkeit, der Schönheit und Würde, das in deinem Herzen schlummert, wecket sie auf durch Worte und Charaktere; sie ist der Sprache, der Sinne und des Gemüts vollkommenster Ausdruck. Kein Dichter kann dem Gesetz entgehen, das in ihr liegt; er zeigt, was er hat und nicht habe.

Auch kann man in ihr Ohr und Auge nicht sondern. Die Poesie ist keine bloße Malerei oder Statuistik, die Gemälde, wie sie sind, ohne Absicht darstellen könnte; sie ist Rede und hat Absicht. Auf den innern Sinn wirket sie, nicht auf das äußere Künstlerauge; und zu jenem innern Sinn gehört bei einem gebildeten oder zu bildenden Menschen Gemüt, moralische Natur, mithin bei dem Dichter vernünftige und humane Absicht. Die Rede hat etwas Unendliches in sich; sie macht tiefe Eindrücke, die ja eben die Poesie durch ihre harmonische Kunst verstärket. Nie kann also der Dichter bloß ein Maler sein wollen. Er ist Künstler vermöge der eindringenden Rede, die das Objekt, das sie malt oder darstellt, auf einen geistigen, moralischen, gleichsam unendlichen Grund, ins Gemüt, in die Seele malet.

Sollte also nicht auch bei dieser, wie bei allen Reihen fortgesetzter Naturwirkungen, ein Fortgang unumgänglich sein? Ich zweifle daran (den Fortgang recht verstanden) gar nicht. In Sprache und Sitten werden wir nie Griechen und Römer werden; wir wollen es auch nicht sein. Ob aber der Geist der Poesie durch alle Schwingungen und Exzentrizitäten,[142] in denen er sich bisher nationen- und zeitenweise periodisch bemühet hat, nicht dahin strebe, immer mehr und mehr, so wie jede Grobheit des Gefühls, so auch jeden falschen Schmuck abzuwerfen und den Mittelpunkt aller menschlichen Bemühungen Zu suchen, nämlich die echte, ganze, moralische Natur des Menschen, Philosophie des Lebens – dieses wird mir durch Vergleichung der Zeiten sehr glaubhaft. Auch in Zeiten des größesten Ungeschmacks können wir uns nach der großen Regel der Natur sagen: »Tendimus in Arcadiam, tendimus!« Nach dem Lande der Einfalt, der Wahrheit und Sitten geht unser Weg.[143]

126

Warton, »on Spenser's ›Faery Queen‹« u.a. Wenn wir den gelehrten Fleiß betrachten, den die Engländer auf ihre alten Dichter, z.B. Warton auf Spenser, Tyrwhitt auf Chaucer, Percy auf die Balladen und so viele, viele der belesensten Männer auf ihren Shakespeare und ihr altes Theater, gewandt haben, und sodann uns betrachten – was sagen wir?

127

S. Schilters »Thesaur.« A.d.H.

128

Siehe die »Horen,« November, Dezember 1795; Januar 1796.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1971, S. 73-145.
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