Vierte Sammlung

[205] (1794)
[205]

40.

Neulich lernt ich in der Gesellschaft unsrer Unsichtbar-Sichtbaren29 einen besondern Mann kennen, der sich Realis de Vienna nannte. Er nahm es als Deutscher mit allen Ausländern um den Preis der Wissenschaften und des Verstandes auf und tadelte mehrere Schriftsteller Deutschlands, daß sie die Ehre ihres Vaterlandes zu sehr verkannt, Fremde zu sehr gelobt, ihnen nachgeahmt, geschmeichelt haben. – Doch Sie sollen seine Behauptungen selbst hören:

»Deutschlands Vorzug bestehet in diesen vier Stücken, daß es nach der langen Nacht der dicken Unwissenheit die ersten, die meisten, die höchsten Erfinder gehabt und in 900 Jahren mehr Verstand erwiesen als die übrigen vier Meistervölker zusammen in 4000 Jahren. Man kann mit Wahrheit sagen, Gott habe die Welt durch zwei Völker klug machen wollen, vor Christi Geburt durch die Griechen, nach Christo durch die Deutschen. Die griechische Weisheit kann man das alte Vernunfttestament, die deutsche das neue nennen.«

»Durch zwei Stücke wird vornehmlich ein Volk herrlich, durch Ehrliebe und Verstand zusammen; Tapferkeit und alles andre, was dazu hilft, muß durch jene zwei eingerichtet werden; aus ihnen kommt Reichtum und Macht, aus allen miteinander endlich Ruhm, den alle Welt sucht. Die Deutschen sind aus Mangel der Großmütigkeit und Landesliebe, die übrigen Europäer (außer den berühmten fünf Hauptvölkern[207] aus Mangel der Erfinder und großen Weltweisen zurückgeblieben.«

»Verachtung kommt aus Feigheit, Niedertracht oder Dummheit; jede allein kann arm, ohnmächtig und verachtet machen Verstand aber allein oder Großmütigkeit allein machen nicht berühmt; sie müssen zusammen sein.«

»Aus Wahn von der ausländischen Klugheit fließt die deutsche Niederträchtigkeit; oder ist sie schon in uns, so wird sie greulich vermehrt und verhärtet. Hierauf folgt die unsinnige Äfferei, hieraus die Verstandesverfinsterung, Jugend- und Zeitverlust, die Schwindelreisen, die Geldverschleuderung und deutsche Armut, fremder Nationen Reichtum, ihre Macht, Stolz, Trotz, ihre Verleumdungen und der Deutschen Verachtung, das Märchen von der deutschen Dummheit, unsre Bettelei, daß wir der Ausländer Lohnsoldaten heißen, stetiges Kriegen und Blutvergießen, da wir auf unsre eigne Unkosten gepeitschet werden, Verlust so vieler Länder und Städte, Verlust der deutschen Vertraulichkeit, Aufrichtigkeit, Glückseligkeit, mit Vertauschung der hochgeachteten fremden Sitten, Lüderlichkeit und Blindheit. Alles dies hängt aneinander am Märchen von der ausländischen Klugheit und deutschen Einfalt.«

»Dies Märchen scheuet man sich ins Licht zu setzen wegen der angeerbten sklavischen Niedertracht, wegen Mangel der Wahrheitliebe, Seltenheit des gesunden Urteils, endlich aus Mangel der Geschichtkenntnis. Man begnügt sich mit Widersprechen, Wehklagen, Seufzen und Betteln: die Ausländer möchten uns doch mit in ihre Gesellschaft nehmen, wir gehörten auch unter die fünf klugen Jungfern u. f. Dies beweiset man, statt Erfinder anzuführen, mit Schulmeistern, Pfarrern, Sprachkünstlern und geduldig schwitzendem Volk, welche Fleiß für Verstand halten, mit Stopplern und Ausziehern, woraus eben die Ausländer unsre Dummheit beweisen wollen. Wir haben nicht einmal das Herz, unsre Erfindungen wider die Ausländer zu verteidigen; sobald sich derselben eine einer zuschreibt, so ist's damit aus, sie ist verloren.«[208]

»Was geht mich ein hochbegabt Volk oder der tugendhafteste Mensch der Welt an, wenn er mich schändet? Ich habe die Briefe von seiner Tugend, wenn er mich verleumdet. Tugend muß man zwar auch am Feinde loben, wo es der Wahrheit Ehre fodert; sonst aber muß man von seines Feindes Tugend stillschweigen, sonderlich wo sein Lob uns Schaden bringt. Doch wird ein Tugendhafter hochbegabte Leute nimmer schimpfen.«

»Bescheidenheit wird nur gegen ehrliche Leute erfordert; Irrende muß man unterrichten, nicht schimpfen mit harten Worten; Bosheit aber muß mit Beschämung gestraft werden, Unterricht hat da keine Statt. Will man vorsetzliche Bosheit ehrerbietig unterrichten, den Wolf bitten, die Schafe nicht zu fressen, so wird Bosheit durch die Ehre gestärkt und andre zu gleicher Bosheit gereizt; ›bonis nocet, malis qui parcit‹.«

»Wie unzeitige Barmherzigkeit der ärgste Grimm ist, so stiftet unzeitige Ehrerbietung weit mehr Unglück als unnötiger, allzu großer Zorn. Der Päpstler mörderischer Eifer hat mit Geißeln, Martern, Brennen die Welt nicht so verderbt als die heimliche Herrschsucht der bescheidnen Höflichen, der heiligen Heuchler tückische oder dumme Sanftmut. Wie die abgedroschne Predigt von der Freiheit eine Eitelkeit ist, so ist's mit dem Senf der Bescheidenheit ein herber Betrug, daran ein Aufrichtiger sich nicht kehret. Den Betrüger einen Betrüger zu nennen gehört nicht nur zur Aufrichtigkeit, sondern auch mit zur Freiheit; es ist eine notwendige Sache.«

»Unsre Ehrenretter, wenn sie am eifrigsten sind, werfen den Franzosen die lächerlichsten Kindereien vor, die gar nichts bedeuten. Also, wenn sie ihnen heftig wehe tun und sie mit Vorhaltung grober Fehler recht demütigen wollen, so zählen sie her, wie hie und da ein Franzos Wittenberg,[209] Altdorf, Rostock nicht gekannt und diese Städte für Personen gehalten. Nun ist zwar der Fehler grob genug, immittelst weil solche Unwissenheit aus Stolz und Verachtung unser herrührt, warum wollen wir damit ihre Dummheit beweisen? Ihre Sachen wieder verachten, nicht bewundern, anbeten, geschweige für Millionen kaufen, ihnen Urteil- und Sinnigkeitfehler, Erfindungsmangel und Dieberei vorhalten, war die rechte Rache; diese kann demütigen. Wie werden wir sie damit demütigen, woraus sie Ehre suchen, nämlich aus Verachtung der deutschen Sachen, woran wir selbst schuld sind, weil wir unsre Sachen selbst verachten.«

»Die Ausländer halten's für den ärgsten Spott, uns etwas nachzutun, das hernach an ihnen unser hieße, viel weniger werden sie es mit Prahlerei tun und uns dabei herausstreichen. Nehmen sie etwas von uns an, so tun sie es verstohlen, schämen sich der Annehmung und Nachahmung und leugnen, daß es unser sei, mit Zorn und Gift. Und der Deutschen Ehre soll die Affenkunst der Nachahmung sein und bleiben?«

»Lernen ist eigentlich der Kinder Amt und Eigenschaft, daher Kinder der Strafe unterworfen sind; sie müssen gehorchen. Erwachsnen Leuten ist's gar unanständig, lernen sollen, was sie selbst können sollten; weit unanständiger aber ist in einem ganzen Volk, einem andern Volk zu gehorchen. Nachahmen gehört entweder zum Lernen oder zur Knechtschaft.«

»Der Schüler ist allezeit unterm Lehrmeister, der Erfinder hat die Ehre vorm Nachmacher; Erfindung macht Naturherrn, Nachahmung Naturknechte.«

»Wenn ein ganz Haus mit allen Hausgenossen, alt und jung, sich gegen seinen Nachbar so anstellte, der Mann ahmete dem Nachbar, die Frau der Nachbarin, Töchter, Söhne, Knechte, Mägde ahmten den Töchtern Söhnen, Knechten, Mägden des Nachbars nach, würde nicht die ganze Stadt sagen: ›Das Haus ist voll Narren, die drin wohnen, sind alle unsinnig?‹ Und trieben sie die Haserei nur aus Unbedachtsamkeit, würden nicht alle Kinder auf der Gasse von diesen[210] tollen Klugen als Nichtswürdigen zu reden wissen? Was würde man aber sprechen, wenn diese Nachahmer den ersten noch Geld dazu geben, daß sie derselben Narren sein dürften? Von einem ganzen Lande nun ist es noch niedriger.« – –

In dem Ton sprach Realis de Vienna weiter. Er zeigte, daß die Nachahmung, zumal der Franzosen, den Deutschen schädlich und verderblich sei; durch sie versaure und verroste der Verstand, man versuche nichts und verzage an eignen Kräften. Mit Nachahmung sein die welsch-französischen Laster zu uns gekommen. Wir hätten das Nachahmen nicht nötig; ja, man müßte den Deutschen auch in nützlichen Dingen die Äfferei nicht zulassen, weil keine Grenze be stimmt werden könne, was, wieviel, wieweit nachzuäffen sei. Der Deutsche sei beim Nachahmen ungeschickt u. f. – Was dünkt Ihnen zu diesem Autor?


41.

Realis de Vienna ist keine erdichtete Person. Er lebte zu Anfange unsres Jahrhunderts, da die Kultur der höheren Wissenschaften durch Leibniz auch in Deutschland neuen Platz gewann; zugleich aber hatte sie damals mit dem elendesten Pedantismus der Hof- und Schulhasen (wie Realis sie nennt) zu streiten. An Höfen blühete eine französische Galanterie, von der wir uns kaum noch einen Begriff machen können; einige Schulpedanten wollten den Hofgecken nachahmen, so entstand die talandrische, die menantische, die weisische Schreibart. Der verdienstreiche Christian Thomasius selbst konnte sich diesem sinkenden Boden nicht entziehen und ward in manchem ein Hofphilosoph, allerdings nicht im besten Geschmack. Die Literargeschichte, die damals auch im Gange war, hinkte dem allgemeinen Geschmack nach, schmeichelte den Ausländern; der Schall von Ludwig XIV. hatte die Welt erfüllet, und in den deutschen Glocken sausete er in massiverem Ton um so länger nach.

Da erkühnte sich nun dieser Realis de Vienna, den Hof-[211] und Schulfüchsen deutscher Nation entgegenzusprechen, und schrieb eine »Prüfung des europäischen Verstandes durch die weltweise Geschichte«. Er schrieb sie; ich zweifle, daß sie je gedruckt worden. Das Manuskript muß sonderbare Schicksale gehabt haben; denn in der vorliegenden Schrift »Nachricht von Realis, de Vienna Prüfung« werden sonderbare Umstände lautbar. Die Handschrift (so sagt der Verfasser) sei 21 Jahre umhergegangen, seitdem sie Prof. Adam Rechenberg in Leipzig (Christian Thomasens Schwager) dem Buchführer im Jahr 1693 entführet. Dieser habe sie unter seinen Bekannten herumgeschickt, andre auch von dieser Sache zu schreiben angereizt, endlich sie Reimannen übergeben, der den Kern seiner Literaturgeschichte Deutschlandes ganz, aber äußerst kraftlos und unvollständig aus diesem Werk genommen und nur die elenden kindischen Schalen dazu getan habe u.f. Auch Kasimirs »Kanonik,« glaubt er, sei aus seiner sogenannten »Vernunfterstattung« gezogen u.f.

So anmaßend dies alles klingt, um so mehr verdiente das Werk und die Behauptung des Verfassers Aufmerksamkeit und Prüfung. Was er über Reimanns Geschichte, über Thomasius' »Hofphilosophie,« über den Streit zwischen Leibniz und Newton, über den Ursprung der Journale, die Sprachenmischerei, über die Nachahmungssucht und Demut der Deutschen gesagt hat, ist jetzt unser aller Urteil. Die Zeit hat dar über entschieden, und dieser unbekannte Gabriel Wagner30 (ein Magister der Philosophie aus Quedlinburg, der viele Universitäten besucht hatte und in seinem Leben zu nichts kommen konnte) ist in mehreren Urteilen seiner Zeit so mächtig vorgeschritten, daß man es bewundert, wie sehr die Stimme der Wahrheit oft aufgehalten werden könne und wie langsam die Zeit schleiche. Seine »Prüfung des europäischen Verstandes« (der Beschreibung nach ein ausführliches Werk) muß seinem Inhalt nach um so merkwürdiger sein, da er nicht etwa nur die Hof- und Schulfüchsereien verachtet,[212] sondern auch den reellen Wissenschaften, der Mathematik, Philosophie, den höheren und nützlichen Erfindungen der Völker seine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben scheinet. Wenn also seine unterdrückte Handschrift sich irgendwo noch auffände (und ich zweifle daran um so weniger, da sie durch viele Hände gegangen ist und wahrscheinlich mehrere Abschriften veranlaßt hat), so wäre, mit Auslassung alles dessen, was für uns nicht mehr dienet, eine geläuterte Bekanntmachung derselben zu wünschen. In der Nachricht, die vor mir liegt, wurde das Werk bei Frobösen in Greifswalde liegend angezeigt und jedermann aufgefodert, es mit Verlag oder andrer Hülfe zu befördern; die damaligen Lichter Deutschlands mochten dieser Beförderung nicht hold sein, und so blieb es begraben. Mir wäre es kein unangenehmes Postpaket, wenn mir eine Fee dies irgendwo gewiß totliegende Mskr. oder eine Nachricht davon zuschickte.

Denn außer dieser »Prüfung des europäischen Verstandes« gedenkt der Verf. noch einer andern Schrift: »Geheimstube oder Velledenblätter,« 1692 in vier Büchern entworfen, deren Inhalt in manchem sonderbar genug ist.


A. Die Vernunfterstattung (die Europäer von der Viehheit, Quackerei und Aberglauben wieder zur Menschheit zu bringen und ihnen die fünf Sinne zu erstatten). Statt der Kapitel zeichne ich bloß einige Grundsätze aus:

1. Es gibt Gewißheit; der Mensch kann viel Wahrheit wissen.

2. Alle Gewißheit und Klarheit kommt aus rein mathematischem Grunde.

3. Zur Wahrheitforschung braucht's keiner ersten allgemeinen Wahrheitsquelle (keines principii primi).

4. Wahrheit ist heilsamer als Erdichtungen. (Diese Aufgabe, sagt Wagner, mit ihren Beifügungen ziehet ungewöhnliche neue Sätze nach sich und ist der Grund fast einer neuen Weltweisheit, die den Descartes, Hobbes, Spinoza, Pufendorf, Leibniz verbessert.)[213]

5. Aus Wahrheit folgt nimmer Unwahrheit, aus dieser nimmer Wahrheit.

6. Alle Unwahrheit kann widerlegt werden, sie sei so subtil sie wolle.

7. Der Wahrheit Tür, Ursprung und Boten sind die Sinne.

8. Es ist nur eine Vernunft.

9. Vernunft irrt nimmer. Klugheit und Wahrheitfindung entspringen beide aus der Natur, Gütigkeit und Übung, nicht aus Lehrsätzen und Unterricht. Diese sind ein äußerlich geringer Vorteil und Erleichterung dazu, geben aber weder Wahrheit noch Verstand. Wenn man sie für unentbehrlich ausgibt, sind sie der Schulfüchserei Merkmal.

10. Der Mensch ist nicht vernünftig, doch nicht ohne Vernunft.

11. Des Menschen Vorzug vorm Vieh ist allein die Vernunftdämmerung.

12. Der Wille beherrscht den Menschen in allem, die Vernunftdämmerung in nichts.

13. Sinne verführen; Aufrichtigkeit und Vernunftdämmerung sind die innern Mittel zur Wahrheit.

14. Die Natur ist nicht verderbt, nicht Gottes Feindin. Sie ist Gottes Buch, der Vernunftschein Gottes Licht; nach ihnen muß man alles erklären.

15. Aberglaube ist kein Mittel zur Wahrheit.

16. Naturkünste machen aufrichtig, Schulkünste stolz und grausam.

17. Man soll alles, so viel möglich, nach der Natur erklären.

18. Lust zu Natursachen ist ein Merkmal der Großmütigkeit.

19. Stolz und Dummheit sind aller Laster und alles Unglücks Ursach.

20. Weisheit besteht nicht in Eigennutz; ihr Ziel ist eigentlich allein Wahrheit. (Ob aber Aufrichtigkeit allein mit Wahrheit ohne Nutz zufrieden sein soll und ob Wahrheit ohne allen Nutz sein könne, sei eine andre Frage.)[214]

21. Alle Weisheit beruhet auf vier Wissenschaften, alles andre, was zu selbigen nicht gehört, gehört zur Schulfüchserei.

22. Die deutschen Handkünste zeigen Verstand, die ausländischen Fleiß, Geduld, Geiz und Stolz.

23. Ein Unchrist ist kein Ungötter (Atheist).

24. Viele Leute, insonderheit die Gelehrten, merken ihre eigne Bosheit nicht, viel weniger ihre Dummheit.

25. Einer siehet oft mehr als alle Schulen und das ganze Land.

26. Lehre artet den Verstand; den Willen greift sie nicht an.

27. Lehren ist nötig, auch beim stoischen Glauben.

28. Der mathematische Lehrweg ist nicht der beste; der werkkünstige Lehrweg allein findet die Wahrheit.

29. Sittenlehrige Absichten verderben die Naturkundigung.

30. Die Reisen in barbarische Länder sind nützlicher als in die Hasenländer zu den freundlichen Mördervölkern.


II. Der Naturglaube.


III. Der Schulen Papsttum.


IV. Umbildung der Staatskunst nach folgenden Grundsätzen:

1. Gegen Natur- und Staatskünste sind alle andre Künste Kinderpossen; die Naturkundigung ist aller andern Künste Meer und Kaiserin.

2. Äußerliches oder Hofsittenwerk ist Wahnwerk, ein frei willkürlich Werk; was man für schön und häßlich setzt, ist schön und häßlich.

3. Das Märchen von der Ausländer Klugheit und Deutschen Dummheit ist allein aus der Deutschen Geduld und der Ausländer Prahlerei entstanden.

4. Man kann fast sagen, daß weder Liebe, Geld noch Stolz so stark sei als der Deutschen Geduld und Demut. Der Gemütsunadel löscht in uns die Mensch heit, die allgemeine Empfindnis, Selbstliebe und Selbsterhaltung ganz aus.[215]

5. Angenommene Großmütigkeit würde das ganze Märchen in zehn Jahren umkehren.

6. Verstandesehre geht über alle Ehre, ist aller andern Ehre Grund, also nicht in den Wind zu schlagen.

7. Eines Volks Ehre hängt großenteils an seiner Muttersprache; diese ist der Landesehre Fuhrwerk. Über sie muß man schärfer halten, über ihre Reinigkeit mehr eifern als über der zartesten Liebsten Ehre.

8. Mit Landsleuten muß man's, als mit Verwandten seines Geschlechts, nicht genau nehmen, gegen Ausländer alles hoch spannen u.f.

Ein Wort noch von der Deutschen grandezza, vor welcher der Gegner unsres Realis seine Landsleute warnen wollte. Realis sagt dagegen:

»Die Deutschen, die gutherzigen Zigeuner, die armen Affen, die ewigen Schüler, von der grandezza wollen abhalten ist ärger, als die Schafe vom Grimm, die Pferde vom Fleischfressen abmahnen. Mahne die Spanier von der grandezza, die Italiener von der Herrschsucht, die Franzosen von der Prahlerei ab; mit den Deutschen darfst du dich nicht bemühen. Der Mangel nötiger grandezza oder Ehrliebe ist eben die vornehmste Ursach des übeln deutschen Namens.«

»In Deutschland wohnt aller Verstand außer Schulen; bei den Ausländern zuweilen in Schulen. Bei diesen sind oft die Gelehrten die Klügsten; in Deutschland ist's umgekehrt. Das Volk ist sinnreich, fast allein, obwohl nicht allezeit; die Vornehmen sind schulfüchsisch, prangen mit statu quo und sind selten klug.«

Ich lege das Buch bei und bitte, daß Sie die Jahrzahl nicht unbemerkt lassen. Es ist 1715 gedruckt, mich wundert, daß, da die Schriften, die es ankündigt, zwanzig Jahre vorher geschrieben waren, Leibniz unsers sonderbaren Autors nirgend erwähnet.


42.

[216] Verzeihen Sie, daß ich Ihren Realis de Vienna nicht auf einen so tragischen Fuß nehme, als er in den Bedrängnissen seines mühseligen Lebens den Ton anstimmte. Sollten wir umsonst ein Jahrhundert später leben, in welchem sich manches entwickelt hat, das er nicht wissen konnte?

Man sagt gewissen Landsleuten nach, daß, ehe sie ihre Landsmannschaft nennen, sie ein Entschuldigungskompliment vorbringen, daß sie die sein, die sie sind. Unser Autor wird das für niederträchtig halten; wenn es indes gegen stolze Nationalverwandte gesagt würde, so möchte hinter dieser Demut ein Spott liegen, dem ich fast beiträte. Unter allen Stolzen halte ich den Nationalstolzen sowie den Geburts- und Adelstolzen für den größesten Narren.

Was ist Nation? Ein großer, ungejäteter Garte voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern sowie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen und, wenn es eine bloße Meinung von Seelenkräften oder Verdiensten gilt, für diese Dulcinea gegen andre Nationen den Speer brechen? Lasset uns, soviel wir können, zur Ehre der Nation beitragen; auch verteidigen sollen wir sie, wo man ihr unrecht tut (in welchem Falle damals unser Verfasser war); sie aber ex professo preisen, das halte ich für einen Selbstruhm ohne Wirkung.

Wir Deutschen wollten uns mit den Griechen vergleichen? Und welches wäre der genau bestimmte, der unverfälschbare Maßstab? Und wer wäre der unparteiische Richter?

So auch mit andern Nationen. Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt; auf unterschiedlichen Stämmen, nach Klima und Pflege, wachsen verschiedne Früchte. Wer vergliche diese untereinander oder erkennete einem Holzapfel vor der Traube den Preis zu?

Vielmehr wollen wir uns wie der Sultan Soliman freuen, daß auf der bunten Wiese des Erdbodens es so mancherlei Blumen und Völker gibt, daß diesseit und jenseit der Alpen[217] so verschiedene Blüten blühn, so mancherlei Früchte reifen! Wir wollen uns freuen, daß die große Mutter der Dinge, die Zeit, jetzt diese, jetzt andre Gaben aus ihrem Füllhorn wirft und allmählich die Menschheit von allen Seiten bearbeitet.

Denn es scheint sowohl geistige als physische Notwendigkeit zu sein, daß aus der Menschennatur mit der immer veränderten Zeitfolge alles hervorgelockt werde, was sich aus ihr hervorlocken läßt. Mithin müssen mit der Zeit Kontrarietäten ans Licht kommen, die sich endlich doch auch in Harmonie auflösen.

Offenbar ist's die Anlage der Natur, daß wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem andern lerne, unaufhörlich lerne, bis alle endlich die schwere Lektion gefaßt haben: »Kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garte des gemeinen Bestens von allen gebannt werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.«

Den Deutschen ist's also keine Schande, daß sie von andern Nationen, alten und neuen, lernen. Das alte Vernunfttestament, wie der Autor die Weisheit der Griechen nennt, ist gewiß nicht verjährt, noch durch die Weisheit der Neuern unkräftig gemacht worden.

So darf sich auch kein Volk Europas vom andern abschließen und töricht sagen: »Bei mir allein, bei mir wohnt alle Weisheit.« Der menschliche Verstand ist wie die große Weltseele, sie erfüllt alle Gefäße, die sie aufzunehmen vermögen; belebend, ja selbst neuorganisierend, dringt sie aus allen in alle Körper.

Hätte Realis nötig gehabt, den Deutschen so oft unzeitige Geduld, ja Niederträchtigkeit schuld zu geben, wenn die Großmut, die er zu ihrem Vorzuge machen will, ihr eigenster Charakter wäre? Kann jahrhundertelang ein Volk seinen Charakter dergestalt verkennen, daß es beinah immer im entgegengesetzten handelt? Lasset uns nicht sagen: »Hindernisse[218] haben ihn unterdrückt.« Im weiten Inbegriff der Zeit kennt ein Volk keine unübersteigliche Hindernisse; es muß zu dem gelangen, was es sein soll.

Käme das Mskr., wovon wir reden, in unsre Hand, so würde es dadurch am meisten belehrend, was wir nach Ablauf eines Jahrhunderts in ihm ausstreichen oder hinzusetzen müßten. Wir würden sehen, wohin sein Verfasser den Kranz für Deutschland gesteckt und wiefern es währenddessen diesen oder einen bessern erreicht habe.

Das gefällt mir an unserm Autor, daß er, wenn auch mit Übertreibung, die Schulwissenschaften von den Lebenswissenschaften, die Naturkünste von Wortkünsten, den tüchtigen Verstand in Wirklichkeiten vom bloßen Fassonieren der Begriffe absondert. Wäre dieser Gesichtspunkt in seinem Werk scharf genommen und festgehalten, so hätten wir in ihm Materialien zu einer Geschichte des praktischen deutschen Verstandes, wie wir sie im ganzen verflossenen Jahrhunderte nur hie und da teilweise erhalten haben.31


43.

Während Sie, m. Fr., um den Ruhm der Nationen wetteiferten, war ich in der Versammlung der blühendsten Völker der Erde. Alle standen friedlich nebeneinander, jedes Geschlecht, jede Art, jede Gattung in ihrem eignen Reiz und Charakter. Keine neidete, verfolgte die andre; unter dem blauen Bogen des weiten Himmels genossen alle das goldene Licht der Sonne, die Balsamkräfte der erquickenden Luft, des Taues und Regens. Als ich mit süßem Staunen sie ansah, sang eine Stimme:


Flora, dich feiert mein Hymnus, du schönste, doch seltner als deine

Schwestern, des hohen Olymps Bewohnerinnen, gesungen![219]

Jauchzend gebar dich die Erde dem alten chaotischen Winter,

Dich, du Erstling und Stolz und Wonne der fühlenden Schöpfung.

Selig priesen sich einst in deiner Götterumarmung

Jupiter Pluvius selbst und Hyperions heilige Stärke.

Ihnen gebarst du Proserpinens Mutter und später Pomona,

Beide schön; doch schöner als beide die blühende Mutter.


Und eine andre Stimme antwortete:


Flora, du kleidest die Erde mit hellem smaragdnem Gewande,

Schön durchwebet und bunt mit Farben des himmlischen Bogens.

Prächtig glänzt in der Nacht der Sterne funkelnder Gurt hin,

Welcher den blauen Talar des alten Cölus umwallet;

Aber noch reizender geht am offenen Tage die Tellus,

Von dir, Flora, geschürzt mit leichtem Blumengehänge.


Und es war, als versammleten sich die Genien der verschiedenen Erdezonen. Eine Stimme sprach:


Zahllos ist die Menge der blumentragenden Pflanzen.

Die am säugenden Busen der allernährenden Mutter

Mit der oberen Fläche der vielgebildeten Blätter

Trinken der Sonne Licht, den nächtlichen Tau mit der untern.

Von den beschneiten Gebürgen der nordischen langen Polarnacht

Bis zur erdumgürtenden Zone des heißen Äquators

Ist kein Raum so gering im weiten Gefilde der Schöpfung,

Keine der Alpen so steil und keine der Steppen so sandig,

Daß sie nicht nähre Geschlechter der Pflanzen, der Lage geeignet.

Pflanzen überweben das Bett der Quellen und Ströme;

Andre nähret der Rhein und andre der Orellana.[220]

Selbst in den finstern Tiefen des erdumgürtenden Weltmeers,

Wo kein Orkan sie empört, wohin kein Blei je hinabsank,

Scherzen in weiten Fluren, umwallt von ragenden Hainen

Seltsam gebildeter Pflanzen, die Herden der Amphitrite.


Eine Schwesterstimme nahm das Wort auf:


Sterbliche haben gewähnt zu zählen die Kinder der Flora,

Ihre Geschlechter zu ordnen und ihre Namen zu nennen;

Zwar, wer hat sie besucht, der Ostwelt grünende Wüsten?

Wer die Quellen des Ganges und siebenarmigen Nilus?

Wer die geheimeren Fluren der Oceaniden des Aufgangs?

Ihre Gestade beschiffeten Wuchrer; der forschende Weise

Seltner. Und wer sah sie, die Kränze der Nereiden,

Wenn sie die grünlichen Locken umwinden im Schoße des Weltmeers.

Wer hat je die Flechten, wer hat die Moose gezählet,

Deren Frühling beginnt, wenn Fröste den Herbst entblättern,

Deren üppiger Wuchs die Scheitel ätherischer Alpen

Da, wo sie Flora verläßt, mit tausend Farben bekleidet?


Hier unterbrach eine sichtbare Szene die Unsichtbaren Ein Jüngling trat aus der Laube hervor und umwand das Haupt seines Lehrers mit einem Kranz von Blumen, die alle ihm geweiht waren und in der Geschichte der Pflanzen seinen unsterblichen Namen tragen. Er begleitete sie mit Worten der innigsten Herzensverehrung in den erlesensten Bildern und zog sich bescheiden zurück.

Und von neuem erwachten Gesänge von der Vermählung und der nach Jahrszeiten geordneten Entwicklung der Blumen. Menschenfreundliche Genien sangen also:


Flora, wo deine Hand mit hymenäischem Bande

Nicht im Lenz vermählte der Tellus zahllose Kinder,

Trauret umher die Natur in nahrungentbehrender Öde.

Wein- und gesanglos schleicht Autumnus; es darbet Pomona;[221]

Nichtiges Stroh entfaltet der Fackel des Sirius Ceres;

Traurig stehet der Hain, der chaonischen Eicheln entbehrend:

Denn es ergrauete schon im April die Hoffnung des Jahres.

Glücklich ist der Hirte, der durch gesicherte Habe,

Der, durch leitende Weisheit und Güte des Staates veredelt,

Lernte der Emsigkeit Wert und zukunftahnende Vorsicht.

Ihn ergreifen mit eisernem Arm des darbenden Jahres

Schrecken nimmer; es spendet ihm nicht, wie dem übrigen Zugvieh,

Schlechte, kärgliche Kost der unfreigebige Fronherr.

Ihn treibt nicht der Hunger aus tränenloser Despoten

Ländchen, aus Deutschland hin zu des fernen Astrakans Öden.

Siehe, der reiche Gewinn von tiefer geackerten eignen

Saaten und üppiger Wiesen sich stets erneuernder Kleewuchs

Blieb ihm von besseren Jahren. Er teilt den Überfluß willig

Mit dem hülflosen Volk angrenzender Sklavenländer;

Aber die Treue des Jahrs und der wiederkehrenden Monden

Milder Geschenk ersetzet ihm bald den vergessenen Mißwachs.


Eben, als ich noch wünschte, daß die Unsichtbaren diese Worte in aller Fronherren Herz singen möchten, weckte mich ein sanfterer Laut. Er sang die allmählich anbrechende Zeit des Blumenfrühlings:


Sieh! im wärmeren Strahle der rückwärtskehrenden Sonne

Freut sich die Blumengöttin bei ihrer Kinder Entwicklung,

Öffnet die Kelche der Blüten und schmückt die bräutliche Tellus.

Zwar es entfalten früher die Schattengewächse der Haine,

Eh sie das Laub bedunkelt mit seiner kühlen Umwölbung,

Ihre zärteren Blumen dem ersten Strahle des Lenzes.

Blaue Hepatika, dich und das herzerfreuende Veilchen,

Euch erziehn die Dryaden zu ihren frühesten Kränzen.[222]

Sie durchweben ihr Blau mit dem Golde des Frühlings-Krokus

Und mit den Silbersternen der Anemone der Haine;

Früher blüht der Helleborus, früh die duftende Daphne,

Und der Aurikeln Geschlecht, verpflanzte Töchter der Alpen.

Aber die späteren Blumen verschließen die duftenden Glocken

Noch dem nächtlichen Froste, dem Störer ihrer Befruchtung.

Wärmere Lüft' umatmen den üppiger schwellenden Frühling;

Wenn, von den Horen umtanzt, der Wagen des Sonnengottes

Steileren Pfades rollt an dem hohen Bogen des Äthers,

Wenn in dem jungen Laube die Vögel sich alle begatten,

Wenn in den lauen Bächen sich paarend verfolgen die Fische,

Öffnen die Blumen sich auch der allbefruchtenden Liebe.

Bräutlich pranget im weiß- und rötlichen Kleide der Obstbaum,

Wärmende Sonnenblicke, sanft wechselnde Regenschauer

Überweben mit tieferem Grün, mit dichteren Blumen

Sonnichte Gipfel und duftende Wiesen, in welchen sich zahllos

Wankende Blumen mit Blumen, mit Gräsern Gräser vermählen.

Hymen herrschet im Hain; es neigen sich liebesehnend

Weibliche Blütenzweige zu männlich befruchtenden Ästen.

Siehe, der Tannenwald raucht! Es öffnet die feuchte Nymphäa

Über den Wellen den Schoß der zeugungfördernden Sonne.

Feuerfarbener Mohn und blütenbestäubter Weizen

Taumeln untereinander, verwebt mit blauen Cyanen;

Honigsuchende Bienen und laue Lüfte befördern

Ihren geheimeren Bund; doch keine der Arten verwirrt sich.
[223]

Liebetrunken schlug die Nachtigall einzelne Töne in diese Beschreibung. Und sie fuhr fort, als eine andre Stimme die Vermählung der Blumen von denen Geschlechtern besang,


– bei denen dieselbe Korolle

In dem ambrosischen Bette voll Honigs und stärkender Düfte

Mit den befruchtenden Männern die weibliche Zeugungskraft einschloß,


bis zu jenen getrennten Geschlechtern, wo oft


Kaum erreichbar ist der Liebesbund der Getrennten.

Also entfaltet umsonst die weibliche, unvermählte

Palme die Blütentrauben in schattenentbehrender Wüste.

Aber der Araber holte, der schmachtenden Braut sich erbarmend,

Oft aus fernen Hainen befruchtende Palmenblumen.

Öfter bringt ein behaartes Insekt und auf goldgefleckten

Federn ein Kolibri, gebadet im Blumenstaube,

Die befruchtende Kraft des meilenentfernten Gatten.


Ernster wurden jetzo die Töne; liebreichwarnend und tröstend sangen die Genien von schädlichen und heilenden Kräutern:


Weise hast du, Natur, der Pflanzen Erzeugung geordnet,

Gütig und weise die Kräfte der erdeverschönernden Pflanzen.

Nicht der Schüler allein der rettenden Göttin Hygea

Kennt sie, die heilenden Kräfte der aromatischen Staude,

Fern am Ganges geholt und vom Haupte der Cordilleras

(Oft verkannt an Ufern der vaterländischen Bäche);

Sichrer weiß der Wilde die schmerzenlindernde Wurzel

Und den geheimeren Stand der fieberheilenden Rinde.

Aber er kennet sie auch, die tötenden Gifte der Pflanzen,

Kennt der Euphorbien Kraft und der giftigen Mancinella,

Die den geflügelten Pfeil mit dem schnellsten Tode bewaffnet.[224]

Friedlicher Hütten Bewohner! Die ländlichen Gärten umblühn auch

Tötende Kräuter zuweilen, vermischt mit nährenden Pflanzen.

Zwar es meidet das Vieh den Schierling, des Equisetum

Und der Cicuta Berührung; es meidet die Wiesenranunkel,

Durch den eignen Instinkt vorm herben Tode gesichert.

Aber zu oft verkannte der harmlos spielende Knabe

Falbes Stramonium, dich, und die Beere der Belladonna,

Der frühblühenden Daphne, der rankenden Dulcamara.

Tötet sorgsam, ihr Hirten, die Pflanzen; des blauen Napellus

Stauden, tötet sie auch und der vielarmigen Wolfsmilch.


Ebenso menschenfreundlich nannte die Stimme die bekanntesten heilenden Kräuter:


Heilend ist der Holunder an Früchten, Blüten und Rinde,

Sanft auflösend der Mohn und die rosenfarbnen Althäen.

Blaue Veronica, dich und die Kerze des hohen Verbaskum,

Des Taraxacon Gold, der wuchernden Graswurzel Aufguß,

Herber Zichorien Saft und des Löffelkrauts bittere Blätter,

Eure lindernden Kräfte verkennt der weisere Arzt nicht,

Sorgsam wählend; es sind des Bescheidneren Heilungsmittel,

Einfach wie die Natur, und Deutschlands Himmel erzeugt sie.


Der Inhalt dieser Gesänge dünkt mir so schön, daß ich Sie nicht zu ermüden fürchte, wenn ich Sie noch einmal davon unterhalte. Auf Wiesen und Auen, in Gärten und Feldern blühet der Menschen Gesundheit, Nahrung und Glück; da erholet, da erquickt sich die Seele. Ihr Realis hat recht: »Lust zu Natursachen ist ein Merkmal der Großmütigkeit. Naturkünste machen aufrichtig, Schulkünste stolz und grausam.«


44.

[225] Von den heilenden Kräutern Deutschlands wandte sich der Genius des Menschengeschlechts zu Pflanzen, die die Natur jeder Zone, ihr angemessen, schenkte. Sie gab


– des Betels Gewächs den Völkern am Indus

Und die Rhabarber dem Tartar der kalten tungusischen Steppe,

Gab die Ginsengwurzel dem feuchten sinesischen Reisland,

Ließ die Dolde der Squilla kanopischen Sümpfen entblühen

Und in Balsamtränen zerfließen die Staude der Myrrha;

Schenkte dem armen Bewohner des reichen Potosi die Coca,

Ihm des Guajaks Gummi, den fieberheilenden Baum ihm

Und den sikulischen Hirten die Perlentropfen der Manna.


Der Genius schien eine Biene zu werden, die um ihre süßesten Blumen umherfliegt:


Aromatischen Balsam entatmen die Pflanzen der Hügel.

Duftende Kalamintha, der blaue Salbei und der Thymus

Und die Melisse sind Bienen auf sonnichten Bergen ein Labsal,

Wo sich der Rosmarin vermählt mit hohem Lavendel;

Jenen Blüten entwenden sie narbonensischen Honig

Und den fernher atmenden Nektar Hymettus' und Hyblas.


Aus der Laube erscholl die Stimme:


Aber wer kennt sie alle, die Kräfte der Heilsamen Pflanzen,

Oft vergessene Kunde der sorgsam forschenden Vorzeit

Oder nach Säklen Erfindung der Dioskoriden der Nachwelt?


Und der Genius antwortete:


Wenn, von alten Systemen entfesselt, bescheidner der Forscher

Einst von Hirten auch lernt und ergrauenden Alpenbewohnern;[226]

Auch den Bergmann verschmähet er nicht und des Gemsenjägers

Nicht stets fabelnde Kunst und angeerbtes Geheimnis;

Siehe! dann werden Contoure der Anmut mit Farbenverschwendung

Blumenfreunde nicht fesseln allein; der Genzianella

Tiefgesättigtes Blau, der Lobelia flammende Röte,

Noch der Purpur und Safran der strahlenden Poinciana,

Nicht der Aurikel Samt und die Strahlen der Ringelblume

(Wenn sie die goldenen Augen dem tauenden Morgenrot aufschleußt)

Fesseln allein nicht mehr der Flora sammlenden Günstling.

Tätige Weisheit umstrahlt des menschenfreundlichen Forschers

Wärmere Seele, zu nützen mit Mut dem Menschengeschlechte.


Jetzt erhob sich Linneus Urberg der Schöpfung vor mir, auf welchem vom Gipfel an bis zur niedrigsten Tiefe alle Gewächse blühen, deren Fruchtstaub seitdem über die ganze Erde verweht ist:


Reich seid ihr an Pflanzen von mannigfaltigen Kräften,

Quellentrunkene Täler und sonnige Hügel der Alpen.

Neben dem Akonit entfalten die Genzianen,

Töchter desselben Hügels, die heilenden Safranglocken

Siehe! den Teneriff und den Flammengipfel des Ätna,

Kaukasus' Felsenhaupt, dich, höheren Chimborasso,

Decket ewiges Eis, seit euch die Fluten umstürmten.

Euer beschneiete Scheitel, dem hundert Quellen entstürzen,

Der das hohe Gewölbe des Himmels zu tragen uns scheinet,

Kleidet sich über den Wolken in reine ätherische Bläue.

Floras Reich beginnet am Rande des ewigen Schneereichs;

Grönlands kurzen Sommern entblühn grönländische Pflanzen.

Malagas Reben umranken den Fuß der Gebirge; die Höhen

Decket der Saxifragen, der Diappensia Mooswuchs.[227]

Kurz ist die Lebensdauer der weißen Pygmäengeschlechter,

Welche das Rentiermoos umkreucht und die Alpenbirke.

Tiefer vermählet der kleine Myrtill und des Rhododendron

Purpurdolde sich mit dem erdwärts kriechenden Krummholz;

Ihre Schatten verbergen die Alpenmaus und das Schneehuhn.

Tiefer erhebet der Taxus sein Haupt und der dunkle Wachholder,

Früher als diese, die Birke, der Laryx, entblättert im Winter.

Ihren Füßen entsteigt, gedeckt von ihrer Umschattung,

Ein unzähliges Heer balsamischer Pflanzen der Alpen.

Herden irren hier in schwelgendem Überflusse

Um die genügsame Sommerhütte der Freigebornen.

Phöbus' Strahl entbindet aus tausend würzigen Pflanzen

Reinere Lebensluft und rosenfarbne Gesundheit.

Kühlende Lüft' umwehn euch, Söhne heiliger Alpen,

Würziger Pflanzen Duft umsäuselt euch in der Kühlung;

Aber betäubender ist der Duft von Auranzienhainen,

Welchen der Wind ins Meer entführt von Portugals Küsten,

Oder von Rosengebüschen des zweimal blühenden Pästum;

Selbst bemoosten Felsen entsteigen dort Veilchengerüche. –

Lieblicher seid ihr noch, ihr Blüten heißerer Zonen,

Tausendfarbige Töchter der senkrecht stehenden Sonne,

Deren Hauch mit Balsam die schwüleren Lüfte beschwängert.

Dichter sangen nur Rosen, nur Gärten der Hesperiden;

Niemand feierte noch die tropischen Blüten des Aufgangs.

Wer sang dich, o Nyktanthes, die Zierde der Ganges Gestade,

Wer, Gardenia, dich, die Königin der Gewächse,

Und, ambrosischer duftend als beide, den Ölbaum aus China?[228]

Wer der Bromelia Gold? und die Früchte der Mangustana?

Staunend verweilt die Muse beim Stamm der keuschen Mimosa,

Reizbar wie die Tiere, des Pflanzenreiches die feinste.

Und wer sang von euch, ihr amboinischen Haine,

Welche der Golddurst mehr als des Weltmeers stürmende Brandung

Ringsumher verschleußt dem harmlosen Freunde der Flora.

Mitten in brennendem Sand erhebt sich euer Gewölbe,

Neben der höchsten Glut der Sonne die nächtlichste Kühlung.

Nicht der Muskatbaum nur und die aromatische Nelke,

Auch des Brotbaums Stamm und die Riesenhöhe des Kokos

Trotzen der Wut der Orkane –

Fei'rliches Dunkel umhüllt die romantischen Zauberhaine;

Keine Blumen entsprossen dem Schoße der nächtlichen Dämmrung;

Aber seidener Mooswuchs und buntgemarmelte Schwämme

Decken den Armadill und die vielgeringelte Schlange.

Statt der Nachtigall Lied erschallet der Papageien

Und der Affen Geschrei aus ferner Gipfel Umwölbung.


Lauter konnte der Gesang nicht werden. Ich befand mich auf Amboina mitten im Paradiese der Flora, im Dufte der Blumen, im Lustgeschrei der Affen und Papageien. Da sang aus der Laube die mildere Stimme:


Laß mich, holde Natur, den Sohn der kälteren Zone,

Deiner Wunder mich immer erfreun im Reiche der Flora,

Zwiefach ihrer mich freun auf schönen pannonischen Fluren.

Denn schön sind sie, die Ufer, an welchen sich Vindobona

Spiegelt in dem Silber des mächtigen Kaiserstromes. –
[229]

und eine andre Stimme:


Aber dann erheben sie sich zum reizenden Urbild,

Wenn, von der feinsten Empfindung und von des reinsten Geschmackes

Sicherer Hand geleitet, ein Lascy oder Cobenzel

Gärten wie Oberon schafft und Paradiese wie Milton –

Gruppen, wie hingezaubert von Grotten und Wasserfällen,

Überwölbende Schatten und duftende Labyrinthe

Seltsam gebildeter Bäum' und Blüten wärmerer Zonen,

Scheinbare Disharmonie, die sich löst in den süßesten Wohllaut,

Wo in ihren höchsten Triumphen unsichtbar die Kunst wird.


Stimmen besangen Kaunitz', Laudons Gärten; und eine holdere Stimme:


Edle Kinsky, du sammelst in Gärten, wie die der Armida,

Jene Blüten umsonst, die der westlichen Atlantide

Milderen Sonnen entblühn und jenen des rosigen Aufgangs.

Siehe, von allen Blumen, die deinen Tritten entsteigen,

Die dein schaffender Wink, genährt von Hyperions Strahlen

Und den Tränen Aurorens, dem Schoß der Tellus entrufet,

Ist doch keine so schön wie du.


Eine andre Stimme nannte Gärten,


Wo in Amerikas Büschen die deutsche Nachtigall flötet.


Unerwartet brachte endlich die Stimme des Dichters mich zu mir selbst wieder:


Aber auch ihr seid schön, ihr, meines nordischen Landes

Quellentrunkene Täler und grünende Blumengestade;

Flora liebet euch mehr als alle der kälteren Zone

Fluren; sie webet in euch sich ihre seltneren Kränze.

Reizend ist die Aussicht, gelagert in dunkler Umschattung

Überwölbender Buchen und Eichen aus Odins Zeiten,

Welche das Meer umstürmt, zu sehen im Wellengetümmel

Hundert züngelnde Flaggen und windgeschwängerte Segel;[230]

Über den Wogen die Heldengestade des felsigen Schwedens,

Rauch von ihren Städten und Gipfel von ihren Gebirgen

In dem rötlichen Schimmer des sinkenden Sonnenwagens.

Sei mir gegrüßt, du mütterlich Land, im Feiergesange,

Wo mich die Blume des Feldes als Knaben mehr schon entzückte

Als Hyazinthenprunk und eitle Tulpenästhetik,

Blüten ohne Frucht, des batavischen Krämers Erfindung.


So lösete sich der Zauber. Ich kenne den Dichter nicht; könnte ich aber eine Gestalt an mich nehmen, so würde ich in Virgils oder Kleists freundlicher Gestalt vor ihn treten und sagen: »Mann oder Jüngling, du bist wert, unser Genosse zu sein, ja eine neue Stufe zu betreten, auf der die Wissenschaft der Natur sich mit der Kunst des Gesanges verbindet. Denn dich umwehet der Geist der Schöpfung; du weißt nicht nur Namen ihrer Kinder, sondern fühlest dich auch in sie und hast ein Herz für die Freuden und Leiden der Menschheit. Die Sprache stehet dir zu Gebot; die Wechselszenen der Natur werden dich immer mehr zu wechselnden Tönen begeistern. Auf! und erweitre das Feld deines Hymnus. Die Kränze, damit du deinen Lehrer schmücktest, erwarten auch dich:


Sieh, es windet dir Flora, die Liebende dem Geliebtern,

Duftende Diademe von Blüten aus jeglichem Weltteil.«


So würde ich zu ihm reden, überzeugt, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur der menschliche Geist erweitert, das menschliche Herz unschuldiger, ruhiger, wohltätiger werde.


45.

Unbezweifelt ist's, daß durch das Studium und durch den Gesang der Natur das menschliche Gemüt milder werde. Wer uns eine botanische Philosophie in einem schönen Lehrgedicht[231] gäbe, welchen Reichtum hätte er vor sich! Ihm stünde die gesamte Mythologie, die äsopische Fabel, die Idyllen der Alten und von den Neuern Reisebeschreibungen, Geschichte, Philosophie, endlich die Naturwissenschaft selbst zur Seite.

Was haben die Alten in ihren Georgicis gesucht, als unter mancherlei Einkleidungen den Menschen menschlich zu machen und ihn allmählich zu Beobachtung der Natur, zur Ordnung, zum Fleiß und Wohlsein zu erheben? Auch dem Virgil in seinen Georgicis können wir diesen wenigstens mittelbaren Zweck nicht absprechen. Er, der außer dem Kriegsglück der Römer gewiß noch ein ander Glück der Landbesitzer und Landbewohner kannte, wollte durch sein schönes, in vielen Stellen so menschliches Gedicht eben auch dies befördern.


Die äsopische Fabel führet uns ganz aufs Land. Hier sprechen Bäume, Tiere, Menschen; Naturwahrheit ist's, was sie sagen. Und wenn Lessing die Tiere wegen ihrer Charakterbestandheit als eigentliche Fabelaktoren gerechtfertigt hat, wem bliebe mehr Bestandheit als dem Baum, der Pflanze, der Blume, der ganzen Naturordnung in ihrem unermeßlich langsamen Fortschritt? Hier also ist, recht gebraucht, Weisheit und Klugheit der Natur zu lernen; hier oder nirgend. Immer werden uns die schönen Pflanzen- und Baumfabeln, insonderheit des Orients, reizen, wo sie in ihrer stummen Sprache uns ewige süße Naturwahrheit sagen.


Die Mythologie ist eine belebte Welt. Nur mit Entzücken kann ich daran denken, wieviel Geist, Sinn und Gemüt man in flüchtige Erscheinungen, in wandelbare Gestalten der Natur gelegt hat, allen Menschen zur Ansicht und dem menschlichern Menschen zur Bildung und Lehre. Wer irgendeine schöne Dichtung der alten Mythologie und Naturlehre uns neu ins Gemüt zu rufen weiß, hat eine Blume vom Kranz der Mutter der Götter gepflückt und in unsre Gärten verpflanzet.


Das Idyll der Alten (ein unbestimmter Name) hat mit dem Verfolg der Zeiten sich gleichsam willkürlich zu Land-,[232] Schäfer-, Hirten-, Fischergedichten, kurz, in Gesellschaften zurückgezogen, in denen ohne politische Kunst die unschuldige Natur regieret. Manche von Bions, Moschus, Theokrits Gesängen gehören dahin, und die neuere Poesie, wenn sie der politischen Welt und der wollüstigen Kreise satt war, hat ihr Dasein dahin verleget. Virgil, dessen meiste Eklogen bloße Nachbildungen sind, entbrach sich nicht, in seinem Tityrus, Pollio, Silen diese reizende Dichtung als eine Einfassung höherer Vorstellungen zu gebrauchen.


Daher, als in den mittleren Zeiten die Poesie wieder auflebte, erinnerte sie sich bald ihres ehemaligen wahren Geburtslandes unter Pflanzen und Blumen. Die provenzal- und romantischen Dichter liebten dergleichen Beschreibungen; bei Spenser z.B. sind es noch immer anmutige Stanzen, die uns schöne Wüsteneien samt ihren Gewächsen und Blumen schildern. Mit außerordentlicher Liebe und einem Überfluß der Phantasie sind Cowleys sechs Bücher von Pflanzen, Kräutern und Bäumen geschrieben; ein neuerer Brite, der den Botanischen Garten.32 nach Linneus' Geschlechtersystem, in ihm also vorzüglich die Liebe der Pflanzen besang, scheint, nach Proben zu urteilen, auch viel Artiges gereimt zu haben. Unter deutschen Dichtern hat von unserm alten Brockes Geßner mit Recht gesagt: »Er hat die Natur in ihren mannigfaltigen Schönheiten bis auf das kleinste Detail genau beobachtet; sein zartes Gefühl wurde durch die kleinsten Umstände gerührt; ein Gräschen mit Tautropfen an der Sonne hat ihn begeistert; seine Gemälde sind oft zu weitschweifig, oft zu erkünstelt; aber seine Gedichte sind doch ein Magazin von Gemälden und Bildern, die gerade aus der Natur genommen sind. Sie erinnern uns an Schönheiten, an Umstände, die wir oft selbst bemerkt haben und jetzt wieder ganz lebhaft denken.« Hallers »Alpen,« Kleists, Geßners Gedichte, Thomsons »Jahrszeiten« sprechen für sich selbst.
[233]

Einer der Genannten hatte, als er sein Gedicht über Pflanzen und Bäume schrieb, sich aufs Land zurückgezogen und setzte sich daselbst als einem Lebenden folgende Grabschrift:


Grabschrift eines Lebenden


Hier ruht, o Wandrer, unter niedern Dach

Der Dichter Cowley, selig entronnen schon

Der, ach, wie leeren und wie eitlen

Und so entbehrlichen Menschenmühe!


In Armut glänzt er; aber unrühmlich nicht:

An träger Muße will er kein Edler sein.

Reichtümer, die der Pöbel liebet,

Haßte er stets mit der kühnsten Feindschaft.


Gib ihm, o Wandrer, gib dem Geschiedenen,

Den hier ein kleiner Winkel der Erde birgt,

Und ihm genüget, deinen Segen:

»Leicht sei die Erde dir! Sorgentladner!«


Und streu ihm Blumen, Rosen, die bald verblühn!

(Ein Abgeschiedner freuet der Blumen sich!)

Und mit dem duftendsten der Kränze

Kröne die Asche des glühnden Dichters.


Ein sanfterer Naturdichter würde lebend und sterbend sagen: »Et ego in Arcadia!«




46.

In einer freundschaftlichen Versammlung hörte ich neulich eine Vorlesung über Wahn und Wahnsinn der Menschen, deren Abschrift ich mir erbat und Ihnen jetzt statt meines Briefes mitteile.


Über Wahn und Wahnsinn der Menschen

[234] Eine Vorlesung


Ohne Zweifel haben Sie, m. H., bei der Zergliederung menschlicher Körper die vielen, unendlich feinen Striche bemerkt, die im Gehirn dergestalt durcheinanderlaufen, daß sie das Messer des Zergliederers nicht mehr verfolgen kann. Ebenso fein und vielleicht noch feiner laufen in der menschlichen Seele die Linien des Wahnes und der Wahrheit durcheinander, daß man nach der sorgfältigsten Prüfung kaum an sich selbst weiß, wo eins sich vom andern scheide.

Wenn alles das Wahn ist, was wir ohne deutliche Gründe auf guten Glauben annehmen, so ist der größeste Teil unsrer Erfahrungen, unsre frühgelernte Kenntnisse, unsre früherworbne Gewohnheiten und Neigungen auf Wahn gegründet. Sie beruhen entweder auf dem Zeugnis unsrer Sinne oder anderer Men schen, denen wir glauben, die wir unvermerkt, uns selbst unbewußt nachahmen, endlich am meisten auf unsrer eignen Bequemlichkeit und Disposition, lieber so als anders zu handeln. So befestigt sich in uns allmählich eine Gedenk-, eine Handlungsweise, deren Ursprung in einzelnen Fällen wir selten erforschen mögen. Nur wenigen sehr hellen und reinen Seelen ist's gegeben, über die wichtigsten Striche ihrer Denkart sich unparteiisch zu prüfen, Wahrheit und Irrtum, Vorurteil und Gewißheit in ihnen strenge zu unterscheiden und sodann dem unschuldigen oder gar notwendigen Wahn zwar sein Gebiet zu lassen, mitnichten ihn aber zum Gesetzgeber jeder menschlichen Wahrheit, mitnichten ihn zum Richter jeder fremden Denk- und Sinnesart zu erheben.

Diese seltnen, vom Himmel privilegierten Seelen sind diejenigen, die man allein tolerant nennen kann; sie schonen den Wahn des andern auch in Fällen, in denen er ihrem eignen liebsten Wahn entgegenstehet. Sie sind die duldsamsten Freunde, die lehrreichsten Gesellschafter; denn auch über die verwickeltsten Aufgaben der Menschengeschichte läßt sich[235] mit ihnen ohne Haß und Zorn disputieren. Der gemeine Haufe der Menschen ist nur so lange Freund gegeneinander, als sein Lieblingswahn gefördert oder wenigstens nicht beleidigt wird.

Und wie sonderbar, wie abenteuerlich dieser Lieblingswahn sein könne, lernt man zuweilen mit der größesten Verwunderung eben da einsehen, wo man dergleichen bei sonst so richtigen Begriffen und Grundsätzen je kaum vermutet hätte. Der Glaube an Gespenster und an andre Dinge dieser Art ist wohl der verzeihlichste in solchem geheimen Wahnregister, da sich in ihm oft wunderlichere Artikel finden. Gemeiniglich hält ihr Besitzer diese als sein eigenstes Eigentum teuer und wert; unvermerkt entwischen sie ihm nur, wenn nicht etwa gewaltige Leidenschaften, außerordentliche Zeitumstände und Situationen sie mit Gewalt erpressen und herausfodern. Dann streitet er aber auch für sie, eben weil sie Schwächen seiner Natur, Gebilde seiner Phantasie sind, als für seine liebsten Kinder. Wer um die wichtigste Wahrheit mit ihm ficht, wird nie so sehr sein Gegner sein, als wer gegen eine Lieblingsmeinung, die wie ein Polypus in sein Herz gewachsen ist, einige Befremdung äußert. Gehen Sie, m. H., in Ihren Gedanken die Zahl derer durch, die Sie in Ansehung ihres Innern am nächsten gekannt haben; Sie werden sich sonderbarer Wahngestalten erinnern.

Das Gebiet des Wahnes erstreckt sich insonderheit auf Dinge, die den Menschen zunächst angehen, auf seine Person und Gestalt, auf seinen Stand, seine Nation, seinen Zweck und Charakter. Wie es z.B. Personen gibt, die im Innern ein ganz anderes Bild von sich umhertragen, als die sie sind – sie erschrecken vor ihrer äußern Gestalt im Spiegel als vor der Gestalt eines fremden Wesens –, so gibt es deren noch weit mehrere, die in Ansehung ihres Innern ein fremdes Bild mit sich tragen. Ein berühmter König unsres Jahrhunderts war in seiner Phantasie immer nur Oberster eines Regiments, und war's mit Lust; alle königliche Pflichten erfüllte er als eine fremde Person, als ein strenger Amtmann. Unzählige[236] Wunderlichkeiten flossen daher, die ohne dies Bild einer fremden, ihm einwohnenden Wahngestalt unerklärlich blieben, durch sie aber sich alle erklären. Was uns die Berichte der Ärzte von Krankheiten der Einbildungskraft erzählen, da jener sich seine Füße als Strohhalme, dieser sein Gesäß gläsern dachte, ein dritter die Welt zu überschwemmen fürchtete, sobald er sein Wasser ließe, alle diese Geschichten oder Märchen sagen im Grunde weniger als die Erfahrungen manches Wahns, den man bei den vernünftigsten Menschen zuweilen wahrnimmt. Einige Gattungen desselben pflanzen sich in Familien fort und mischen sich als ein Erbteil von Vater und Mutter auf die sonderbarste Weise. Andre haften an Ständen, Ämtern, Lebensarten, Zünften und bekommen den Ehrennamen esprit de Corps, Gefühl seines Standes, Familienehre. Die feinsten aber hangen von individuellen Umständen und Erfahrungen ab; sie sind Abdrücke von der eigensten Beschaffenheit des Körpers und der Seele des Wähnenden samt den Situationen, die vorzüglich auf ihn wirkten, kurz, befestigte Luftgebilde seiner frühen Jugend. Daher sind sie theoretisch oder praktisch, selten aber eins ohne das andre. Denn der Mensch ist nie so vergnügt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm selbst geformten Lieblingswahne. Da lebt er recht in seinem Element und ist seiner Kunst Meister.

Sie merken leicht, m. H., in welchen Ständen diese Wahnbilder am sichtbarsten sein müssen, in solchen nämlich, die sich am freiesten äußern dürfen. Wer vor andern Scheu haben, wer aus Beruf und Not auf dem gebahnten Wege angenommener Meinungen oder richtiger Begriffe bleiben muß, der gibt sich Mühe, sonderbare Eigenheiten seines Kopfs und Herzens zu unterdrücken, wenigstens verschließt er sie in der innersten Kammer und reitet auf seinem Steckenpferde nicht eben an hellem lichten Tage, nicht auf dem Markte. Wer sich dagegen alles erlaubt und dabei sein Personale äußerst hoch hält, der kann mit diesen Originalpoesien seines Wesens oft[237] nicht laut genug hervortreten; er erfindet deren eine Reihe, mit der Zeit aus bloßer Willkür, und glaubt sich gar dazu in die Welt gepflanzt, andere damit zu vergnügen. Die sogenannten starken Charaktere, große Geister, ex professo vornehme Leute u.f. liefern in ihrer Geschichte davon wunderbare Beispiele. Die alten römischen Cäsars, eine Reihe Regenten, Helden, Religionsstifter, Schwärmer, Dichter, Philosophen hatten sonderbare Wahngestalten im Kopf, die sie gewöhnlich andern aufzwingen wollten und damit oft zum Ziele kamen.

Denn leider ist bekannt, daß es fast nichts Ansteckenderes in der Welt als Wahn und Wahnsinn gebe. Die Wahrheit muß man durch Gründe mühsam erforschen; den Wahn nimmt man durch Nachahmung, oft unvermerkt, aus Gefälligkeit, durch das bloße Zusammensein mit dem Wähnenden, durch Teilnehmung an seinen übrigen guten Gesinnungen, auf guten Glauben an. Wahn teilt sich mit, wie sich das Gähnen mitteilt, wie Gesichtszüge und Stimmungen in uns übergehen, wie eine Saite der andern harmonisch antwortet. Kommt nun noch die Bestrebsamkeit des Wähnenden dazu, uns die Lieblingsmeinungen seiner Ichheit als Kleinode anzuvertrauen, und er weiß sich dabei recht zu nehmen: wer wird einem Freunde zu Gefallen nicht gern zuerst unschuldig mitwähnen, bald mächtig glauben und auf andre mit eben der Bestrebsamkeit seinen Glauben fortpflanzen? Durch guten Glauben hängt das Menschengeschlecht aneinander; durch ihn haben wir, wo nicht alles, so doch das Nützlichste und Meiste gelernt; und ein Wähnender, sagt man, ist deshalb ja noch kein Betrüger. Der Wahn, eben weil er Wahn ist, gefällt sich so gern in Gesellschaft; in ihr erquicket er sich, da er für sich selbst ohne Grund und Gewißheit wäre; zu diesem Zweck ist ihm auch die schlechteste Gesellschaft die beste.

Nationalwahn ist ein furchtbarer Name. Was in einer Nation einmal Wurzel gefaßt hat, was ein Volk anerkennet und hochhält, wie sollte das nicht Wahrheit sein? wer würde daran[238] nur zweifeln? Sprache, Gesetze, Erziehung, tägliche Lebensweise – alle befestigen es, alle weisen darauf hin; wer nicht mitwähnet, ist ein Idiot, ein Feind, ein Ketzer, ein Fremdling. Gereicht überdem, wie es gewöhnlich ist, der Wahn zur Bequemlichkeit einiger, der geehrtesten, oder wohl gar, dem Wahn nach, zum Nutzen aller Stände, haben ihn die Dichter besungen, die Philosophen demonstriert, ist er vom Munde des Gerüchts als Ruhm der Nation ausposaunt worden: wer wird ihm widersprechen wollen? wer nicht lieber aus Höflichkeit mitwähnen? Selbst durch lose Zweifel des Gegenwahnes wird ein angenommener Wahn nur befestigt. Die Charaktere verschiedener Völker, Sekten, Stände und Menschen stoßen gegeneinander; eben desto mehr setzt jeder sich auf seinem Mittelpunkt fest. Der Wahn wird ein Nationalschild, ein Standeswappen, eine Gewerksfahne.

Schrecklich ist's, wie fest der Wahn an Worten haftet, so bald er ihnen einmal mit Macht eingeprägt wird. Ein gelehrter Jurist hat bemerkt, was an dem Wort Blut, Blutschande, Blutsfreunde, Blutgericht für eine Reihe schädlicher Wahnbilder hange; mit dem Wort Erb, Eigentum, Besitztum u.f. ist's oft nicht anders. Zu unsern Zeiten haben wir's erlebt, was die Wortschälle Rechte, Menschheit, Freiheit, Gleichheit bei einem lebhaften Volk für einen Taumel erregt, was in und außer seinen Grenzen die Silben Aristokrat, Demokrat für Zank und Verdacht, für Haß und Zwietracht angerichtet haben. Zu andern Zeiten war es das Wort Religion, Vernunft, Offenbarung, seligmachender Glaube, Gewissen, Covenant, the causes sake u.f. Unschuldige Farben, die Grünen und Blauen, die Schwarzen und Weißen, Losungsworte, mit denen[239] man keinen Begriff verband, Zeichen, die gar nichts sagten, haben, sobald es Parteien galt, im Wahnsinn Gemüter verwirrt, Freundschaften und Familien zerrissen, Menschen gemordet, Länder verheeret. Die Geschichte ist voll solcher abbadonischer Namen, so daß man ein Wörterbuch des Wahnes und Wahnsinnes der Menschen aus ihr ziehen und dabei oft die schnellsten Abwechselungen, die gröbsten Gegensätze bemerken würde.

Wahn und Wahnsinn sind überhaupt nicht so weit voneinander, als man glaubt. Solange der Wahn sich in einem Winkel der Seele aufhält und nur wenige Ideen angreift, behält er diesen Namen; verbreitet er seine Herrschaft weiter und macht sich durch lebhaftere Handlungen sichtbar, so nennt man ihn Wahnsinn. Wer kann nun jederzeit das Mehr und Weniger bestimmen? zumal sowohl bei einzelnen Menschen als bei ganzen Völkern nach Umständen und Perioden nichts als Konvention die Waage in der Hand hat und Namen verteilet. Die größesten Veränderungen der Welt sind von Halbwahnsinnigen bewirkt worden, und zu mancher rühmlichen Handlung, zu manchem scharf verfolgten Geschäfte des Lebens gehörte wirklich eine Art bleibenden Wahnsinns.

»Bewahre uns Gott,« werden Sie sagen, m. H., »vor solcher Ansicht der menschlichen Dinge! Unsre Erde würde ja damit ein Irrenhaus und unsre Geschichte ein Krankenregister.« Sollte sie in ganzen Perioden anders zu betrachten sein? und ist es nicht nützlich, daß man sie also betrachtet?

Denn nun wird man zuerst, wenn auch in dem Zeitraum, in dem wir leben, Namen aufkommen, über welche Menschen einander hassen und morden, eben durch die Geschichte voriger Zeiten aufmerksam gemacht, zu prüfen, was hinter den Namen sei. Man wird sie weder gedankenlos nachbeten noch fürchtend so anstaunen, als ob mit ihnen das Ende der Welt gekommen sei; am wenigsten wird man im blinden Taumel mit einer der streitenden Parteien hassen, zürnen, verleumden, verfolgen. Die Geschichte belehrt uns, daß dergleichen Zufälle des menschlichen Geistes tausend- und[240] tausendmale bereits, nur unter andern Namen und Zeitumständen, ihr Spiel und Ende gehabt haben; man wird also auf seiner Hut sein, unschädlichen Wahn dulden, schädlichem Wahn ausweichen, mitnichten aber weder diesen noch jenen erbittern und reizen. Denn eben durch dies Erbittern und Reizen (dies zeigt die Geschichte) wird der Wahn Wahnsinn. Dadurch aber habe ich weder dem Kranken noch mir geholfen, es sei denn, daß ich ihn wirklich toll machen wollte.

Eben auch die Geschichte lehrt zweitens, daß weder Gewalt noch Überredung, am wenigsten mit Überredung verschleierte Gewalt und mit Gewalt unterstützte Überredung den Wahn der Menschen auszutilgen oder zurechtzubringen vermöge Durch Waffen werden Irrtümer weder bestritten noch ausgerottet; der schlechteste Wahn hingegen dünkt sich eine Märtyrerwahrheit, sobald er mit Blut gefärbt dastehet. Eben durch dergleichen gewaltsame Schleichmittel sind Irrtümer, die sich selbst bald überlebt hätten, Meinungen, von denen die Betrogenen in kurzem zurückgekommen wären, schädlich verewiget worden Nie hat die reine Wahrheit mit schlauer Politik etwas zu schaffen gehabt, sowenig die Politik es je zum Zweck gehabt hat, reine Wahrheit zu befördern. Jede geht ihren Gang, und nur Kinder lassen sich von politischen Wahrheitsphrasen dieser oder jener Partei oder, wie die Griechen sagen, von der Suada mit der Geißel in der Hand täuschen.

Drittens. Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, ist, daß man ihm nicht beizukommen scheine Man schütze sich vor ihm und lasse ihn seines Weges wandern, oder man zerstreue ihn und bringe ihn ohne gewaltsame Überredung unvermerkt auf andre Gedanken. Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehrere Beispiele, daß mitleidige Krankenwärter von der Krankheit selbst angesteckt wurden; nichts aber teilet sich leichter mit als Krankheiten der Seele. Wer gesund ist, suche gesund zu bleiben; alle Ansteckungen werden nur dadurch eingeschränkt, daß man sie isolieret.

Viertens. Freie Untersuchung der Wahrheit von allen[241] Seiten ist das einzige Gegenmittel gegen Wahn und Irrtum, von welcher Art sie sein mögen. Lasset den Wähnenden seinen Wahn, den anders Meinenden seine Meinung verteidigen, das ist ihre Sache. Würden beide auch nicht gebessert, so entspringt für den Unbefangenen aus jedem bestrittenem Irrtum gewiß ein neuer Grund, eine neue Ansicht der Wahrheit. Daß man doch ja nicht glaube, Wahrheit könne je durch bewaffneten Wahn gefangen oder gar ewig im Gefängnis festgehalten werden! Sie ist ein Geist und teilt sich Geistern mit, fast ohne Körper. Oft darf ihr Ton an einem Weltende geregt werden, und er er klingt in entlegenen Ländern; immer aber läutert sich der Strom des menschlichen Erkenntnisses durch Gegensätze, durch starke Kontraste. Hier reißt er ab, dort setzt er an, und zuletzt gilt ein lange und viel geläuterter Wahn den Menschen für Wahrheit.


47.

Seneca sandte seinem Freunde Lucil fast in jedem seiner Briefe einen Denkspruch zum Geschenk; was soll ich Ihnen für die mitgeteilte Vorlesung senden? Soll ich Sie nach Ariost33 in jenes Mondtal führen, wo Astolf so viele Resultate des menschlichen Wahnes und Wahnsinnes erblickte?


Le lacrime e i sospiri degli amanti,

L'inutil tempo, che si perde a gioco,

E l'ozio lungo d'uomini ignoranti,

Vani disegni, che non han mai loco;

J vani desideri sono tanti

Che la più parte ingombran di quel loco;

Ciò che in somma quaggiù perdesti mai,

Lassù salendo ritrovar potrai.
[242]

Lieber bleiben wir auf der Erde und wollen, auch mitten unter gefärbten Nebeln des Wahnes und Wahnsinns, die Burg der Wahrheit suchen.

Nicht alles ist Wahn und Traum im Gebiet der Menschheit; es gibt für uns insonderheit im Praktischen, im Moralischen eine gewisse, sichere Wahrheit. Ihre Stimme spricht auch mitten im politischen Geräusch; sie spricht für jeden, der sie hören will, in seinem innersten Herzen und straft jede Sirenenstimme gefälliger Meinungen Lüge. Auch in den dunkelsten Zeiten schien ihr Licht in reinere Seelen, auch in der größesten Verwirrung der Welthändel war sie dem Unbefangenen ein sicheres Richtmaß.

Können Sie sich z.B. verworrenere Zeiten als die Zeiten der Ligue und der Religionsgärungen in Frankreich denken? Und siehe, nebst vielen andern hellen und aufrichtigen Geistern erschien und schrieb in ihnen der Präsident de Thou seine Geschichte. Wollen Sie bei dem langen Werk in einem kürzern Inbegriff bemerken, wie hoch er sich über Wahn und Vorurteile seines Standes, seiner Geburt, seines Landes, seiner Sekte, seiner Zeit hinwegschwang, so lesen Sie nur die Stellen, die von der spanischen Inquisition weggestrichen wurden, die Lästerschriften, die Scioppius und Machault gegen ihn schrieben, und seine linde Antwort dagegen im Gedicht an die Nachwelt »Posteritati«.34 Er, der den größeren[243] Sieg erkämpft hatte, vom Wahne frei zu sein, erhielt auch den viel leichteren, den Verleumdungen, den Verfolgungen des Wahns sich klug zu entziehen oder beherzt entgegenzutreten. Davon sind seine Briefe, davon die von ihm selbst über sein Leben gegebene Rechenschaft Zeuge. Hören Sie die wahre Dedikation seiner Geschichte, sein Gebet an die Wahrheit.


Der Wahrheit


Des Himmels Tochter, freundliche Wahrheit, du,

Der Erde Schreckbild, strafende Wahrheit, du,

Wo bist du hingeflohn, o Göttin?

Du der Unschuldigen letzte Zuflucht!


Wohin ich wende meinen erspähnden Blick,

Wohin ich richte meinen verirrten Tritt,

Dich find ich nirgend. Blindes Dunkel,

Trügender Wahn hat die Welt umfangen.


Doch wenn du von uns, von dem unseligen

Verfolgerlande zürnend die Flügel schwangst

Und dich mein Zutritt nicht erreichet,

Hörest du mich in der Fern auch gütig.


Du, der Gemüter leuchtende Führerin,

O du, der Nebel holde Zerstreuerin,

Die, wann der Tritt uns fast ersinket,

Mächtigen, hebenden Arm uns reichet.


Daß nie, von banger, nichtiger Furcht betäubt,

Daß nie, von leerem blendenden Glanz verlockt,

Die Seele sich und den verliere,

Der auch in Irre der Menschen Weg lenkt.
[244]

Du, die nicht Scheu, nicht trügliche Hoffnung kennt,

Du, die nicht Haß erschüttert, noch eitle Gunst,

Die der Verleumdung Bubenpfeile

Frei von des Redlichen Brust zurückwirft;


Den Ruhmeswerten gibst du Unsterblichkeit,

Begrabnen Frevel ziehst du ans Licht hervor,

Und Recht und Unrecht bringet deine

Mächtige Stimm in das Ohr der Nachwelt,


Unwiderrufbar! Keine der webenden

Drei Schicksalsschwestern löst, was die andre spann;

Und was der Wahrheit heiliger Rechtspruch

Göttlich entschieden, das bleibt gerichtet.


Wer dich, o hohe Göttin, wer dich verehrt,

Der betet Gott an! Immer ein Herr sein selbst

Spricht er der Wahrheit Recht und übet

Jede der Pflichten für Menschen menschlich.


Nicht nach der Willkür stolzer Trimalcions

Wird er entscheiden, lüstend nach ihrem Mahl;

Wird nie ihr juckend Ohr mit süßem,

Menschenverderblichem Murmeln kitzeln.


Für Freunde leben, leben fürs Vaterland,

Den Frevel scheuen mehr als den bittern Tod,

O Wahrheit, dies ist seine Ehre,

Dies sein Beruf und sein innrer Lohn dies.


Herab vom Himmel senke dich, Königin,

Und mit dir komme strenge Gerechtigkeit

Und Scham und Treu der Erde wieder

Und die so lang uns entflohne Einfalt.
[245]

Wir warten deiner. Waffen und Nerv und Arm

Erwarten alle, Göttin, von dir allein! –

Der Zeiten letzte nahn; es altert

Blöde die Welt und erträumet Wahnsinn.


Schau her, wie hebt dort, Flammen und Schwertern selbst

Unüberwindbar, trotzend die Hyder sich;

Zehn Häupter fallen, und aus jedem

Blutenden steigen der Häupter tausend.


Des Wahnes Weltmeer wälzet der Meinungen

Auf Wellen Wellen; Religion erseufzt

Im Schiffbruch, und der Liebe Bande

Lösen sich auf, und der Boden sinket.


Herab vom Himmel senke dich, Königin,

Mit deiner Rechte stürzend des Untiers Brut,

Die süßes Gift den trägen Fürsten

Täuschend in goldener Schale reichet.


O du, im Schiffbruch helfende Retterin,

Dem tollen Aufruhr frevelnder Meinungen,

Der Lüsternheit und Frechheit steure,

Steure der heuchelnden Lüg, o Wahrheit.


48.

Gewiß, eine Fabel muß im Kreise der Gesellschaft erfunden werden. So erfand Äsop die seinen; sie flogen ihm gleichsam, wie der Hauch lebendiger Gegenstände, aus Veranlassungen zu; darum ist der Geist in ihnen auch jetzo noch lebendig. So sind des La Fontaine, Gleims und aller guten Fabeldichter Erzählungen entstanden; selbst wenn sie alte Erfindungen aufnahmen, verjüngten sie diese und erzählten sie jetzt für ihre Gesellschaft. Wer sich hinsetzt und eine[246] trockene Lehre, einen dürren Sittenspruch in eine Schale nähet, dem ist die wahre Fabelmuse nie erschienen.

Als neulich in einer Gesellschaft von den unverstandenen Namen Aristokrat, Demokrat u.f. gesprochen und disputiert war, trat wie ein freundlicher Genius einer aus der Gesellschaft zur Königin des Festes, rührte ihre Schärpe an und sagte diese


Fabel


Laß dir ein Märchen erzählen an deinem heutigen Tage,

Das vielleicht, wenn der Sinn dir beliebt, Vergnügen dir bringet.

Seh ich nicht hier ein Band, von Gold und Seide gewirket,

Von der weicheren Hüfte herab zur Ferse dir fließen?

Davon nahmen die Fäden das Wort und redeten also:


Der Goldfaden


»Nein! ich kann es nicht dulden, mit diesen seidenen Fäden

Länger hier in Gemeinschaft zu leben. Sie sind so geringrer

Herkunft als ich. Ich stamme vom Zepter Jupiters selber.

Gold ist der Dreizack Neptuns, und golden die Krone des Pluto.«


Der Seidenfaden


»Mir gebühret die Ehre! Ich bin nicht gegrabenes Gold nur,

Aus der Fäule der Erd und rohen Felsen gescharret;

Ein lebendig Geschöpf ernährte zu feinerem Saft mich,

Zog mich aus seinem Busen und spann mit Kunst und Geschick mich.

Jetzo tragen die Könige mich und die Herren an Festen;

Weit gefälliger bin ich als dein beschwerlicher Reichtum.«


Der Leinfaden


»Was erzählt ihr euch hier und sprecht von euren Verdiensten?

Bin nicht ich der Erde, des Wassers holdester Zögling?[247]

Mich erzeugte die tauende Nacht; der strahlende Himmel

Siehet mit Wohlgefallen auf mich. Die goldenen Fäden

Unterstütz ich allein, sonst würd ihr nichtiger Schimmer

Bald verschwinden. Ich halt und trag empor sie zum Glanze

Und verbarg mich bescheiden, verlange nicht selber zu schimmern.«

Also sprachen die drei. Und was geschahe? Sie trennten

Zürnend sich voneinander und rissen und wollten nicht weiter. –

Nun lag ohne Zierde das Band und ohne Gestalt da;

Das in stolzer Schöne vorhin die Hüfte gegürtet,

Hatte nicht Form noch Wert; verachtet fiel es zur Erde.


Kaum war das Märchen geendigt, als die, an welche es gerichtet war, aufstand und mit Genehmigung aller die weiße Schärpe als ein Zeichen des Friedens im Saale der Gesellschaft aufhing. Mit guter Wirkung: denn wenn im Taumel der Worte nachher die genannten Friedensstörer jemanden nur auf die Lippe traten, sogleich ward auf die Schärpe gewiesen. Die drei Fäden sprachen ihre stumme Lehre, und der Ton der guten Gesellschaft stellte sich wieder her.


49.

Der die Schickungen lenkt, läßt oft den frömmsten Wunsch,

Mancher Seligkeit goldnes Bild

Unvollendet und webt da Labyrinthe hin,

Wo ein Sterblicher gehen will –


Gilt dies vom Schicksal einzelner Menschen, wieviel mehr vom Schicksal der Völker und Reiche!
[248]

Eben habe ich die Geschichte des Herzogs von Bourgogne, Enkels Ludwigs XIV., Vaters Ludwigs XV., mit sonderbaren Empfindungen gelesen.35

Sie wissen, daß dieser Prinz ein Zögling Fénelons war; die Unarten, die das königliche Kind an sich hatte, als Fénelon zu ihm kam, werden auch in dieser Geschichte nicht verschwiegen Lesen Sie nun, wie Fénelon sich dabei benahm und was für einen vortrefflichen, nicht nur hoffnungs-, sondern wirklich fruchtreichen Charakter er aus dem Prinzen gebildet, und ein süßes Erstaunen wird Sie ergreifen Sie sehen hier den Prinzen ungeschmeichelt in seinem ganzen Leben und Wesen, bei Hofe, im Felde, im Kabinett, zu Hause, gegen den König, gegen seine Gemahlin, gegen Hofleute, Erzieher, Lehrer, Hausgenossen handeln. Handeln, nicht nur sprechen oder denken. Und allenthalben ist er sich gleich; allenthalben bleibt er die edle, standhafte, in größester Stille wirkende Seele. Es ist, als ob Fénelons Geist ihn nicht umschwebe, sondern erfüllt habe; Fénelons Denkart ist in die seinige verwebet.

Sage nun jemand, daß Erziehung, wenn sie rechter Art ist, nichts fruchte! Der Mensch ist ja alles durch Erziehung, oder vielmehr er wird's, bis ans Ende seines Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde. Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre. Und wohl dem Prinzen, dem ein Fénelon zum Erzieher ward! Wohl jedem Erzieher, dem Fénelon zum Muster dienet!

Sage jemand, daß bei Prinzen keine Erziehung möglich sei. Am Hofe Ludwigs XIV., des eigensinnigsten Königs, mitten unter Schmeicheleien, Verderbnissen und Verführungen der Zeit, an einem Kinde von auffahrendem, gebieterischen, geburtsstolzen, launischen Charakter war sie möglich und erprobte[249] sich in den verworrensten Verhältnissen, in den schwersten Szenen.

Sage jemand endlich, daß Prinzen keiner Dankbarkeit, keiner Freundschaft fähig sind. Auch unter dem äußersten Haß Ludwigs XIV. gegen Fénelon blieb der Herzog und Dauphin seinem Freunde treu bis ans Ende seines Lebens.

Und dieser schonte ihn auf keine Weise. Sie finden einige Briefe Fénelons in dieser Sammlung; die übrigen (unersetzlicher Verlust!) verbrannte Ludwig mit eigner Hand nach seines Enkels Tode, vermutlich, weil er sich selbst bei seinem Haß gegen diesen würdigen Mann so sehr im Unrecht fand und mit den Briefen sein eignes Unrecht zu vertilgen glaubte. Denn nie versöhnte sich Ludwig mit Fénelon, auch nicht auf den Brief, den dieser ihm sterbend schrieb. Der Monarch wollte den Erzbischof nicht unrechtmäßigerweise gehaßt haben.

Gut, daß der Monarch die Papiere des Prinzen mit jenen Briefen (deren keine Zeile er schreiben konnte) nicht auch verbrannte. Sie sind in langen Stellen hier gedruckt; Fénelons Geist atmet in jedem Grundsatz sowie in der ganzen, sehr reinen und edeln Schreibart. Nur siehet man auch, daß ein Prinz diese Grundsätze gedacht habe; sie sind, wenn ich so sagen darf, gedrückter, beschränkter, als sie in Fénelons Seele blühten, aber ehrenvoll, schön, königlich, fürstlich.

Ausziehen will ich nichts aus diesen Maximen. Dem Geist des Zeitalters und der Denkart Fénelons gemäß ehren sie die Stände ungemein, machen die Religion zur Basis der Reichsverfassung und sind dem Protestantismus nicht günstig. Dagegen enthalten sie von den unerlaßbaren Pflichten aller Stände und des Regenten selbst alle die Grundsätze, die wir in Fénelons vortrefflichen. »Ratschlägen an einen König« finden. Wenn diese viel eigentlicher das livre d'or sind, als was gewöhnlich den Namen führet, so kann man die Aufsätze des Dauphins ohne Schmeichelei dem Buch des Mark Aurels an die Seite setzen, nicht als das Werk eines Mannes, sondern[250] als die Vorübung eines Jünglings, nicht als System, sondern nach Zweck und Absicht.

Und wie er schrieb, so handelte der königliche Jüngling. Sobald er, welches ihm sehr schwer ward, das Zutrauen Ludwigs gewann, veranlassete er Berichte aus allen Provinzen des Landes nach Punkten, die er selbst aufgesetzt hatte, die allenthalben ins einzelne gingen und zeigten, daß der Kronerbe alle Bedrücknisse des Reichs in allen Ständen klassenweise kannte. Als Feldherr hatte er im Kriege sie kennengelernt, und er besaß gerade den eisernen Fleiß, die unerschütterliche Stetigkeit des Willens, diesen Übeln auf den Grund zu kommen und ihnen einmal, wenigstens teilweise, abzuhelfen.

Die Berichte liefen ein, zweiundvierzig Bände in Folio, und die Beschwerden, die Mängel und Mißbräuche überstiegen den Begriff des Redakteurs, des bekannten Grafen Boulainvilliers, so weit, daß er sie sich dem Prinzen nicht vorzulegen getraute. Dieser aber las doch, las dabei die eingeschickten einzelnen Klagen, Beschwerden und Verbesserungsvorschläge mit dem großen Grundsatz, »daß, wenn in einem ganzen Bande chimärischer Spekulationen sich auch nur eine nützliche Beobachtung fände, man die Zeit nicht bedauern müsse, die man aufs Lesen verwandt hat«-Die Mittel, diesen Verderbnissen abzuhelfen, reiften in der stillen Seele des Prinzen. – –

Und nun? Trauren Sie, meine Freunde; die muntre Gemahlin des Prinzen, die er zärtlich liebte, stirbt, von den Ärzten hingerichtet; innerhalb sechs Tagen stirbt der Prinz ihr nach, im dreißigsten Jahr seines blühenden Lebens. Lesen Sie die Geschichte seiner Krankheit, den Eigensinn Ludwigs dabei, das Ende des Prinzen; unwissend Ihrer wird eine Träne in Ihr Auge treten, und was wird dabei Ihr Wort sein? Fénelon sagte, als er die traurige Nachricht vernahm: »Meine Bande sind gelöset; nichts hält mich mehr an der Erde« Ludwig dagegen sagte: »Ich preise Gott für die Gnade, die er ihm geschenkt hat, so heilig zu sterben, als er lebte.« »Der König ertrug,« so sagt ein Geschichtschreiber, »alles als Christ,[251] glaubte, daß Gott das Reich um der Sünden willen seines Königes strafe, betete seinen Richter an, und keine Klage entfuhr ihm.« –

Wir, die wir keine Könige sind, dürfen keine so erhabne Gleichgültigkeit äußern. Wir können aufrichtig und herzlich bedauern, daß die Vorsehung dem zugrunde gerichteten Reich einen so geprüften, so festen, so tätigen König auch nur auf funfzehn oder zwanzig Jahre zu schenken nicht genehmigte. Hätte er in diesen nur den hundertsten Teil seiner reifgewordenen Entschlüsse ausgeführt und nur den tausendsten Teil der Übel, deren er sich erbarmte, gehoben, wie anders wäre der Zustand und die Geschichte Frankreichs seit einem Jahrhunderte geworden! – Nun aber kam nach wenigen jammervollen Jahren statt unsres Bourgogne der Held aller Ausschweifungen, Orleans, und statt des staatsklugen Fénelons der ruchloseste der Menschen, Du Bois, ans Ruder. Die ewige Unmündigkeit Ludwig des Vielgeliebten folgte, und wie es seitdem in Frankreich beschaffen gewesen, ist welt- und staatskundig. Die Memoirs von St. Simon, Du Clos, Richelieu, Du Terray u.f. führen uns in einen so tiefen Abgrund von ungebundener Lüderlichkeit und frevelhafter Unordnung, daß Jude, Christ, Heide und Türk über das Resultat äußerst besorgt und zugleich sehr einig sein mußten. – –

Was ist hierauf zu sagen? Gegen die Vorsehung zu murren wäre albern; denn wenn wir sie auch zur eigentümlichen Schutzgöttin Frankreichs und der Bourbons personifizierten, ja ihr dabei die Waage des Jupiters auf Ida selbst in die Hand gäben: in die eine Schale legt sie die Greuel der alten festgewurzelten Reichsverwaltung, einen ungeheuren Berg, in die andre Schale den jungen, von ihr geliebten Kronerben. Was kann er zu diesem Gebirge tun? wird er nach wenigen Jahren es vielleicht noch tun wollen? Er entschlafe also den Tod eines Heiligen, eines von Gott Geliebten, und es gehe der Ordnung der Dinge nach, nach welcher der fortgerollte Schneeball wächst, bis er schmilzt, die Greuel sich türmen, bis sie das Gleichgewicht verlieren.[252]

Wir sind also auch des Glaubens vom großen Ludwig, »qui souffrit tout en chrétien, il crût, que Dieu punissoit le Royaume des faultes de son Roi; il adora son juge, nulle plainte ne lui échappa,« erinnern uns dabei aber jenes alten Judengottes, der mit unköniglichem Bedauren sprach: »Dich jammert des Kürbis, und mich sollte nicht jammern u. f.« Lesen Sie die Worte selbst im unruhigen emigrierten Propheten. Jonas 4, 10–12.




Über die Vergänglichkeit

Eine Ode von Sarbievius


Menschlichem Elend wär es eine Lindrung,

Sänken die Dinge wieder, wie sie stiegen,

Langsam; doch oft begräbt ein schneller Umsturz Hohe Gebäude.

Lange beglückt stand nichts. Der Städt' und Menschen

Schickungen fliegen immer auf und nieder.

Jahre bedarf ein Königreich, zu steigen, Stunden, zu fallen.

Du, der du selbst des Todes Opfer sein wirst,

Nenne darum nicht, weil die Zeit im stillen

Menschen und Menschenwohnungen zerstöret, Grausam die Götter.

Die dich zum Leben rufte, jene Stunde

Rufte zum Tode dich. Der lebte lange,

Wer an Verdienst und Tugend sich ein ewig Leben erworben.




50.

Die griechische Philomele ist noch nicht verstummt; auch hat sie ihren Schmerz noch nicht vergessen. Sie klagt das[253] Unrecht, das ihr von Menschen geschah, und erweicht mit ihrem Gesange das Herz, sich von gleichem Unrecht zu enthalten.


Flet Philomela nefas; neque adhuc de pectore caedis

Effluxere notae, signataque sanguine pluma est.


Als ihre Schwester, die Schwalbe, sie aus der Einsamkeit des Waldes in die Gesellschaft, in die Häuser der Menschen schmeichelnd einlud:


»Komm in das Feld, komm in die Wohnungen

Der Menschen. Mit mir sollst du da vergnügt,

Geliebt von ihnen wohnen, wo du nicht

Den Tieren mehr, wo du dem Landmann singst.«

»Ach,« sprach sie, »laß mich hier in meiner Einsamkeit;

Der Menschen Umgang bringt mir nur das Unrecht,

Den Schmerz zurück, den ich von ihnen litt.«


Am liebsten nimmt diese alte Philomele an den stummen Klagen der Menschen teil, die sich ihrer Einsamkeit nahen. Sie bemerkt die Mienen ihres verschwiegenen Grams, den sie selbst einst ihrer Schwester nur in Stummen Bildern entdecken konnte; seit ihr die Götter ihre Stimme wiedergaben, gebraucht sie dieselbe also am liebsten zum Trost des sprachlosen Kummers der Menschheit.

Einen ihrer Gesänge belauschte ich neulich zu einer Zeit, da Nachtigallen sonst schweigen, und teile Ihnen solchen, wie ihn ein Freund aufschrieb, mit:


Philomele in T.


Hast du die Klagen gehört, die jüngst vom einsamen Aste

An den Ufern der Ilm Philomela tönte? Mir kamen

Einige Laute davon; vernimm von ihnen den Nachhall.[254]

»Wie so blätterlos ist der Hain! wie leer das Gesträuche!

Keine Stimme ertönt als nur der Raben und Elstern

Heisres Geschrei. Es klettert und pfeift die diebische Meise

An den Orten, die sonst nur meine Lieder erfüllten.

Ach, wohin ist der Geist der Liebe geflohen? wo ist er,

Und wo soll ich ihn finden? Wer wird ihn wieder erwecken?

Wann wir umher im Kreise der schattigen Ulmen, der Pappeln

Saßen und uns erweckten zu zärtlichen Liedern: ein Ton sucht

Lockend den andern; es schlägt von der Brust des antwortenden Sängers

Lauter die Liebe zurück ans Herz des Rufenden; wechselnd

Streitet im brünstigen Zwist der Gesang. Es schallet vom Felsen,

Schallt aus dem Haine wider; es hebt der glänzende Bach sich

Liebeschwellend empor; von atmenden Blüten und Zweigen

Haucht balsamischer Duft umher durch die Lüfte, und leise

Regt sich die schweigende Nacht mit taubefeuchteten Schwingen.

Aber der Menschen holdes Geschlecht, wie seh ich sie traurig

Jene Gefilde durchwandeln! Wie fremd von Blick und von Ansehn!

Wohin wendt sich ihr trüberes Aug? Ach, hin zu den Szenen

Voll des Mordes und Bluts! O ruft die Sinnen zurücke!

Warum sie tauchen in Greul und Elend der Menschen? Wer wird euch

Künftig erwecken die Brust zu sanftern, holdern Gefühlen?[255]

Wird dann das beste Glück des Lebens, die Freiheit, so teuer,

So mit Strömen des Blutes erkauft? Wer wird sie erkennen,

Wer die schmalere Grenze, wo Recht sich scheidet vom Unrecht?

Blicke des Argwohns begegnen dem Freund aus dem Auge des Freundes.

Jedes festere Band des Lebens knüpfet und löst sich

Nur durch Unwill und Wut. Ich sehe den stilleren Weisen

Einsam wandeln; sein Haupt deckt trüber Tiefsinn; es hänget

Zitternd über demselben das Schwert der Entscheidung; ihm tönen

Nicht mehr die Lieder ins Ohr der zarten Liebe, der Freundschaft,

Der erweckten Natur, des süßen, traulichen Umgangs.

Und o das blühende Mädchen! Ihr Hauch belebte die Wüste,

Wann die Wüste beleben sich könnte. Von ihrem Gesange

Übersteigen die Strahlen die meinigen. Wäre zur Blume

Sie des Haines geschaffen, kein Blümchen glich ihr an Reize,

Keines an himmlischem Glanz noch Duft. Sie senket ihr Auge

Nieder vom nackten Gipfel der hocherhabenen Ulme

Auf das verödete Land, und in sich ersterben die Strahlen.«

Also sang vom schwankenden Ast weissagend der Vogel,

Und der Nordwind verstummte; es nahten sich lindernde Weste.

Aber es schwebt, in der Höh mit ausgespreiteten Rudern

Und mit gierigem Aug ein Geier, dürstend nach Blute.

Dieser ersah den lieblichen Sänger und stürzt von der Höhe,

Faßt und drückt ihn gewaltig mit krummgespitzeter Klaue,[256]

Reißt ihm die blutende Brust auf und hackte begierig sein Leben.

Nicht ein leiser wimmernder Laut ward weiter gehöret,

Es entfloh die Seele mit stiller Wehmut von dannen

Ilicet (heu miseram!) tua Daulias exspiravit!

Jane, gravi moestum tacta dolore jecur.

Quid miseram dixi? Fatumne beatius ullum est,

Talia cantantem quam potuisse mori?


51.

Wären Kränze der Belohnung in meiner Hand, so sollten mir außer den Einrichtungen, die das Bedürfnis fodert, besonders auch die Bemühungen wert sein, die den gehässigen Wahn der Menschen unvermerkt zerstreuen und gesellige Humanität befördern. Nichts ist dem Wohlsein der lebendigen Schöpfung so sehr entgegen als das stocken ihrer Säfte; nichts bringt den Menschen tiefer hinab als ein trauriger Stillstand seiner Gedanken, seiner Bestrebungen, Hoffnungen und Wünsche.

Also auch die Schriftsteller, die uns von der Stelle bringen, die das plus ultra auf leichte und schwerere Weise ausüben,[257] gesetzt, daß sie auch keine neuen großen Resultate erjagten, wären mir sehr gefällig. Ein Mensch, der sich um Wahrheit bemühet, ist immer achtenswert, wer bei unschuldigen Bestrebungen nur Zwecke hat, ist nie verächtlich, gesetzt, daß diese auch bei weitem nicht Endzwecke wären. Denn was ist Endzweck in der Welt? wo liegt das Ende? Jedes gute Bestreben aber hat seinen Zweck in sich.

Mögen die Philosophen alter und neuer Zeiten keine einzige Wahrheit ausgemacht haben (welches doch ohne Wortspiel nicht behauptet werden kann), gnug, sie bestrebten sich um Wahrheit. Sie erweckten den menschlichen Verstand, hielten ihn im Gange, führten ihn weiter; alles, was er auf diesem Gange erfunden und geübt hat, haben wir also der Philosophie zu danken, wenn sie gleich selbst nichts hätte erfinden können und mögen Der philosophische Geist ist schätzbar; die ausgemachte Meister- und Zunftphilosophie bei weitem nicht so sehr, ja sie ist dem Fortdringen oft schädlich.

Insonderheit ist der philosophisch-moralische Geist, der die Sitten der Menschen betrachtet, ihre Farben scheidet und, wenn ich so sagen darf, ihr Inneres auswärts kehrt, eine wahre Gabe des Himmels, ein unserm Geschlecht unentbehrliches Gut. Stimme man nicht das alte Lied an: »Menschen sind Menschen! sie sind, was sie waren, und werden bleiben, was sie sind. Hat alle Moralphilosophie sie gebessert?« Denn diesem faulen trübsinnigen Wahn stehet mitnichten die Wahrheit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum Ziel gelangten, müssen wir deshalb nicht in die Rennbahn? Ja wenn das Ziel der Vollkommenheit auch nicht zu erreichen wäre und, je näher wir ihm zu kommen scheinen, immer weiter von uns rückte, haben wir deshalb nicht Schritte getan? haben wir uns nicht beweget? Was wäre das Menschengeschlecht, wenn keine Vernunft, keine Moralphilosophie von ihm geübt wäre?

Vor andern scheinen mir die Moralisten wünschenswert, die uns mit uns selbst in ernste Unterhandlung zu bringen vermögen und uns auf eine scherzende Weise durchgreifende[258] Wahrheit sagen. Ich lasse der Akademie und Stoa ihren heiligen Wert; Plato und Mark Aurel nebst ihren Genossen werden dem Menschen, dem seine Bildung ernst ist, immer und immer Schutzgeister, Führer, warnende Freunde bleiben; wenn aber z.B. Horaz auf eine ernsthaft-scherzende Weise sich selbst zum Gegenstande der Moral macht, wenn er an sich und an seine Freunde im Ton der Vertraulichkeit mit leichter Hand das schärfste Richtmaß leget und die Heuchelei, den Aberglauben, den Sittenstolz, den Wahn und Dünkel von uns lieber fortlächelt als fortgeißelt, wenn er an sich und andern zeigt, daß man nicht im Äther hoher Maximen schweben, sondern auf der Erde bleiben und täglich in Kleinigkeiten auf seiner Hut sein müsse, um nicht mit der Zeit ein Unmensch zu werden, wer kann dem Dichter da den Fleiß vergelten, den er, damit seine zarten Sittengemälde der Nachwelt wert würden, auf sie als auf wirkliche Kunstwerke gewandt hat? Diese Kunstwerke sind nicht nur lebendig, sondern auch belebend; ihr moralischer Geist geht in uns über; wir lernen an ihnen nicht dichten, sondern denken und handeln.

Jedem, der sich mit Horaz für andre würdig beschäftigen konnte, möchte ich, wenn Verdienst sich beneiden ließe, sein Verdienst beneiden. Auch unser deutsche Übersetzer der Briefe und Satiren dieses Dichters, Wieland, hat, vorzüglich durch den Kommentar derselben, jedem feineren Menschen eine belehrende Schule der Urbanität eröffnet. Was Shaftesbury in seinen Schriften für den römischen Dichter überhaupt ist, dessen moralische Kritik sich bei ihm allenthalben äußert, das ist unser Übersetzer im schwereren Einzelnen für Jünglinge sowohl als für Männer.

Nach der langen Nacht der Barbarei brach endlich auch unter den europäischen Völkern für die feinere Moral eine Morgenröte an. Die Provenzalen und Romandichter der mittleren Zeiten waren ihre Vorboten; Weiber und Männer aus allen, auch den vornehmsten Ständen suchten die Philosophie des Lebens wieder in die Welt einzuführen und streueten ihr[259] wenigstens Blumen. Sie erschien endlich, diese Philosophie, unter mehreren Nationen, und jeder Tritt soll uns heilig sein, wo sie gewandelt. Sollte das böse Schicksal es wollen, daß ganze Länder Europas (verhüte es der gute Genius der Menschheit!) wieder in die Barbarei versänken, so wollen wir, die an den Grenzen des Abgrundes stehen, die Namen und Schriften derer, die einst der Humanität dienten, um so heiliger bewahren. Sie sind uns alsdann Reste einer versunkenen Welt, Reliquien zerstörter Heiligtümer.

Du guter Montaigne, ihr Dichter und Schriftsteller voriger ruhiger oder stürmischer Zeiten Frankreichs und ihr, die ihr guter Genius beizeiten hinwegrief, Rousseau, Buffon, D'Alembert, Diderot, Mably, Du Clos: was ihr und eure Genossen der Menschheit Gutes erwiesen, ist ein Gewinn für alle Völker.

Die Briten haben durch das, was sie humour nennen, die Fehler des humours selbst dargestellt und dadurch die Unregelmäßigkeiten, das Ausschweifende und Übertriebne in menschlichen Charakteren dem Gelächter preisgeben, dem moralischen Urteil ins Licht setzen wollen. Da uns Deutschen dieser humour (leider oder gottlob?) fehlet, indem unsre Toren meistens nur abgeschmackte Toren sind, so ist's für uns, in diesen fremden Spiegel zu sehen, gewiß keine unnütze Beschäftigung. Der Flügelmann exerziert vorspringend, damit der Soldat im Gliede und der steife Rekrut exerzieren lerne.

Äußerst deutsch wäre es aber, wenn wir diese Übertreibungen für Schönheit nehmen und Shakespeares, Addisons, Swifts, Fieldings, Smollets, Sternes humoristische Figuren als Vorbilder des mora lisch-guten Geschmacks ansehen wollten. Dichter und Übersetzer wären an diesem Stumpfsinn wenigstens sehr unschuldig.

Dank also auch jedem guten Übersetzer guter britischen Humoristen. Und wir wissen alle, wem wir in Deutschland vorzüglich hiebei Dank zu sagen haben, dem Übersetzer Yoricks, Sterne, Fieldings, Smolletts, Goldsmiths, Cumberlands u.f. Die Bodeschen Übersetzungen der »Empfindsamen[260] Reisen,« des »Tristam Shandy,« »Thomas Jones,« »Humphrey Klinkers,« des »Landpriesters von Wakefield,« des »Westindiers« sind in aller Händen.

Für unser nordisches, angestrengtes und bedrücktes Leben sind überhaupt alle Schriften wohltätig, in denen unser Geist abgespannt, erweitert und milde gemacht wird. Immerdar sich zu spornen, andre zu treiben und von ihnen sich bedrängt zu fühlen ist der Zustand eines Tagelöhners, gesetzt, daß wir ihn auch mit dem Titel eines Strebens nach höchster Vollkommenheit in unablässigem Eifer ausschmücken wollten. Die menschliche Natur erliegt unter einer rastlosen Anstrengung; während der Ruhe, während des Spiels zwangloser Übungen gewinnt sie Munterkeit und Kräfte. Selten geht der unablässige Eifer anderswohin aus, als auf Schwärmerei und Übertreibung, die durch nichts zurecht gebracht werden kann als durch eine Darstellung dessen, was sie ist, durch eine leichte fröhliche Nachahmung ihrer eignen Charaktere. Da lacht der Tor, falls er noch lachen kann, über sich selbst, und im leichtesten Spiel findet man, wie Leibniz meint, die ernsteste Wahrheit.


Nachschrift des Herausgebers

Statt einer langen Anmerkung erlaube der Leser mir hier eine Stelle mitten unter fremden Briefen.

Der Mann, an den zu Ende des vorstehenden Briefes mit dem verdienten Lobe gedacht war, war mein Freund, und er ist nicht mehr. Eben, da ich diesen Brief zum Druck übersehe, wird seine Leiche begraben; aber ein Teil seines Geistes und seine redliche Mühe wird, hoffe ich, in unsrer Sprache noch fortleben, so wie sein Andenken im Herzen seiner Freunde.

Bode war mehr als Übersetzer; er war ein selbstdenkender, ein im Urteil geprüfter Mann, ein redlicher Freund, im Umgange ein geistiger, froher Gesellschafter. Und doch war sein Charakter noch schätzbarer als sein Geist; seine biedern[261] Grundsätze waren mir immer noch werter als die sinnreichsten Einfälle seines muntern Umganges. Er hatte viel erlebt, viel erfahren; in seinen mannigfaltigen Verbindungen hatte er Menschen aus allen Ständen von Seiten kennengelernt, von denen wenige andre sie kennenlernen, und wußte sie zu schätzen und zu ordnen.

Die Schwärmerei hassete er in jeder Maske und war ein Freund, so wie der gemeinen Wohlfahrt, so auch des wahren Menschenverstandes Der betrügenden Heuchelei entgegenzutreten, war ihm keine Mühe verdrießlich; gern opferte er diesem Geschäfte Zeit, Kosten und Seelenkräfte auf, die er sonst abwechselnder, vielleicht auch einträglicher hätte anwenden mögen. Viele seiner Freunde in mehreren Provinzen Deutschlands kennen ihn von dieser Seite; und wer einer standhaften Mühe in redlicher Absicht Gerechtigkeit widerfahren läßt, wird das Verdienst eines Mannes ehren, der in seinem sehr verbreiteten Kreise vielem Bösen widerstand und in seiner Art (nicht politisch!) ein Franklin war, der durch die Mittel, die in seiner Hand lagen, der Menschheit nichts als Gutes schaffen wollte und gewiß viel Gutes geschafft hat. Großmut war der Grund seines Charakters, den er in einzelnen Fällen mehrmals erwiesen; nach solchem nahm er sich insonderheit der Verlassenen, junger Leute, vergessener Armen, der Gekränkten, der Irrenden an und war, fast über seine Kräfte, ein stiller Wohltäter der Menschheit.

Auch seine Übersetzungen hatten diesen Zweck, und sein Fleiß dabei war unermüdet. Er bewarb sich bei ihnen sowohl um die Eigentümlichkeit des Gedankens als des Ausdrucks; mithin arbeitete er in beiden Sprachen. Er, Lessings Freund und bei einer Schrift sein Mitübersetzer, wollte nie ein Sprachverderber, wohl aber mit Urteil und Prüfung ein Erweiterer der Sprache werden. Die falschen Nachahmungen in seiner Manier hassete er ebensowohl als die Nachäffungen der Charaktere, die er dem deutschen Publikum verständlich machte; er übersah und übersetzte sein Buch als ein Mann von gesundem Verstande.[262]

Ein schätzbares Geschenk, das er uns hätte geben können, wäre die Beschreibung seines eignen Lebens gewesen. Schonend und bieder sagte er aber: »Von meiner Seite würde es anmaßend scheinen, andre würde es kompromittieren. Ich will in Friede schlafen.«

Und so schlafe er denn in Friede! Sein Ende kam, wie seine Freunde es wünschten, ohne langwierige Krankheit; fast bis an seinen Tod hin war er unverdrossen geschäftig. Viele Gute halten ihn wert. Unweit dem Künstler Cranach liegt er begraben.


52.

Als ich in Ihren Briefen die Fragmente »Über die Humanität Homers in der Iliade« las, fiel mir ein Schriftsteller ein, der vor Jahren nicht recht nach meinem Sinne gewesen war, Thomas Gordon, »Über den Tacitus«.36 In der Jugend muß man keine politische Betrachtungen, weder Gordon noch Tacitus, lesen; sie machen uns eine zu ernste, zu saure Miene. Man siehet die Welt alsdann noch gern von der fröhlichen Seite an und hasset den grübelnden Tadel.

Über den Tacitus änderte sich mein Urteil, als ich ihn in reifern Jahren las. Ich kam davon zurück, daß der ein Sauertopf sei, der üble Gerüchte und politische Grübeleien zusammengemischt hätte (ein gemeines, aber äußerst falsches Urteil); wie sehr wünschte ich, Ihnen auch den Areopagiten Gordon, frei von seinen Schlacken (britischen Vergleichungen und Epanorthosen), bloß als einen lichten und leichten Versuch über die Humanität des Tacitus zusenden zu können[263] Nicht leicht hat ein Schriftsteller so viele Gemüter tiefer an sich gezogen als dieser Römer; wer ihn studierte, ward mit Geist und Sinn der Seine. Daher so viele Kommentatoren des Tacitus; je redlicher es jemand meinte, je mehr er die politische Welt aus eigner Erfahrung kennengelernt hatte, desto mehr liebte er den alten Geschichtschreiber und ward gar selbst sein Kommentator.

Was Gordon über des Tacitus Charakter, über seine Denkart, seine Beschreibungen, seine Grundsätze, seine Moral, endlich über seine Schreibart behauptet, sagt eher zuwenig als zuviel, so manches auch die lateinischen Stilisten, selbst der gute Lord Monboddo, dagegen einzuwenden haben möchten.37 Nach allen Vorübungen, die wir im Deutschen als Versuche seiner Übersetzung gemacht haben, wünsche ich eine wahre Übersetzung desselben; mich dünkt, unsre Sprache sei dazu vor allen andern fähig.

Als Proben von der edlen Denkart des Tacitus führt Gordon schöne Stellen an, z.B. wie Hermanns Gemahlin, durch Verrat gefangen, unter andern edeln Frauen vor Germanicus geführt wird: »Segests Tochter, doch gleichgesinnter dem Gemahl als dem Vater. Auch überwunden kannte sie keine Tränen, kein flehendes Wort; sie hatte die Hände über ihren schwangern Leib zusammengeschlagen und sah auf ihn nieder.« Wie Germanicus, dem Teutoburger Walde nahend, in welchem die Gebeine des Varus und seiner Legionen noch unbegraben lagen, nun herzlich verlangt, dem erschlagenen Heerführer und seinem Heer der Menschheit letzte Pflicht zu leisten: »Da jammern alle, die mit waren, über Verwandte, Freunde, über Kriegsunfälle, über der Menschen Schicksal. Sie kommen an den traurigen Ort, sie sehen Varus' Lager, die Überbleibsel derer, die, zurückgedrängt, Rettung hatten suchen wollen, endlich das Feld voll weißer Gebeine, wie sie geflohen und gestanden, auseinandergesprengt und aneinandergedrängt gewesen waren; nebenan lagen zerbrochene[264] Spieße und Pferdeglieder; an Baumstämmen waren angenagelte Köpfe; nahan im Walde standen die barbarischen Altäre, auf welchen Tribunen und Zenturionen geblutet hatten. Und die dieser Schlacht, die der Gefangenschaft entkommen waren, erzählten: ›Hier fielen die Anführer der Legionen, dort wurden die Adler erbeutet; hier bekam Varus seine erste Wunde, dort gab er sich mit unglücklicher Rechte selbst den Tod. Auf dieser Höhe stand Hermann und sprach den Seinigen Mut zu; hier die Galgen, woran er die Gefangenen knüpfen, dort, wo er die Adler und Feldzeichen verhöhnen ließ.‹ Nach sechs Jahren also begrub eine römische Armee ihre drei Legionen, und keiner kannte, wen er begrub, ob seinen Verwandten, ob einen Fremden. Jeder ward als Blutsfreund, als Verbündeter bestattet, mit desto größerem Zorn gegen den Feind, aufgebracht und traurig.«

So führt Gordon die schöne Stelle über Tiberius an: »Seine Untaten und Laster wurden ihm selbst zur Marterstrafe; denn vergebens habe der weiseste Alte nicht gesagt, daß, wenn man solcher Unmenschen Inneres aufschließen könnte und Striemen und Wunden der Seele auch sichtbar wären wie Wunden des Körpers, man ihr Gemüt nicht anders als von Grausamkeit, Wollust und übeln Ratgebern zerfleischt erblicken könnte.«

Dergleichen Stellen führt Gordon mehrere an. Aber was sind sie außer dem Zusammenhange der Geschichte, die ihnen eigentlich Urkunde und Beleg ist? Die letzte Stelle z.B. beziehet sich auf des Tiberius meisterhaften, kurzen Brief an den römischen Rat: »Was ich Euch schreiben soll, meine Herren, oder wie ich schreiben oder was ich Euch jetzt nicht schreiben soll; alle Teufel mögen mich holen (die mich täglich und stündlich plagen), wenn ich das weiß!« Da konnte Tacitus hinzusetzen: »Weder Glück noch Einsamkeit konnten den Tiberius schützen, daß er die Qual seiner Brust und die Strafe, die er an sich selbst litt, nicht selbst bekennte«

Soll ich Ihnen von Gordon mehr erzählen? Nur seine Kapitel will ich herschreiben: »Von Cäsars unrechtmäßigem Besitz[265] der Herrschaft und warum dessen Name weniger als des Catilina Name gehässig ist? Von Octavius Augustus Ränken, seinem rachsüchtigen Gemüt, seinem Meineide, Grausamkeiten und den Begebenheiten, die zu seinem großen Namen beitrugen. Von der Liebe des Volks und Rates, die er sich zu erwerben suchte. Von der Ehre, mit welcher ihm die Dichter geschmeichelt. Von dem falschen Glanz, den seine Nachfolger ihm verschafft haben. Vom Kaiserregiment. Vom Majestätsgesetz. Von Anklagen und Angebern. Von der allgemeinen Entehrung der Gemüter und von der Schmeichelei, die eine unumschränkte Regierung begleiten. Vom Geist der Höfe. Über Armeen und Eroberungen. Über die Kaiser, deren Geschichte Tacitus beschreibt, über ihre Minister, ihre Unglücksfälle und die Ursachen ihres Sturzes. Über die Bestechung der Minister Von Finanzen, Volk, Adel, dem Aberglauben der Regenten« u.f. –

Ein ganzes Staatssystem, mit zahlreichen Beispielen und Sprüchen aus Tacitus belegt, zwar nicht im scharfsinnigen Weltgeschmack des Machiavells, desto mehr aber, und bis zum Übermaße, mit aller Wärme eines ehrlichen, das Beste wollenden Mannes gezeichnet. Diderot rechnete Gordon unter seine liebsten Schriftsteller; schaden wenigstens wird er niemanden und muntert sehr zum eignen, verständigen Lesen des Tacitus an. Hätte er damit nicht seinen Zweck erreichet?

O daß wir den Tacitus ganz hätten! Warum müssen seine Jahrbücher gerade mit dem Tode des edlen Thrasea, seine Geschichtbücher eben vor Vespasian aufhören? Seiner »Germania« wegen ist Deutschland ihm besondern Dank schuldig; und vielleicht hat keine europäische Nation mehr Ursache als sie, in Tacitus' Manier ihre Geschichte nach der vortrefflichen Grundlage, die er von Deutschland selbst gemacht, fortzuschreiben. Schenkte uns indessen nur ein zweites Kloster Corvey den ganzen Tacitus und in Absicht Deutschlandes seinen Gesellen, den Plinius, wieder!
[266]


53.

Wie? wenn ich Ihnen für Ihren schottischen Gordon einen deutschen Kommentator des Tacitus nennte, der jenem an der Seite zu stehen wohl wert, aber desto unbekannter, desto ungeschätzter ist? Die bloßen Grammatiker haben von seinen Anmerkungen über diesen Römer sehr zurücksetzend gesprochen; sie sind aber voll Kenntnis der Geschichte, voll Lebens- und Geschäftserfahrung, dabei mit so deutscher Treue und Biederkeit, vor mehr als hundert Jahren geschrieben, daß sie für uns endlich doch ein lehrreiches Buch werden könnten. Es sind die sogenannten »Politischen Anmerkungen über Tacitus« vom Mömpelgardschen Geheimen Rat Forstner.38

Moser hat sich um diesen Mann verdient gemacht, daß er seine Lebensgeschichte, so gut er sie haben konnte, in sein »Patriotisches Archiv« aufnahm. Eine Reihe Briefe desselben kennen Sie aus einer andern nützlichen Sammlung.39 Wie? wenn jemand, jedoch mit Auswahl und Zusammenstellung, Forstners Gedanken über Tacitus übersetzte und Friedrich Carl Moser sie auch nur mit wenigem kommentierte, so käme dieser Reichtum bescheidener, geprüfter Gedanken doch einigermaßen in Umlauf.

Überhaupt, warum liegen die Betrachtungen verdienter deutscher Staatsmänner voriger Zeiten bei uns so tief im Dunkel? Engländer, Franzosen und Italiener haben die ihrigen schön aufgeputzt; wir stehen hierin fast hinter Polen und Ungarn. Und doch ist das Geschäft- und Gedankenreich verdienter, sachkundiger Männer einer Nation gleichsam der Stamm, ohne welchen sie kaum eine Nation, geschweige ein durchdachter, durchempfundener Staatskörper genannt zu werden verdienet. Die geographischen Grenzen allein machen das Ganze einer Nation nicht aus; ein Reichstag der Fürsten,[267] eine gemeinschaftliche Sprache der Völker bewirken es auch nicht allein; ja, letztere ist in Deutschland den Provinzen nach so verschieden (große Striche sprechen ganz und gar eine fremde Sprache, ganze Klassen der Menschen nehmen an Gedanken gar keinen Teil), daß, wenn man dies alles zusammenhält, man es den Magistern nicht übelnehmen kann, wenn sie pro gradu noch bis jetzt über das ganze Thema disputieren, »welche Regimentsverfassung Deutschland habe, oder ob die Deutschen eine Nation sein«. Die spottenden Urteile der Ausländer hierüber, auch wenn sie unserm Fleiß, unsrer Treue, unserm Biedersinn Gerechtigkeit widerfahren lassen, sind bekannt. Sollte es also nicht der geringste Dank sein, den man dem verstorbenen Diener erweiset, daß man mit seinen Dienstleistungen auch die Gedanken, deren er sich dabei erkühnte, der Nachwelt nicht entziehe? Wenigstens bilden sodann doch die treuen Diener eine Kette, die Jahrhunderte durchreicht und an die sich neue treue Diener anschließen mögen. Das Jahrhundert der Reformation erlaubte sich noch, auch über vaterländische Sachen laut zu denken; seitdem ward alles Rang, Form und Stand oder ging, sobald es ein eigner Gedanke schien, in die Archivgräber.

Daher dann, daß uns eine Geschichte Deutschlands so lange gefehlt hat und in manchen Teilen noch lange fehlen wird. Daher, daß unser Sleidan keine Ausgabe wie der französische Thuan erlebt hat und unsre Mevii, verstandreich wie sie sind, den Montesquieus, Clarendons, Sarpis andrer Nationen an Ruhm, Glanz, allgemeiner Bekanntschaft und Schätzung wohl nachstehen müssen. Daher, daß die Mozambanos, die a Lapide unter besonderm Schutz, immer also halbparteiisch schreiben, wohl gar in fremde Länder gehn oder Fremde sein mußten. Daher endlich, daß die besten Schriften dieses Faches in Deutschland vergleichungsweise wenig oder keine Wirkung tun; denn oft ist mit jeder dritten Meile das politische Interesse der deutschen Provinzen geändert.[268]

Weit entfernt bin ich, hiemit eine Staatsklügelei nach Deutschland zu wünschen, die gottlob unser Charakter nicht ist und die jedem Volk verderblich gewesen. Räsonierte Geschichte aber, räsonierte Erfahrungen des Lebens aus allen Ständen, in allen Verhältnissen und Ämtern muß jedermann wünschen Durch die Vernunft lebt der Mensch, ob er gleich vom Brote lebet; die oft teuer erworbene Summe von Gedanken und Erfahrungen unsres Lebens ist auch ein Besitz, und jedes Glied des Staats gehört dem Ganzen nicht nur durch das, was es mechanisch tat, sondern auch durch das, was es bei diesem mechanischen Tun dachte. Schweigen verständige Leute, so redet der Tor; der spricht sodann desto unbesonnener und lauter.

Mich dünkt, in Deutschland war zu neueren Zeiten Moser der erste, der in dieser Art freimütiger und bescheidner Biederkeit ein Beispiel gab. Stellet man ihn mit ältern deutschen sogenannten Staatsmännern, Kulpis, Reinking, Veit Seckendorf, zusammen, welch ein Unterschied! gewiß nicht zu seinem Nachteil. Sein »Herr und Diener,« seine »Beherzigungen,« »Reliquien,« »Patriotische Briefe,« sein »Schutt zur Wegebesserung,« und was für Einkleidungen er sonst gewählet, sind einesteils mit einer so treffenden Wahrheit, andernteils mit einer Herzlichkeit geschrieben, als ob der Verfasser einmal Luthers Freund und Amanuensis gewesen wäre. Züge der Beredsamkeit sind in ihm, deren sich mancher britische Parlamentsredner nicht schämen dürfte; und alles hüllet sich endlich in den Mantel der deutschen Bescheidenheit und Demut. Sein »Patriotisches Archiv« enthält treffliche Sachen, so wie durchaus keiner seiner Aufsätze von Geist und Herz leer ist. Die meisten derselben, weil sie deutsche Dinge betreffen, lesen sich, als ob sie heute geschrieben wären.

Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts entstanden periodische Schriften mancherlei Inhalts; im jetzigen mehrten sich diese nicht nur im ganzen, sie vervielfachten sich auch in einzelnen Provinzen bis zu wöchentlichen Blättern und[269] Beiträge, die in Deutschland ein sehr guter Same geworden sind. Mösers »Patriotische Phantasien« sind aus Beiträgen zum osnabrückischen Wochenblatt entstanden; und was andre Zeitschriften hier, dort und da in den germanischen Wäldern für Nutzen gestiftet haben, ist weniger landkundig als wahr und rühmlich. Laß es hie und da auch Mißbräuche dieses Vehikuls gegeben haben und geben: Mißbrauch hebt die gute Sache nicht auf. Viele unsrer deutschen Journale sind ein Fundbuch trefflicher Materialien, ja in Deutschland fast das einzige Mittel, wodurch Provinzen und Stände einander kennenlernen. Mancher böse Pflichtträger, der sich gleich jenem im Evangelium weder vor Gott noch Menschen fürchtet, scheuet sich wenigstens vor der Schande eines Journals. –

Ungleich höher und weit voran alle diesem stünde die Geschichte, wenn sie jeder Provinz unsres Landes mit Geschmack, Verstand und Patriotismus bereits einheimisch geworden wäre. Wollten wir uns von einigen derselben nach und nach nicht ausführlicher unterhalten? Wenn irgendeine Wissenschaft, so ist ja die Geschichte ein Studium der Humanität ein Werkzeug des echtesten Vaterlandsgeistes.[270]

29

Daß dieses keine Schwedenborgsche Geisterversammlung oder eine andre geheime Gesellschaft sei, ist aus dem letzten Briefe des Zweiten Teils dieser Sammlung klar. Die Sichtbar-Unsichtbaren und Unsichtbar-Sichtbaren sind nichts mehr und minder als gedruckte Schriften. A. d. H.

30

Das war Realis' wahrer Name. In Jöchers Lexikon findet man ihn; die Anzeige der Unternehmungen des Mannes aber ist kaum berühret. A. d. H.

31

Die Materie ist hiemit nicht geendet; sie hat noch einige Briefe erhalten, die späterhin werden mitgeteilt werden. A. d. H.

32

»The Botanic Garden, containing the Loves of the Plants, with Philosophical Notes,« London 1788.

33

»Orlando Furioso,« Canto XXXIV, Str. 75, 77, 79, 81. A. d. H.

34

Alles dies findet man im 7. Teil der Londoner Ausgabe von Thuans Geschichte beisammen. Auch die »Commentarios de vita sua,« in denen nebst andern das Gedicht »Posteritati« vorkommt. Die hier (frei Übersetzte Ode »Veritati« (Der Wahrheit) steht Tom. I voran seiner Geschichte. In Gruters »Deliciis Poëtarum Gallorum« fehlen Thuans beste Stücke gänzlich. A. d. H.

35

»Vie du Dauphin, père de Louis XV, écrite sur les mémoires de la Cour, enrichie des écrits du même Prince, par l'Abbé Proyart,« Lyon 1782.

36

Das englische Original kenne ich nicht. Die Französische Übersetzung heißt: Discours historiques, critiques et politiques sur Tacite par Gordon, Amsterdam 1742. Die deutsche hat den unförmlichen Titel: »Die Ehre der Freiheit der Römer und Briten nach Gordons staatsklugen Betrachtungen über den Tacitus,« Nürnberg 1764. A. d. H.

37

Vor der Zweibrücker Ausgabe des Tacitus ist Crollius' lange Vorrede über diese Materie sehr schätzbar. A. d. H.

38

Christoph. Forstneri »Notae politicae ad C. Tacitum,« Argent 1650.

39

le Brets »Magazin zur Geschichte«. A. d. H.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 2 Bände, Band 1, Berlin und Weimar 1971, S. 205-271.
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