Zehnte Sammlung

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114.

Aber warum müssen Völker auf Völker wirken, um einander die Ruhe zu stören? Man sagt, der fortgehend wachsenden Kultur wegen; wie gar etwas anders sagt das Buch der Geschichte!


Hatten jene Berg- und Steppenvölker aus Nordasien, die ewigen Beunruhiger der Welt, es je zur Absicht oder waren sie je imstande, Kultur zu verbreiten? Machten die Chaldäer nicht einem großen Teil der alten Herrlichkeit des Vorderasiens eben ein Ende? Attila, so viele Völker, die ihm vorgingen und nachfolgten, wollten sie die Fortbildung des Menschengeschlechts befördern? Haben sie sie befördert?

Ja, die Phönizier, die Karthager mit ihren gerühmten Kolonien, die Griechen selbst mit ihren Pflanzstädten, die Römer mit ihren Eroberungen, hatten sie diesen Zweck? Und wenn sich durch das Reiben der Völker aneinander hier etwa diese Kunst, dort jene Bequemlichkeit verbreitete, leisten diese wohl Ersatz für die Übel, die das Drängen der Nationen aufeinander dem Siegenden und dem Besiegten gaben? Wer vermag das Elend zu schildern, das die griechischen und römischen Eroberungen dem Erdkreise, den sie umfaßten, mittelbar und unmittelbar brachten?241[233]

Selbst das Christentum, sobald es als Staatsmaschine auf fremde Völker wirkte, drückte sie schrecklich; bei einigen verstümmelte es dergestalt ihren eigentümlichen Charakter, daß keine anderthalbtausend Jahre ihn haben zurechtbringen mögen. Wünschten wir nicht, daß z.B. der Geist der nordischen Völker, der Deutschen, der Galen, Slawen u.f., ungestört und rein aus sich selber hätte hervorgehen mögen?

Und was nutzten die Kreuzzüge dem Orient? Welches Glück haben sie den Küsten der Ostsee gebracht? Die alten Preußen sind vertilget; Liven, Esten und Letten im ärmsten Zustande fluchen im Herzen noch jetzt ihren Unterjochern, den Deutschen.

Was endlich ist von der Kultur zu sagen, die von Spaniern, Portugiesen, Engländern und Holländern nach Ost- und Westindien, unter die Neger nach Afrika, in die friedlichen Inseln der Südwelt gebracht ist? Schreien nicht alle diese Länder, mehr oder weniger, um Rache? Um so mehr um Rache, da sie auf eine unübersehliche Zeit in ein fortgehend wachsendes Verderben gestürzt sind. Alle diese Geschichten liegen in Reisebeschreibungen zutage; sie sind bei Gelegenheit des Negerhandels zum Teil auch laut zur Sprache gekommen. Von den spanischen Grausamkeiten, vom Geiz der Engländer, von der kalten Frechheit der Holländer, von denen man im Taumel des Eroberungswahnes Heldengedichte schrieb, sind in unsrer Zeit Bücher geschrieben, die ihnen so wenig Ehre bringen, daß vielmehr, wenn ein europäischer Gesamtgeist anderswo als in Büchern lebte, wir uns des Verbrechens beleidigter Menschheit fast vor allen Völkern der Erde schämen müßten. Nenne man das Land, wohin Europäer kamen und sich nicht durch Beeinträchtigungen, durch ungerechte Kriege, Geiz, Betrug, Unterdrückung, durch Krankheiten und schädliche Gaben an der unbewehrten, zutrauenden Menschheit, vielleicht auf alle Äonen hinab, versündigt haben! Nicht der weise, sondern der anmaßende, zudringliche, übervorteilende Teil der Erde muß unser Weltteil heißen; er hat nicht kultiviert, sondern die Keime[234] eigner Kultur der Völker, wo und wie er nur konnte, zerstöret.242

Was ist überhaupt eine aufgedrungene, fremde Kultur? eine Bildung, die nicht aus eignen Anlagen und Bedürfnissen hervorgeht? Sie unterdrückt und mißgestaltet, oder sie stürzt gerade in den Abgrund. Ihr armen Schlachtopfer, die ihr von den Südseeinseln nach England gebracht wurdet, um Kultur zu empfangen, ihr seid Sinnbilder des Guten, das die Europäer überhaupt andern Völkern mitteilen.243 Nicht anders also als gerecht und weise handelte der gute Kien-Long, da er dem fremden Vizekönig schnell und höflich mit tausend Freudenfeuern den Weg aus seinem Reich zeigen ließ. Möchte jede Nation klug und stark gnug gewesen sein, den Europäern diesen Weg zu zeigen! –

Wenn wir nun sogar lästernd vorgeben, daß durch diese Beeinträchtigungen der Welt der Zweck der Vorsehung erfüllt werde, die uns ja eben dazu Macht und List und Werkzeuge gegeben habe? die Räuber, Störer, Aufwiegler und Verwüster[235] aller Welt zu werden, wer schauderte nicht vor dieser menschenfeindlichen Frechheit? Freilich sind wir, auch mit Torheiten und Lastertaten, Werkzeuge in den Händen der Vorsehung, aber nicht zu unserm Verdienst, sondern vielleicht eben dazu, daß wir durch eine rastlose höllische Tätigkeit im größesten Reichtum arm, von Begierden gefoltert, von üppiger Trägheit entnervt, am geraubten Gift ekel und langweilig sterben.

Und wenn einige Neulinge mit Anmaßungen solcher Art alle Wissenschaften beflecken, wenn sie die gesamte Geschichte der Menschheit dahin abzweckend finden, daß auf keinem andern als diesem Wege den Nationen Heil und Trost widerfahren könne, sollte man da unser ganzes Geschlecht nicht aufs empfindlichste bedauren?

Ein Mensch, sagt das Sprichwort, ist dem andern ein Wolf, ein Gott, ein Engel, ein Teufel; was sind die aufeinander wirkende Menschenvölker einander? Der Neger malt den Teufel weiß, und der Lette will nicht in den Himmel, sobald Deutsche da sind. »Warum gießest du mir Wasser auf den Kopf?« sagte jener sterbende Sklave zum Missionar. – »Daß du in den Himmel kommest.« – »Ich mag in keinen Himmel, wo Weiße sind,« sprach er, kehrte das Gesicht ab und starb. Traurige Geschichte der Menschheit!


Neger-Idyllen

Die Frucht am Baume


Ich ging im schönsten Zedernhain

Und hörete der Vögel Lied,

Bewundernd ihrer Farben Glanz,

Bewundernd ihrer Bäume Pracht –

Als plötzlich aus der Höhe mich

Ein Ächzen weckte. Welch Gesicht! –

Ein Käfig hing am hohen Baum,

Umlagert von Raubvögeln, schwarz

Umwölket von Insekten. –
[236]

Als

Die Kugel meines Rohres sie

Verscheucht, sprach eine Stimme: »Gib

Mir Wasser, Mensch! Es dürstet mich.« –


Ich sah den menschenwidrigsten

Anblick. Ein Neger, halb zerfleischt,

Zerbissen; schon ein Auge war

Ihm ausgehackt. Ein Wespenschwarm

An offnen Wunden sog aus ihm

Den letzten Saft. Ich schauderte.


Und sah umher. Da stand ein Rohr

Mit einem Kürbis, womit ihn

Barmherzig schon sein Freund gelabt.

Ich füllete den Kürbis. – »Ach!«

Rief jenes Ächzen wieder, »Gift

Darein tun, Gift! du weißer Mann!

Ich kann nicht sterben.«


Zitternd reicht

Ich ihm den Wassertrank: »Wie lang,

O Unglücksel'ger, bist du hier?« –

»Zwei Tage, und nicht sterben! Ach,

Die Vögel! Wespen! Schmerz! o Weh!«


Ich eilte fort und fand das Haus

Des Herrn im Tanz, in heller Lust.

Und als ich nach dem Ächzenden

Behutsam fragte, höret ich,

Daß man dem Jünglinge die Braut

Verführen wollen und wie er,

Das nicht ertragend, sich gerächt.

Dafür dann büße nun sein Stolz

Die Keckheit und den Übermut.
[237]

»Und der Verführer?« fragt ich.

»Trinkt

Dort an der Tafel.«


Schaudernd floh

Ich aus dem Saal zum Sterbenden.

Er war gestorben. – Hatte dich,

Unglücklicher, mein Trank zum Tode

Gestärket, o so gab ich dir

Das reichste, süßeste Geschenk.


Die rechte Hand

Ein edler Neger, seinem Lande frech

Entraubet, blieb auch in der Sklaverei

Ein Königssohn, tat edel seinen Dienst

Und ward der Mitgefangnen Trost und Hat.

Einst als sein Herr, der weiße Teufel, wütend

Im Zorn der Sklaven einem schnellen Tod

Aussprach, trat Fetu bittend vor ihn hin

Und zeigte seine Unschuld. »Widersprichst

Du mir? Du selbst, du sollst sein Henker sein!«

»Sogleich!« antwortet Fetu, »nur noch einen,

Noch einen Augenblick!« Er flog hinweg

Und kam zurück, in seiner linken Hand

Die abgehaune rechte haltend, die

Den Henkersdienst vollführen sollte. Tief

Gebückt, legt, er sie vor den Herrn: »Fodre,

Gebieter, von mir, was du willst, nur nichts

Unwürdiges!«

Er starb an seiner Wunde,

Und seine Hand ward auf sein Grab gepflanzt.[238]

Wie manche Arme lägen! – Nein doch, nein!

Gar viele lägen nicht; die Willkür wird

Ohnmächtig, wenn es ihr am Werkzeug fehlt.

Sprichst du hingegen: »Wie der Herr gebeut!«

Und: »Tu ich's nicht, so tut's ein anderer;

Lieb ist ja jedem seine rechte Hand!«

So henken Sklaven (das Gefühl des Unrechts

In ihrem Herzen) andre Sklaven frech

Und scheu und stolz, bis sie ein dritter henkt.244


Die Brüder

Mit seinem Herren war ein Negerjüngling

Von Kindheit an erzogen; eine Brust

Hatt sie genährt. Aus seiner Mutter Brust

Hatt afrikan'sche Bruderliebe Quassi

Zu seinem Herrn gesogen, hütete

Sein Haus und lebte, lebte nur in ihm.

Der Neger glaubte sich von seinem Herrn

(Einst seinem Spielgesellen) auch geliebt,

Tat, was er konnte, lebend nur für ihn.

Und – bittre Täuschung! – einst um ein Vergessen,

Das auch dem Göttersohn begegnen kann,[239]

Ergrimmete sein Herr und sprach zu ihm

Von Karrenstäupe.245

Wie vom Blitz gerührt,

Stand Quassi da, der treue Freund, der Bruder,

Der liebende Anbeter seines Herrn.

Das Wort im Herzen, deckte schwarzer Gram

Die ganze Schöpfung ihm. Verstummt entzog

Er sich des Herren Anblick. – Meinet ihr,

Er floh? Mitnichten! Sicher hoffend noch,

Daß ihn ein Freund, daß die Erinnerung

Der Jugend ihn versöhne, rettet' er

Sich in der niedern Sklaven Hütte, die

Ihn hoch verehreten. Da wartet' er

Ein nahes Fest ab, das sein Herr dem Neffen

Bereitet' und ein Tag der Freude war.

»Dann,« sprach er bei sich selbst, »wird ihm die Zeit

Der Jugend wiederkehren. Billigkeit

Und meine Unschuld, meine Lieb und Treu

Wird für mich sprechen. Er vergaß sich; doch

Er wird sich wiederfinden.« –

Jetzt erschien

Der Tag; das Fest ging an, und Quassi wagte

Sich auf den Hof.

Doch als sein Herr ihn sah,

Ergrimmet wie ein Leu, der Blut geleckt,

Sprang er auf ihn. Der Arme floh. Der Tiger

Erjagt ihn; beide stürzen; stampfend kniet

Sein Herr auf ihm, ihm jede Marter drohend.

Da hub mit aller seiner Negerkraft

Der Jüngling sich empor und hielt ihn fest

Danieder, zog ein Messer aus dem Gurt[240]

Und sprach: »Von Kindheit an mit Euch erzogen,

In Knabenjahren Euer Spielgesell,

Liebt ich Euch wie mich selbst und glaubte mich

Von Euch geliebet. Ich war Eure Hand,

Eur Auge. Euer kleinster Vorteil war

Mein eifrigster Gedanke Tag und Nacht;

Denn das Vertraun auf Eure Liebe war

Mein größter Schatz auf dieser Welt. Ihr wißt,

Ich bin unschuldig; jene Kleinigkeit,

Die Euch aufbrachte, ist ein Nichts. Und Ihr,

Ihr drohtet mir mit Schändung meiner Haut.

Das Wort kann Quassi nicht ertragen; denn

Es zeigt mir Euer Herz.«

Er zog das Messer

Und stieß es – meint ihr in des Tigers Brust?

Nein! selbst sich in die Kehle. Blutend stürzt'

Er auf den Herren nieder, ihn umfassend,

Beströmend ihn mit warmem Bruderblut.

Wie manche Kugel in Europa fuhr

In des Beleidigten gekränktes Hirn,

Die den Beleidiger fromm verschonete!

Wie manches »Ich der König« fraß das Herz

Des Dieners auf mit langsam-schnellem Gift!246

O wenn Gerechtigkeit vom Himmel sieht,

Sie sah den Neger auf dem Weißen ruhn.


Zimeo

[241] Ein Lärm erscholl; die weite Ebne stand

In Flammen; zwei-, dreihundert Wirbelsäulen

Von rotem, grünem, gelbem Feuer stiegen

Zum Himmel auf, und vom Gebürge drückt

Ein langer schwarzer Rauch sich schwer herab,

Durch den die Morgensonne ängstlich drang,

Kaum seinen Saum vergüldend. Traurig blickten

Der Berge Spitzen aus dem Rauch hervor,

Und fern am Horizont das helle Meer.

Die herdenvolle Ebne war voll Angst-

Geschrei der Fliehenden, verfolgt von Schwarzen,

Die unter blühenden Pflanzungen Kaffee,

Kakao, Zuckerrohr und Indigo

Und Ruku, in Pomranzenlauben sie

Erwürgten. In der Vögel Lied ergoß

Sich Weh und Ach der Sterbenden. –

Da trat

Ein Mann vor uns mit Blute nicht befleckt,

Und Güte sprach in seinen Zügen, die[242]

Im Augenblick mit Zorn und Trauer, Wut

Und Wehmut wechselten. Gebietend stand

Er wie ein Halbgott da, geboren, zu befehlen.

Und milde sprach er: »Höret, hört mich an,

Ihr Friedensmänner, wendet eure Herzen

Zum unglücksel'gen Zimeo.« Er ist

Mit Blute nicht befleckt; zwar wär es nur

Gottloser Blut: denn meiner Brüder Qual

Rief vom Gebürge247 mein Geschlecht herab,

An Tigern sie zu rächen. Aber ich

Begleitet sie, sie einzuhalten; wo

Ich irgend Milde fand, verschont ich. Ich

Verschmähte, selbst mit schuld'ger Weißen Blut

Mich zu beflecken. Sklaven, tretet her,

Wie lebt ihr hier? – O wendet eure Herzen,

Ihr Friedensmänner, nicht vom Zimeo.

Er rief die Sklaven unsres Hauses, sie

Befragend um ihr Schicksal. Alle traten

Mit Freude vor ihn hin, erzählend ihm

Ihr Leben. »Komm, o Edler,« sprachen sie,

»Sieh unsre Kleider, unsre Wohnungen.«

Sie zeigten ihm ihr Geld; die Freigelaßnen

Umringten uns und küßten unser Knie

Und schwuren, nie uns zu verlassen.

Tief

Gerührt stand Zimeo, die Augen jetzt

Auf uns, dann auf die Sklaven wendend, dann

Zum Himmel: »Mächtiger Orissa, der

Die Schwarzen und die Weißen schuf, o sieh,

Sieh auf die wahren Menschen; dann bestrafe

Die Frevler! – Reicht mir eure Hand! –[243]

Von nun an

Will ich zwei Weiße lieben.«

Nieder warf er

Auf eine Matte sich im Schatten. »Hört

Den unglücksel'gen Zimeo! Er ist

Nicht grausam! Beim Orissa! nicht, nur tief

Unglücklich.« – Laut aufschluchzend hielt er ein.

Da stürzten zu ihm zwei von unsern Sklaven:

»Wir kennen dich, Sohn unsres Königes,

Des mächt'gen Damiels. Ich sah dich oft

Zu Benin.« – »Ich zu Onebo.« – Sie traten

Zurück. – Er rief sie freundlich zu sich: »Bleibt,

Ihr meine Landesleute, bleibt mir nah!

Zum ersten Male wird Jamaikas Luft

Mir angenehm, da ich mit Euch sie atme.«

Er faßte sich und sprach: »Ihr Friedensmänner,

Hört meine Qual. Mein Vater sandte mich,

Daß mich des Hofes Schmeicheleien nicht

Verderbeten, zum Dorfe Onebo.

Ein fleißig Dorf von Ackerleuten. Da

Erzog Matomba mich, der weiseste

Der Menschen. Ach, verloren ist er mir

Und seine Tochter, meine Elavo,

Mein Weib.« Er weinete; dann fuhr er fort:

»Ihr Weiße habt nur eine halbe Seele,

Die nicht zu lieben, nicht zu hassen weiß.

Nur Gold ist eure Leidenschaft. – Doch höret! –

Als ich in Onebo (o schönes Land

Voll süßester Erinnrung!) mit Matomba,

Ein Ackersmann, und froh und glücklich war

Mit meiner Elavo im ersten Traum

Der Liebe, sieh, da kam ein schwarzes Schiff

Der Portugiesen an die Küste. Oh,

Hätt ich es nie gesehn! Zu Benin werden[244]

Verbrecher nur verkauft. Zu Onebo

War kein Verbrecher. – Also luden uns

Die Räuber auf ihr Schiff. Ein Fest begann;

Musik erklang, ein Tanz. – Noch hör ich ihn,

Den fürchterlichen Schuß der Abfahrt, mitten

In der Musik. Man lichtete die Anker;

Die Küste floh, sie floh. Da half kein Flehn,

Kein Bitten, Rufen! Ach verschone mich,

Du Angedenken! – Hartgefesselt lagen

In tiefem Gram, in schwarzer Trauer wir.

Drei Jünglinge von Benin nahmen sich

Das Leben; ich nahm mir es nicht, um meiner

Geliebten Elavo, um meines guten

Matomba willen. ›Ihnen kannst du doch

Vielleicht noch helfen‹, dacht ich ›sie verlassen,

Das kannst du nicht.‹ Ihr Anblick gab mir Trost.

So kamen wir nach vielen Leiden in

Den Hafen. Und, o bittrer Augenblick!

Da wurden wir getrennt. Vergebens warf

Mein Weib, ihr Vater sich dem Ungeheur

Zu Füßen; ich mit ihnen. Wilden Blicks

Stürzt, Elavo auf mich; ich faßte sie

Mit eiserm Arm. Umsonst! Man riß sie los.

Noch hör ich ihr Geschrei! ich seh ihr Bild!

Sie trug ein Kind von mir in ihrem Schoß. –

Ich seh Matomba!« –

Plötzlich stürzte Franz,

Mein guter Franz, den von den Spaniern

Aus Mitleid über seine Qualen ich

Mit seiner schönen Tochter losgekauft

Und mit mir hergeführt (er war bisher

Im Innersten des Hauses zur Bedeckung

Der Fraun gewesen), plötzlich stürzte Franz

Mit Mariannen hin auf Zimeo.

»Matomba! Elavo!« – »Mein Zimeo![245]

Sieh deinen Sohn! – Um seinetwillen nur

Ertrugen wir das Leben, bis wir hier

Die Guten fanden. Zimeo! Dein Sohn!« –

Er nahm das Kind in seinen Arm. »Er soll

Kein Sklave eines Weißen werden, er,

Der Sohn, den Elavo gebar.«

»Ohn ihn

Hätt ich die Welt schon längst verlassen,« sprach

Die Weinende, »jetzt hab ich dich und ihn!«

Wer spricht das Wiedersehn der Liebenden,

Die kaum einander mehr zu sehen hofften,

Mit Worten aus? Des Vaters Auge, das

Vom Säugling auf die Mutter, auf Matomba

Und dann zum Himmel flog und wieder dann

Sanft auf dem Kinde ruhte. Herzensdank,

Wie nie ein Weißer ihn ausdrücken mag,

Wahnsinn des Dankes sageten sie uns,

Und schieden zum Gebürg. O führete

Ein freundlich Schiff sie bald zum Vater, der

Den Sohn beweinet, hingen Onebo,

Den Ort der ersten Liebe, in die Luft

Des süßen Vaterlandes Benin!


Der Geburtstag

Am Delaware feierte ein Freund248,

Ein Quacker, Walter Miflin, seinen Tag

Des Lebens so:

»Wie alt bist du, mein Freund?«

»Fast dreißig Jahre,« sprach der Neger.

»Nun,

So bin ich dir neun Jahre schuldig; denn[246]

Im einundzwanzigsten spricht das Gesetz

Dich mündig. Menschheit und Religion

Spricht dich gleich allen weißen Menschen frei.

In jenem Zimmer schreibet dir mein Sohn

Den Freiheitbrief; und ich vergüte dir

Das Kapital, das in neun Jahren du

Verdienetest, landüblich, acht Prozent.

Du bist so frei als ich, nur unter Gott

Und unter dem Gesetz. Sei fromm und fleißig!

Im Unglück oder Armut findest du

An Walter Miflin immer deinen Freund.«


»Herr, lieber Herr!« antwortet Jakob, »was

Soll ich mit meiner Freiheit tun? Ich bin

Bei Euch geboren, ward von Euch erzogen,

Arbeitete mit Euch und aß wie Ihr.

Mir mangelt nichts. In Krankheit pflegete

Mich Eure Frau als Mutter, tröstete

Mich liebreich. Wenn ich denn nun krank bin« –

»Jakob!

Du bist ein freier Mann, arbeite jetzt

Um höhern Lohn; dann kaufe dir ein Land.

Nimm eine Negerin, die dir gefällt,

Die fleißig und verständig ist wie du,

Zur Frau und lebe mit ihr glücklich. Wie

Ich dich erzogen, zieh auch deine Kinder

Zum Guten auf und stirb in Friede. – Frei

Bist du und mußt es sein. Die Freiheit ist

Das höchste Gut. Gott ist der Menschen, nicht

Allein der Weißen Vater. Gäb er doch

In aller meiner Brüder Sinn und Herz,

Nach Afrika zu handeln, nicht daraus

Euch zu entwenden, euch zu kaufen und

Zu quälen!« – »Guter Herr, ich kann Euch nicht

Verlassen; denn nie war ich Euer Sklav.

Ihr fodertet nicht mehr von mir, als andre[247]

Für sich arbeiten. Ich war glücklicher

Und reicher als so viele Weiße. Laßt

Mich bei Euch, lieber Herr.«

»So bleibe dann

In meinem Dienst, du guter Jakob, doch

Als freier Mann! Du feierst diese Woche

Dein Freiheitfest, und dann arbeitest du,

So lange dir's gefällt, um guten Lohn

Bei mir, bis ich dich treu versorge. Sei

Mein Freund! Jakob.«

Der Schwarze drückt' die Hand

Des guten Walter Miflins an sein Herz:

»So lange dieses schläget, schlägt's für Euch!

Nur heute feiren wir, und morgen frisch

Zur Arbeit! Freud und Fleiß ist unser Fest.«


Ging schöner je die Sonne nieder als

Denselben Tag am Delawarestrom?

Jedoch ihr schönster Glanz war in der Brust

Des guten Mannes, der für kein Geschenk,

Der nur für Pflicht hielt seine gute Tat.


115.

Allerdings eine gefährliche Gabe, Macht ohne Güte, erfindungsreiche Schlauigkeit ohne Verstand. Nur können, haben, herrschen, genießen will der verdorben-kultivierte Mensch, ohne zu überlegen, wozu er könne, was er habe und ob, was er Genuß nenne, nicht zuletzt eine Ertötung alles Genusses werde. Welche Philosophie wird die Nationen Europas von dem Stein des Sisyphus, vom Rade Ixions erlösen, dazu sie eine lüsterne Politik verdammt hat?

In Romanen beweinen wir den Schmetterling, dem der Regen die Flügel netzt; in Gesprächen kochen wir von großen Gesinnungen über; und für jene moralische Verfallenheit[248] unsres Geschlechts, aus der alles Übel entspringt, haben wir kein Auge. Dem Geiz, dem Stolz, unsrer trägen Langenweile schlachten wir tausend Opfer, die uns keine Träne kosten. Man hört von dreißigtausend um nichts auf dem Platz gebliebenen Menschen, wie man von herabgeschüttelten Maikäfern, von einem verhagelten Fruchtfelde hört, und wird den letzten Unfall vielleicht mehr als jene bedauren. Oder man tadelt, was in Peru, Ismail, Warschau geschah, indem man, sobald unser Vorurteil, unsre Habsucht dabei ins Spiel kommt, ein Gleiches und ein Ärgeres mit verbissenem Zorn wünschet.

So ist's freilich. Es ist ein bekannter und trauriger Spruch, daß das menschliche Geschlecht nie weniger liebenswert erscheine, als wenn es nationenweise aufeinander wirket.

Sind aber auch die Maschinen, die so aufeinander wirken, Nationen, oder mißbraucht man ihren Namen?

Die Natur geht von Familien aus. Familien schließen sich aneinander; sie bilden einen Baum mit Zweigen, Stamm und Wurzeln Jede Wurzel gräbt sich in den Boden und suchet ihre Nahrung in der Erde, wie jeder Zweig bis zum Gipfel sie in der Luft sucht. Sie laufen nicht auseinander; sie stürzen nicht übereinander.

Die Natur hat Völker durch Sprache, Sitten, Gebräuche, oft durch Berge, Meere, Ströme und Wüsten getrennt; sie tat gleichsam alles, damit sie lange voneinander gesondert blieben und in sich selbst bekleibten. Eben jenes Nimrods weltvereinigendem Entwurf zuwider, wurden (wie die alte Sage sagt) die Sprachen verwirrt; es trenneten sich die Völker. Die Verschiedenheit der Sprachen, Sitten, Neigungen und Lebensweisen sollte ein Riegel gegen die anmaßende Verkettung der Völker, ein Damm gegen fremde Überschwemmungen werden; denn dem Haushalter der Welt war daran gelegen, daß zur Sicherheit des Ganzen jedes Volk und Geschlecht sein[249] Gepräge, seinen Charakter erhielt. Völker sollten nebeneinander, nicht durch- und übereinander drückend wohnen.

Keine Leidenschaften wirken daher in allem Lebendigen so mächtig, als die auf Selbstverteidigung hinausgehn. Mit Lebensgefahr, mit vielfach-verdoppelten Kräften schützt eine Henne ihre Jungen gegen Geier und Habicht; sie hat sich selbst, sie hat ihre Schwäche vergessen und fühlt sich nur als Mutter ihres Geschlechts, eines jungen Volkes. So alle Nationen, die man Wilde nennt; mögen sie sich gegen fremde Besucher mit List oder mit Gewalt verteidigen. Armselige Denkart, die ihnen dies verübelt, ja gar die Völker nach der Sanftmut, mit der sie sich betrügen und fangen lassen, klassifizieret.249 Gehörte ihnen nicht ihr Land? und ist's nicht die größeste Ehre, die sie dem Europäer gönnen können, wenn sie ihn bei ihrem Mahl verzehren? Um in Büschings Geographie genauer aufgezeichnet zu stehn, um in gestochenen Kupfern den müßigen Europäer zu ergötzen und mit den Produkten ihres Landes den Geiz einer Handelsgesellschaft zu bereichern: ich weiß nicht, warum sie Sich dazu sollten geschaffen glauben.

Leider ist's also wahr, daß eine Reihe Schriften, englisch, französisch, spanisch und deutsch, in diesem anmaßenden, habsüchtigen Eigendünkel verfasset, zwar europäisch, aber gewiß nicht menschlich geschrieben sei'n; die Nation ist bekannt, die sich hierin ganz zweifellos äußert: »Rule, Britannia, rule the waves«; mit diesem Wahlspruch, glaubt mancher, sei'n ihnen die Küsten, die Länder, die Nationen und Reichtümer der Welt gegeben. Der Captain und sein Matrose[250] sei'n die Haupträder der Schöpfung, durch welche die Vorsehung ihr ewiges Werk ausschließend zur Ehre der britischen Nation und zum Vorteil der Indischen Companie bewirket. Politisch und fürs Parlament mögen solche Berechnungen und Selbstschätzungen gelten; dem Sinn und Gefühl der Menschheit sind sie unerträglich.250 Vollends wenn wir arme, schuldlose Deutsche hierin den Briten nachsprechen – Jammer und Elend!

Was soll überhaupt eine Messung aller Völker nach uns Europäern? wo ist das Mittel der Vergleichung? Jene Nation, die ihr wild oder barbarisch nennt, ist im wesentlichen viel menschlicher als ihr; und wo sie unter dem Druck des Klima erlag, wo eine eigne Organisation oder besondre Umstände im Lauf ihrer Geschichte ihr die Sinne verrückten, da schlage sich doch jeder an die Brust und suche den Querbalken seines eignen Gehirnes. Alle Schriften, die den an sich schon unerträglichen Stolz der Europäer durch schiefe, unerwiesene oder offenbar unerweisbare Behauptungen nähren – verachtend wirft sie der Genius der Menschheit zurück und spricht: »Ein Unmensch hat sie geschrieben!«

Ihr edleren Menschen, von welchem Volk ihr seid, Las[251] Casas, Fénelon, ihr beiden guten St. Pierre, so mancher ehrliche Quacker, Montesquieu, Filangieri, deren Grundsätze nicht auf Verachtung, sondern auf Schätzung und Glückseligkeit aller Menschennationen hinausgehn; ihr Reisenden, die ihr euch, wie Pagès und andre, in die Sitten und Lebensart mehrerer, ja aller Nationen zu setzen wußtet und es nicht unwert fandet, unsre Erde wie eine Kugel zu betrachten, auf der mit allen Klimaten und Erzeugnissen der Klimate auch mancherlei Völker in jedem Zustande sein müssen und sein werden; Vertreter und Schutzengel der Menschheit, wer aus eurer Mitte, von eurer heilbringenden Denkart gibt uns eine Geschichte derselben, wie wir sie bedürfen?


Nachschrift des Herausgebers

Da es verschiedenen Lesern angenehm sein möchte, etwas mehr von den ebengenannten Vorsprechern der Menschheit zu wissen als ihre Namen, so füge ich zu Erläuterung des Briefes dies wenige bei:

De Las Casas (Fray Bartolomé), Bischof von Chiapa, war der edle Mann, der nicht nur in seiner kurzen Erzählung von der Zerstörung von Indien, sondern auch in Schriften an die höchsten Gerichte und an den König selbst die Greuel ans Licht stellte, die seine Spanier gegen die Eingebornen Indiens verübten. Man warf ihm Übertreibung und eine glühende Einbildungskraft vor; der Lüge aber hat ihn niemand überwiesen. Und warum sollte das, was man glühende Einbildungskraft nennet, nicht lieber ein edles Feuer des Mitgefühls mit den Unglücklichen gewesen sein, ohne welches er freilich nicht, auch nicht also geschrieben hätte. Die Zeit hat ihn gerechtfertigt und seinen Gegner Sepulveda mehr als ihn der Unwahrheit überwiesen. Daß er mit seinen Vorstellungen nicht viel ausgerichtet hat, vermindert sein Verdienst nicht; Friede sei mit seiner Asche![252]

Fénelons billige und liebreiche Denkart ist allbekannt. So eifrig er an seiner Kirche hing und deshalb über die Protestanten hart urteilte,251 weil er sie nicht kannte, so sehr verabscheuete er, selbst als Missionar zu Bekehrung derselben, ihre Verfolgung. »Vor allen Dingen,« sagt er zum Ritter St. Georg, »zwingt Eure Untertanen nie, ihre Weise des Gottesdienstes zu ändern. Eine menschliche Macht ist nicht imstande, die undurchdringliche Brustwehr, Freiheit des Herzens, zu überwältigen. Sie macht nur Heuchler. Wenn Könige, statt sie zu beschützen, sich in die Gottesverehrung gebietend mengen, so bringen sie dieselben in Knechtschaft.«

In seiner »Anweisung, das Gewissen eines Königes zu leiten,«252 gibt er Ratschläge, die, wenn sie befolgt würden, jeder Revolution zuvorkämen. Ich führe von ihnen nur einige an, bloß wie sie der vorstehende Brief fodert:

»Habt ihr das wahre Bedürfniss eures Staats gründlich untersucht und mit dem Unangenehmen der Auflage zusammengehalten, ehe ihr euer Volk damit beschwert? Habt ihr nicht Notdurft des Staats genannt, was bloß euere persönliche Anmaßung war?- Persönliche Prätensionen habt ihr bloß auf euere Privatkosten geltend zu machen und höchstens das zu erwarten, was die reine Liebe eueres Volks freiwillig dazu beiträgt. Als Karl VIII. nach Neapel ging, unternahm er den Krieg auf seine Kosten; der Staat glaubte sich zu Unternehmung nicht verbunden.

Habt ihr auswärtigen Nationen kein Unrecht zugefügt? Ein armer Unglücklicher kommt an den Galgen, weil er in höchster Not auf der Landstraße einige Taler raubte, und ein Eroberer, der ist ein Mann, der ungerechterweise dem Nachbar Länder wegnimmt, wird als ein Held gepriesen. Eine[253] Wiese oder einen Weinberg unbefugt zu nutzen, wird als eine unerläßliche Sünde angesehen, im Fall man den Schaden nicht ersetzt; Städte und Provinzen zu usurpieren, rechnet man für nichts. Dem einzelnen Nachbar ein Feld wegnehmen ist ein Verbrechen; einer Nation ein Land wegnehmen ist eine unschuldige, ruhmbringende Handlung. Wo ist hier Gerechtigkeit? Wird Gott so richten ? ›Glaubst Du, daß ich sein werde wie Du?‹ Muß man nur im Kleinen, nicht im Großen gerecht sein? Millionen Menschen, die eine Nation ausmachen, sind sie weniger unsre Brüder als ein Mensch? Darf man Millionen ein Unrecht über Provinzen tun, das man einem einzelnen über eine Wiese nicht tun dörfte? Zwingt ihr, weil ihr der stärkere seid, einen Nachbar, den von Euch vorgeschriebenen Frieden zu unterzeichnen, damit er größeren Übeln aus dem Wege gehe, so unterzeichnet er, wie der Reisende dem Straßenräuber den Beutel reicht, weil ihm das Pistol vor der Brust stehet.

Friedensschlüsse sind nichtig, nicht nur wenn in ihnen die Übermacht Ungerechtigkeiten erpreßt hat, sondern auch wenn sie mit Hinterlist zweideutig abgefaßt werden, um eine günstige Zweideutigkeit gelegentlich geltend zu machen. Euer Feind ist euer Bruder; das könnt ihr nicht vergessen, ohne auf die Menschheit selbst Verzicht zu tun. Bei Friedensschlüssen ist nicht mehr von Waffen und Krieg, sondern von Friede, von Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Treu und Glauben die Rede. Im Friedensschluß ein nachbarliches Volk zu betrügen ist ehrloser und strafbarer, als im Kontrakt eine Privatperson zu hintergehen. Mit Zweideutigkeiten und verfänglichen Ausdrücken im Friedensschloß bereitet man schon den Samen zu künftigen Kriegen, d.i., man bringt Pulverfässer unter Häuser, die man bewohnet.

Als die Frage vom Kriege war, habt ihr untersucht und untersuchen lassen, was ihr für Recht dazu hattet, und dies zwar von den Verständigsten, die euch am wenigsten schmeicheln? Oder hattet ihr nicht eure persönliche Ehre dabei im Auge, doch etwas unternommen zu haben, was euch von[254] andern Fürsten unterschiede? Als ob es Fürsten eine Ehre wäre, das Glück der Völker zu stören, deren Väter sie sein sollen! Als ob ein Hausvater durch Handlungen, die seine Kinder unglücklich machen, sich Achtung erwürbe! Als ob ein König anderswoher Ruhm zu hoffen hätte als von der Tugend, d.i. von der Gerechtigkeit und von einer guten Regierung seines Volks!« –

Dies sind einige der sechsunddreißig Artikel Fénelons, die allen Vätern des Volks Morgen- und Abendlektion sein sollten. Zu gleichem Zweck sind seine »Gespräche,« sein »Telemach,« ja alle seine Schriften geschrieben; der Genius der Menschlichkeit spricht in ihnen ohne Künstelei und Zierat. »Ich liebe meine Familie,« sagt der edle Mann, »mehr als mich, mehr als meine Familie mein Vaterland, mehr als mein Vaterland die Menschheit.«


Der Abt St.-Pierre ist ungerechterweise fast durch nichts als durch sein Projekt zum ewigen Frieden bekannt, eine sehr gutmütige, ja edle Schwachheit, die doch so ganz Schwachheit nicht ist, als man meinet. In diesem Vorschlage sowohl als in manchen andern war er mit Fleiß etwas pedantisch; er wiederholte sich, damit, wie er sagte, wenn man ihn zehnmal überhört hätte, man ihn das eilftemal anhöre; er schrieb trocken und wollte nicht vergnügen.253

Schwerlich gibt's eine honettere Denkart, als die der Abt St.-Pierre in allen Schriften äußert. Allgemeine Vernunft und Gerechtigkeit, Tugend und Wohltätigkeit waren ihm die Regel, die Tendenz unsres Geschlechts und dessen Wahlspruch: donner et pardonner, geben und vergeben. Dazu las, dazu sah und hörte er ohne Anmaßung. »Eine Eintrittsrede in die Akademie,« sagte er, »verdient höchstens zwei Stunden[255] die man darauf wendet; ich habe vier darauf gewandt und denke, das sei honett gnug; unsre Zeit gehört dem Nutzen des Staates.« –

Über den körperlichen Schmerz dachte er nicht wie ein Stoiker, sondern hielt ihn für ein wahres, ja vielleicht für das einzige Übel, das die Vernunft weder abwenden noch schwächen könne; die meisten andern Übel, meinte er, sein abwendbar oder nur von einem eingebildeten Werte. Seine Mitmenschen des Schmerzes zu überheben, sei die reichste Wohltat. –

»Man ist nicht verbunden, andre zu amüsieren, wohl aber niemand zu betrügen«; und so befliß er sich aufs strengste der Wahrheit.

Einzig beschäftigt, das hinwegzubringen, was dem gemeinen Wohl schadete, war er ein Feind der Kriege, des Kriegesruhms und jeder Bedrückung des Volkes; dennoch aber glaubte er, daß die Welt durch die schrecklichen Kriege der Römer weniger gelitten habe als durch die Tibere, die Neronen. »Ich weiß nicht,« sagt er, »ob Caligula, Domitian und ihresgleichen Götter waren; das nur weiß ich, Menschen waren sie nicht. Ich glaube wohl, daß man sie bei ihren Lebzeiten über das Gute, das sie stifteten, gnug mag gepriesen haben; einzig schade nur, daß ihre Völker von diesem Guten nichts gewahr wurden.« Er hatte oft die schöne Maxime Franz, des Ersten im Munde: »Regenten gebieten den Völkern, die Gesetze den Regenten.«

Da er nicht heiraten dorfte, so erzog er Kinder, ohne alle Eitelkeit, nur zum Nützlichen, zum Besten. Er freuete sich auf eine Zeit, da, von Vorurteilen frei, der einfältigste Kapuziner soviel wissen würde als der geschickteste Jesuit, und hielt diese Zeit, so lange man sie auch verspätete, für unhintertreiblich. Trägheit und böse Gewohnheiten der Menschen, vorzüglich aber den Despotismus klagte er als mutwillige Ursachen dieses Aufhaltens an; denn auch die Wissenschaften, meinte er, liebe man nur unter der Bedingung, daß sie dem Volk nicht zugut kämen. So sagte jener Kartäuser, als ein[256] Fremder seine Kartause, wie schön sie sei, lobte: »Für die Vorbeigehenden ist sie allerdings schön.« –

Eine andre Ursache der Verspätung des Guten in der Welt fand St.-Pierre darin, daß so wenig Menschen wüßten, was sie wollten, und unter diesen noch weniger das Herz hätten, zu wissen, daß sie es wissen; zu wollen, was sie wollen. Selbst über die gleichgültigsten Dinge der Literatur folge man angenommenen fremden Meinungen und habe nicht das Herz, zu sagen, was man selbst denket; hiegegen, meint er, sei nur ein Mittel, daß jeder Mann von Wissenschaft ein Testament mache und sich wenigstens nach seinem Tode wahr zu sein getraue. –

Er schrieb eine Abhandlung, wie »auch Predigten nützlich werden könnten,« und war insonderheit der mahometanischen Religion feind, weil sie die Unwissenheit aus Grundsätzen begünstigt und die Völker tierisch macht (abrutieret).

Christliche Verfolger, meinte er, müsse man als Narren aufs Theater bringen, wenn man sie nicht als Unsinnige einsperren wollte.

Hinter seine Abhandlungen setzte er oft die Devise: »Paradis aux Bienfaisans!,« und gewiß genoß dieser bis an seinen letzten Augenblick gleich- und wohldenkende Mann dieses innern Paradieses. Als man ihn in den letzten Zügen fragte, ob er nicht noch etwas zu sagen habe, sagte er: »Ein Sterbender hat wenig zu sagen, wenn er nicht aus Eitelkeit oder aus Schwäche redet.« – Lebend sprach er nie aus diesen Gründen, und o möchte einst jeder Buchstab von dem, das er damals in einem engen Nationalgesichtskreise schrieb, im weitesten Umfange erfüllet werden! Nach seiner Überzeugung wird er's werden.254


Sein Namensgenannter, Bernardin de St.-Pierre, ein echter Schüler Fénelons, hat jede seiner Schriften bis zur kleinsten Erzählung im Geist der Menschenliebe und Einfalt des Herzens geschrieben. Gern verbindet er die Natur mit der Geschichte der Menschen, deren Gutes er so froh, deren Böses er[257] allenthalben mit Milde erzählet. »Ich werde glauben,« sagt er,255 »dem menschlichen Geschlecht genutzt zu haben, wenn das schwache Gemälde vom Zustande der unglücklichen Schwarzen ihnen einen einzigen Peitschenschlag ersparen kann und die Europäer (sie, die in Europa wider die Tyrannei eifern und so schöne moralische Abhandlungen ausarbeiten) aufhören, in Indien die grausamsten Tyrannen zu sein.« In gleich edelm Sinn sind sein »Paul und Virginie,« das »Kaffeehaus von Surate,« »Die indische Strohhütte« und die »Studien der Natur« geschrieben.256 Mit Seelen dieser Art lebt man so gern und freuet sich, daß ihrer noch einige da sind.


Die Quacker, an welche der Brief denkt, bringen von Penn an eine Reihe der verdienstvollesten Männer in Erinnerung, die zum Besten unsres Geschlechts mehr getan haben als tausend Helden und pomphafte Weltverbesserer. Die tätigsten Bemühungen zu Abschaffung des schändlichen Negerhandels und Sklavendienstes sind ihr Werk; wobei indes überhaupt auch Methodisten und Presbyterianern, jeder schwachen oder starken Stimme jedes Landes ihr Verdienst bleibt, wenn sie taubsten Ohren und härtesten Menschenherzen, geizigen Handelsleuten, hierüber etwas zurief. Eine Geschichte des aufgehobenen Negerhandels und der abgestelleten Sklaverei in allen Weltteilen wird einst ein schönes Denkmal im Vorhofe des Tempels allgemeiner Menschlichkeit sein, dessen Bau künftigen Zeiten bevorstehet; mehrere Quacker-Namen werden an den Pfeilern dieses Vorhofes mit stillem Ruhm glänzen. In unserm Jahrhundert scheint's die erste Pflicht zu sein, den Geist der Frivolität zu verbannen, der alles wahrhaft Gute und Große vernichtet. Dies taten die Quacker.[258]

Montesquieu verdiente unter den Beförderern des Wohls der Menschen genannt zu werden; denn seine Grundsätze haben über die Mode hinaus Gutes verbreitet, gesetzt, daß er auch den ganzen Lobspruch, den ihm Voltaire gab,257 nicht hätte erreichen mögen. Am Willen des edeln Mannes lag es nicht; viele Kapitel seines Werks sind, wie die Aufschrift desselben sagt, flores sine semine nati, Blumen, denen es an einem Boden und an echten Samenkörnern gebrach; eine Menge derselben aber sind heilbringende Blumen und Früchte Auch seinen »Persischen Briefen,« seiner Schrift »Über die Größe und den verfall der Römer,« ja seinen kleinsten Aufsätzen fehlet es daran nicht; mehrere Kapitel seines Werks »Vom Geist der Gesetze« sind in aller Gedächtnis. Montesquieu hat viele und große Schüler gehabt; auch der gute Filangieri ist in der Zahl.258

Da der vorstehende Brief der Schotten und Engländer, eines Bacon, Harrington, Milton, Sidney, Locke, Ferguson, Smith, Millar und anderer, nicht erwähnt, ohne Zweifel weil er einen vielgepriesenen Ruhm nicht wiederholen wollte, dagegen aber einige neapolitanische Schriftsteller nennet, so sei es erlaubt, das ziemlich vergessene Andenken eines Mannes zu erneuern, der zu einer Schule menschlicher Wissenschaft im echten Sinne des Worts an seinem Ort vor andern den Grund legte, Giambattista Vico. Ein Kenner und Bewunderer der Alten, ging er ihren Fußtapfen nach, indem er in der Physik, Moral, im Recht und im Recht der Völker gemeinschaftliche Grundsätze suchte Plato, Tacitus, unter den Neuen Bacon und Grotius waren, wie er selbst sagt, seine Lieblingsautoren; in seiner[259] »Neuen Wissenschaft«259 suchte er das Principium der Humanität der Völker (dell' umanità delle Nazioni) und fand dies in der Voraussicht (provvedenza) und Weisheit. Alle Elemente der Wissenschaft göttlicher und menschlicher Dinge setzte er in Kennen, Wollen, Vermögen (nosse, velle, posse), deren einziges Principium der Verstand, dessen Auge die Vernunft sei, vom Lichte der ewigen Wahrheit erleuchtet. – Er gründete den Katheder dieser Wissenschaften in Neapel, den nachher Genovesi, Galanti betraten;260 über die Philosophie der Menschheit, über die Haushaltung der Völker haben wir treffliche Werke aus jener Gegend erhalten, da Freiheit im Denken vor allen Ländern in Italien die Küste von Neapel beglücket und werthält.


116.

Sie wünschen eine Naturgeschichte der Menschheit in rein menschlichem Sinne geschrieben: ich wünsche sie auch; denn darüber sind wir einig, daß eine zusammengelesene Beschreibung der Völker nach sogenannten Rassen, Varietäten, Spielarten[260] Begattungsweisen u.f. diesen Namen noch nicht verdiene. Lassen Sie mich den Traum einer solchen Geschichte verfolgen.

1. Vor allem sei man unparteiisch wie der Genius der Menschheit selbst; man habe keinen Lieblingsstamm, kein Favoritvolk auf der Erde. Leicht verführt eine solche Vorliebe, daß man der begünstigten Nation zu viel Gutes, andern zu viel Böses zuschreibe. Wäre vollends das geliebte Volk bloß ein kollektiver Name (Kelten, Semiten, Kuschiten u.f.), der vielleicht nirgend existiert hat, dessen Abstammung und Fortpflanzung man nicht erweisen kann, so hätte man ins Blaue des Himmels geschrieben.

2. Noch minder beleidige man verachtend irgendeine Völkerschaft, die uns nie beleidigt hat. Wenn Schriftsteller auch nicht hoffen dörften, daß die guten Grundsätze, die sie verbreiten, überall schnellen Eingang finden, so ist die Hut, gefährliche Grundsätze zu veranlassen, ihnen die größeste Pflicht. Um schwarze Taten, wilde Neigungen zu rechtfertigen, stützt man sich gern auf verachtende Urteile über andre Völker. Papst Niklas der Fünfte hat (es ist schon lange) die unbekannte Welt verschenkt; den weißen und edleren Menschen hat er alle Ungläubige zu Sklaven zu machen, pontifikalisch erlaubet. Mit unsern Bullen kommen wir zu spät. Der Kakistokratismus behauptet praktisch seine Rechte, ohne daß wir ihn dazu theoretisch bevollmächtigen und deshalb die Geschichte der Menschheit umkehren müßten. Äußerte z.B. jemand die Meinung, daß, »wenn erwiesen werden kann, daß ohne Neger keine Kaffee-, Zucker-, Reis- und Tobakspflanzungen bestehen können, so sei zugleich die Rechtmäßigkeit des Negerhandels bewiesen, indem dieser Handel dem ganzen menschlichen Geschlecht, d.i. den weißen, edleren Menschen, mehr zum Vorteil als zum Nachteil gereichet,« so zerstörte ein Grundsatz der Art sofort die ganze Geschichte der Menschheit. Ad maiorem Dei gloriam privilegierte er die frechsten[261] Anmaßungen, die grausamsten Usurpationen. Gebe man doch keinem Volk der Erde den Zepter über andre Völker wegen »angeborner Vornehmigkeit« in die Hände, viel weniger das Schwert und die Sklavenpeitsche.

3. Der Naturforscher setzt keine Rangordnung unter den Geschöpfen voraus, die er betrachtet; alle sind ihm gleich lieb und wert. So auch der Naturforscher der Menschheit. Der Neger hat so viel Recht, den Weißen für eine Abart, einen gebornen Kakerlaken zu halten, als wenn der Weiße ihn für eine Bestie, für ein schwarzes Tier hält. So der Amerikaner, so der Mungale. In jener Periode, da sich alles bildete, hat die Natur den Menschentypus so vielfach ausgebildet, als ihre Werkstatt es erforderte und zuließ. Nicht verschiedene Keime261 (ein leeres und der Menschenbildung widersprechendes Wort), aber verschiedne Kräfte hat sie in verschiedner Proportion ausgebildet, so viel deren in ihrem Typus lagen und die verschiednen Klimate der Erde ausbilden konnten. Der Neger, der Amerikaner, der Mongol hat Gaben, Geschicklichkeiten, präformierte Anlagen, die der Europäer nicht hat. Vielleicht ist die Summe gleich; nur in verschiednen Verhältnissen und Kompensationen. Wir können gewiß sein, daß, was sich im Menschentypus auf unsrer runden Erde entwickeln konnte, entwickelt hat oder entwickeln werde; denn wer könnte es daran verhindern? Das Urbild, der Prototyp der Menschheit, liegt also nicht in einer Nation eines Erdstriches; er ist der abgezogne Begriff von allen Exemplaren der Menschennatur in beiden Hemisphären. Der Cherokese und Huswana, der Mungal und Gonaqua ist sowohl ein Buchstab im großen Wort unsres Geschlechts als der gebildetste Engländer und Franzose.

4. Jede Nation muß also einzig auf ihrer Stelle, mit allem, was sie ist und hat, betrachtet werden; willkürliche Sonderungen, Verwerfungen einzelner Züge und Gebräuche durcheinander geben keine Geschichte. Bei solchen Sammlungen tritt[262] man in ein Beinhaus, in eine Gerät- und Kleiderkammer der Völker, nicht aber in die lebendige Schöpfung, in jenen großen Garten, in dem Völker wie Gewächse erwuchsen, zu dem sie gehören, in dem alles, Luft, Erde, Wasser, Sonne, Licht, selbst die Raupe, die auf ihnen kriecht, und der Wurm, der sie verzehrt, zu ihnen gehöret.262 Lebendige Haushaltung ist der Begriff der Natur, wie bei allen Organisationen, so bei der vielgestaltigen Menschheit. Leid und Freude, Mangel und Habe, Unwissenheit und Bewußtsein stehen im Buch der großen Haushälterin nebeneinander und sind gegeneinander berechnet.

5. Am wenigsten kann also unsre europäische Kultur das Maß allgemeiner Menschengüte und Menschenwertes sein; sie ist kein oder ein falscher Maßstab. Europäische Kultur ist ein abgezogener Begriff, ein Name. Wo existiert sie ganz? bei welchem Volk? in welchen Zeiten? Überdem sind mit ihr (wer darf es leugnen?) so viele Mängel und Schwächen, so viele Verzuckungen und Abscheulichkeiten verbunden, daß nur ein ungütiges Wesen diese Veranlassungen höherer Kultur zu einem Gesamtzustande unsres ganzen Geschlechts machen könnte. Die Kultur der Menschheit ist eine andre Sache; ort- und zeitmäßig sprießt sie allenthalben hervor, hier reicher und üppiger, dort ärmer und kärger. Der Genius der Menschennaturgeschichte lebt in und mit jedem Volk, als ob dies das einzige auf Erden wäre.

6. Und er lebt in ihm menschlich. Alle Absonderungen und Zergliederungen, durch die der Charakter unsres Geschlechts zerstört wird, geben halbe oder Wahnbegriffe, Spekulationen. Auch der Pescheräh ist ein Mensch; auch der Albinos. Lebensweise (habitus) ist's, was eine Gattung bestimmt; in unsrer vielartigen Menschheit ist sie äußerst verschieden. Und doch ist zuletzt alles an wenige Punkte geknüpfet; in der größesten[263] Verschiedenheit zeigt sich die einfachste Ordnung. Der Neger offenbart sich in seinem Fußtritt wie der Hindu in seiner Fingerspitze; so beide in Liebe und Haß, im kleinsten und größesten Geschäfte. Ein durchschauendes Wesen, das jede mögliche Abänderung des Menschentypus nach Situationen unsres Erdballs genetisch erkennete, würde aus wenig gegebnen Merkmalen die Summe der ganzen Konformation und des ganzen Habitus eines Volks, eines Stammes, eines Individuums leicht finden.

Zu dieser Anerkennung der Menschheit im Menschen führen treue Reisebeschreibungen viel sicherer als Systeme. Mich freuete es, daß Ihr Brief263 unter denen, die sich in die Sitten fremder Völkerschaften innig versetzt, auch Pages nannte.264 Man lese seine Gemälde vom Charakter mehrerer Nationen in Amerika,265 der Völker auf den Philippinen,266 und was er vom Betragen der Europäer gegen sie hie und da urteilt, wie er sich der Denkart der Hindus, der Araber, der Drusen u.f. auch durch Teilnahme an ihrer Lebensweise gleichsam einzuverleiben suchte.267 – Reisebeschreibungen solcher Art, deren wir (Dank sei es der Menschheit!) viele haben268, erweitern den Gesichtskreis und vervielfältigen die Empfindung für jede Situation unsrer Brüder. Ohne darüber ein Wort zu verlieren, predigen sie Mitgefühl, Duldung, Entschuldigung,[264] Lob, Bedauren, vielseitige Kultur des Gemüts, Zufriedenheit, Weisheit. Freilich sucht auch in Reisebeschreibungen, wie auf Reisen, jeder das Seine. Der Niedrige sucht schlechte Gesellschaft, und da wird sich ja unter hundert Nationen eine finden, die sein Vorurteil begünstige, die seinen Wahn nähre. Der edle Mensch sucht allenthalben das Bessere, das Beste, wie der Zeichner malerische Gegenden auswählt. Auch hinter dem Schleier böser Gewohnheiten wird jener ursprünglich gute, aber mißgebrauchte Grundsätze bemerken und auch aus dem Abgrunde des Meers nicht Schlamm, sondern Perlen holen. – Eine Klassifikation der Reisebeschreibungen, nicht etwa nur nach Merkwürdigkeiten der Naturgeschichte, sondern auch nach dem innern Gehalt der Reisebeschreiber selbst, wiefern sie ein reines Auge und in ihrer Brust allgemeinen Natur- und Menschensinn hatten – ein solches Werk wäre für die zerstreuete Herde von Lesern, die nicht wissen, was rechts und links ist, sehr nützlich269.




Die Waldhütte

Eine Missionserzählung aus Paraguay270


Um Paraguayer-Tee und wilde Völker

Für unsre Kolonien aufzusuchen,

Durchgingen wir jenseit des Empalado

Die tiefsten Wälder. Nirgend eine Spur

Von Menschen! Alles, alles war geflohn

Und aufgerieben von den Blattern.

Bis uns

Fußtapfen in ein armes Hüttchen führten.

Ein Mütterchen, ihr zwanzigjähr'ger Sohn

Und eine funfzehnjähr'ge Tochter hatten[265]

Hier lang und still gewohnt. Der Vater war

Vom Tiger aufgefressen, als die Mutter

Mit ihrer Tochter schwanger ging. Der Sohn

Hatt allenthalben sich ein Weib gesucht

Und keins gefunden. Außer ihrem Bruder

Hatt Arapotija, des Tages Blüte271

(So hieß das Mädchen), keinen Mann gesehn.

Hier wohnten sie am Monda-Miri Ufer

In einer Palmenhütte. Wasser war

Ihr Trank; Baumfrüchte mancher Art,

Die Wurzel des Mandijo-Baums, Geflügel,

Das Aba schoß (so hieß der Jüngling), Korn,

Das seine Schwester säte, Ananas

Und Honig, der aus Bäumen reichlich floß,

Genossen sie. Von Caraquatablättern

War ihr Gewand gewebet und ihr Bett

Bereitet. Eine scharfe Muschel war

Ihr Messer. Seine Pfeile schnitzte sich

Der Jüngling mit zerbrochnem Eisen aus

Dem härtsten Holz; er stellte Fallen auf

Den Elentieren; reichlich nährte er

Sein kleines Haus. Ihr Teller war ein Blatt,

Der Kürbis ihre Flasche. Feuer schafften

Sie sich aus Bäumen. Also lebten sie

Zufrieden und gesund; sie liebten sich

Wie Mutter, Bruder, Schwester, die einander

Die ganze Welt sind. Unschuld kleidete

Das Mädchen ohne Scham. Sie wand das Tuch,

Das wir ihr schenkten, zierend um ihr Haupt;

Ihr flatternd Baumgewand war ihr genug,

Kein fremder Schmuck entstellte ihr Gesicht;

Ein Papagei auf ihrer Schulter war

Ihr Freund, mit dem sie scherzte, wenn sie Hecken

Und Hain wie eine Cynthia durchstrich,

An Frohsinn und Gestalt ihr ähnlich. Scherzend[266]

Empfing sie uns und unbetroffen. So

Die Mutter, so der Sohn.

Ich sprach zu ihnen

Quaranisch, ob sie mit uns ziehen wollten

Aus dieser Wüstenei und schildert' ihnen

Die glücklichen, die frohen Tage, die

Sie mit uns leben würden.

»Gerne,« sprach

Die Mutter, uns vertrauend, »kämen wir.

Auch fürchten wir den Weg nicht; aber sieh!

Dort hab ich drei Wildschweinchen aufgezogen,

Seit ihre Mutter sie gebar. Die müßten

Umkommen, wenn wir sie verlassen, oder

(Sie werden uns gewiß als Hündchen folgen)

Verschmachten auf dem Wege, wenn sie sehn

Das ausgebrannte Feld, darauf die Glut

Der Sonne liegt.«

»Darüber fürchte nichts,«

Sprach ich, »wir wollen uns im Schatten lagern,

An Bächen sie erfrischen. Kommet nur!«


So kamen sie mit uns. Wir duldeten

Viel auf dem langen Wege, watend jetzt

Durch wilde Ströme, jetzt in Ungewittern

Von Güssen überströmt. Es laureten

Auf uns die Tiger. Endlich kamen wir

In unserm Flecken an. Dem Jüngling war

Beschwerlich unsre Kleidung; eingepreßt,

Konnt er in ihr nicht schreiten, klettern nicht

Auf Bäume, die hier fehlten. Er vermißte

Das schöne Grün, den dunkeln kühlen Wald.

Und ob wir dann und wann mitleidig auch

Sie in entlegne Schatten führten, ach!

Es war nicht ihr geliebter Schatte. Brennend,

Verzehrend lag auf ihnen hier die Glut

Der Sonne. Fieber, Kopf- und Augenweh[267]

Und tiefe Schwermut, Ekel aller Speisen,

Kraftlosigkeit, Auszehrung folgeten.

Am ersten schwand die Mutter hin; sie ward

Getauft und starb mit christlicher Ergebung.

Die Tochter, Arapotija, die Blüte

Des Tages sonst, man kannte sie nicht mehr.

Verblühet war sie und verdorrt; sie folgte

Der Mutter bald ins Grab. Ihr folgeten

Viel Tränen ; denn sie war die Unschuld selbst.

Der tapfre Bruder überstand die Reihe

Der Übel, überstand sogar zuletzt

Der Übel schrecklichstes, die Blattern. Er

War folgsam, fleißig Lind gefällig, fand

Sich ein zum Unterricht; doch immer still.


Ich ahnte nichts. Da kam ein Indianer

Und sprach geheim: »Mein Pater, unser Waldmann

(Ich fürcht es) ist dem Wahnsinn nah. Er klagt

Zwar keine Schmerzen; aber: ›Jede Nacht‹,

Spricht er ›erscheint mir wachend meine Mutter

Und meine Schwester Immer sprechen sie:

Ich bitte, laß dich taufen; denn wir holen

Dich bald und unvermutet ab, o Sohn,

O Bruder, in die grünen Schatten.‹ – Also

Spricht täglich er und kennt den Schlaf nicht mehr.«


Ich eilte zu ihm, sprach ihm Mut zu. Heiter

Erwidert er: »Mir fehlt, o Vater, nichts.

Ich kenne keine Schmerzen, aber schlafen

Kann ich nicht mehr; denn alle Nächte sind

Die Meinigen um mich und sprechen flehend:

›Ich bitte, laß dich taufen; denn wir holen

Dich bald und unvermutet ab, o Sohn,

O Bruder, in die grünen Schatten.‹« –

»Freund,

Die Deinigen sind jetzt im Himmel,« sprach ich,[268]

»Jedoch die Taufe soll dir werden.« – Sehnlich

Erfreut' er sich; es ward der Tag bestimmt,

Johannistag. Zehn Uhr am Morgen ward er

Getauft, er war so heiter, war so froh!

Am Abend, ohne Krankheit, ohne Schmerzen

War er entschlafen. –


So erzählt der Priester

Und lässet jeden denken, was er mag.

Ich denke: Guter Vater, warum ließest

Du nicht die Blumen, wo sie standen und

Erquicktest sie? Du hörtest, was die Mutter

Für ihre Tierchen fürchtete: »Sie werden

Verschmachten in der Sonne Glut!« – O lasset

Doch jede Pflanze blühen, wo sie blüht!

Die Schattenblume zehrt der Mittag auf.


117.

Gewiß, es ist nicht gleichgültig, nach welchen Grundsätzen Völker aufeinander wirken; und doch gibt es nicht eine Geschichte der Völker, der alle Grundsätze über das Verhalten der Nationen gegeneinander fehlen? Gibt es nicht eine andre, in der die verderblichsten Grundsätze als billige und preiswürdige Maßregeln aufgestellt sind? Eben deshalb wissen manche nicht, warum sie nur das Betragen der Europäer gegen die Neger und die Wilden verdammen sollen, da ja ähnliche Grundsätze in der gesamten Völkergeschichte mit mehr oder minder Modifikationen zu herrschen scheinen.

Die meisten Kriege und Eroberungen aller Weltteile, auf welchen Gründen beruheten sie? welche Grundsätze haben sie geleitet? Nicht etwa nur jene Streifereien der asiatischen Horden, auch die meisten Kriege der Griechen und Römer, der Araber, der Barbaren. Vollends die Ketzer- und Kreuzzüge,[269] das Verhalten der Europäer gegen Zauberer und Juden, ihre Unternehmungen in beiden Indien. – Wie bedauret man in allem diesem manchen großen Mann, der fast übermenschliche Taten als ein Betrogener, als ein Verrückter tat! Mit der edelsten Seele ward er ein Bestürmer und Räuber der Welt, der für seine Taten von Höfen, die so undankbar gegen ihn als barbarisch gegen die Völker waren, meistens auch bösen Lohn erntete. Man erstaunt über die Gegenwart des Geistes, die Vasco di Gama, Albuquerque, Cortes, Pizarro und viele unter ihnen in Umständen der größesten Gefahr zeigten; See- und Straßenräuber zeigten oft ein Gleiches. Wer aber, der kein Spanier und Portugiese ist, wird sich getrauen, die Taten dieser Helden, Cortez', Pizarros oder des großen Albuquerque vor Suez, Ormuz, Kalekut, Goa, Malakka zum Gegenstande eines Heldengedichts zu machen und die damals geltenden Grundsätze noch jetzt zu preisen?272 Die Lobredner der Bartholomäusnacht, der Judenermordungen sind mit Schimpf und Schande bedeckt; zu hoffen ist's, daß auch die Räuber und Mörder der Völker, trotz aller erwiesenen Heidentaten, bloß und allein den Grundsätzen einer reinen Menschengeschichte nach, einst damit bedeckt stehen werden.

Ein Gleiches gilt von den Grundsätzen über das, was man sich im Kriege erlaubt hält. Erkennt man Plündern, Verstümmeln, Schänden, Vergiften der Brunnen und der Waffen für ehrlose Mittel des Krieges; sind es inwärtige Aufhetzungen der Untertanen, die nicht zum Heer gehören, Vendéekriege, Entwürfe zur Aushungerung der Nationen, treulose Vorspiegelungen nicht ebensowohl? Jedermann verabscheuet Albuquerques Entwürfe, der ganz Ägypten in eine Wüste verwandeln wollte, indem man ihm den Nil nähme, der Mekka und Medina, Länder, die in keinem Kriege mit den Portugiesen begriffen waren, plündern wollte. – Dergleichen Gewaltsamkeiten gegen fremde, ruhige Völker, Anstiftungen von Treulosigkeit im Herzen des Feindes u.f. strafen am Ende sich selbst. Wer einen offenen und geheimen Krieg zugleich[270] führt, verläßt sich meistens auf die Wirkung seiner geheimen Mittel so sehr, daß auch die offenen ihm mißraten. Aufwiegelung und Verrat lohnten selten ihre Urheber anders als mit Verlust und Schande. Wer Grundsätze wegdrängt, auf denen einzig noch der Rest von Ehre und gutem Namen der Völker im Kriege beruhet, vergiftet die Quellen der Geschichte und des Rechts der Völker bis auf den letzten Tropfen. –

Eine traurige Übersicht gäbe es, wenn man jede geschriebene Geschichte der Völker in ihren Kriegen und Eroberungen, in ihren Unterhandlungen, in ihren Handelsentwürfen nach den Grundsätzen durchginge, in welchen gehandelt und geschrieben wurde. Wie ehrlicher waren unsre Väter, die alten Barbaren, die bei ihren Zweikämpfen nicht nur auf Gleichheit der Waffen sahen, sondern Platz, Licht und Sonne unparteiisch teilten. Wie ehrlicher sind die Wilden in ihren Unterhandlungen und Friedensschlüssen, in ihrem Tausch und Handel! Gewalt und Willkür mögen gebieten, worüber sie Macht haben, nur nicht über Grundsätze des Rechts und Unrechts in der Menschengeschichte.273


Der Hunnenfürst

Ein Hunnenfürst ward von raubgierigen

Tataren oft befehdet. Jetzo fodern

Sie zum Geschenk von ihm sein bestes Pferd.[271]

Die Feldherrn rufen: »Krieg!« – »Wie?« sprach er, »Krieg

Um eines Pferdes willen? Gebet's hin!« –


Bald kamen wieder die Tataren, fodernd

Sein schönstes Weib. Die Feldherrn rufen: »Krieg!,«

»Wie?« sprach er, »Krieg um einer Sklavin willen,

Die mir gehört; um ein vergnügen Krieg?

Gebt hin die Sklavin.«


Und sie kamen wieder

Land fodernd. »Was sie fodern, hat soviel

Nicht zu bedeuten,« sprach der Feldherrn Zelt.

»Nein!« sprach der Fürst, »so lang es mich nur galt,

Mein Pferd, die Sklavin, gerne gab ich's hin,

Des Volkes Blut zu schonen; doch mein Land,

Des Staates Eigentum muß ich als Fürst

Verwalten, nicht verschenken. Auf! zur Schlacht!«


Sie stritten, siegten, schützeten ihr Land;

Und im Triumph zurück kam Roß und Weib.


Das Kriegsgebet

Zum Kriege zog ein Schach und sein Wesir,

Zum Kriege mit dem Bruder. Eben ging

Die Straße eines Heil'gen Grab vorüber;

Sie stiegen ab und beteten am Grabe.


»Was betetest du?« sprach der König zum Wesir.

»Daß Gott dir Sieg verleihe.«

»Ich,«

Erwiderte der König, »betete,

Daß Gott ihn meinem Bruder gebe, wenn

Er ihn des Thrones werter hält als mich.«
[272]


Kahira

Kahira, Königin der Berbern, ahnend

Des Reiches Untergang, versammlete

Das Volk und sprach also:

»Was sollen uns die Schätze?

Was soll uns Gold und Silber,

Das uns die gier'gen Räuber

Mit neuen Kräften anzieht?

Ich tat, was ich vermochte,

Ich handelte großmütig,

Gab frei die Kriegsgefangnen,

Und ihrem tapfern Feldherrn,

Dem Letztgefangnen, sehet,

Begegn ich noch als Schwester.

Auf! meine guten Berbern,

Vielleicht verschafft uns Armut,

Was Großmut nicht verschaffte,

In edler Freiheit Ruh.

Laßt uns das Gold im Schutte

Der Wohnungen begraben;

Uns gnüget die Natur!«


Sie sprach's, und jedermann gehorchte. Schnell

Verwandelte sich die zerstörte Stadt

In eine frohe Zeltenwüstenei.


Jedoch umsonst. Die Räuber

Erscheinen mächt'ger wieder.

»Geh,« sprach sie zu dem Feldherrn,

»Geh zu dem Heer der Deinen,

Und wie ich Dir begegnet,

Begegne meinen Söhnen.

Ich kann sie nicht beschützen –

Nun, Brüder, auf zur Schlacht!«
[273]

Die Schlacht begann; Kahira stritt voran

Und sank. Mit ihr ersank der Berbern Reich;

Nicht ihre Großmut. Die der Königspflicht

Nicht Schätze nur, nicht nur Bequemlichkeit

Aufopferte, die selbst ihr Mutterherz

Dem Feind hingab, sie gab's dem edeln Mann.

In ihren Söhnen ehrete der Feldherr

Kahira, die großmüt'ge Königin.


Das Kriegsrecht

Mahmud beherrschte Indien Da trat

Ein armer Inder vor ihn: »Herr, es kommt

Aus Eurem Heer ein Mächtiger zu mir,

Der fodert, daß ich ihm das Meinige,

Mein Haus und Weib abtrete. Ungestüm

Ist seine Fodrung.«

»Wenn er wiederkommt,

So sage mir's.«

In dreien Tagen kam

Der Inder nicht zum Sultan. Endlich schlich

Er scheu heran, und Mahmud eilt' ins Haus

Mit seiner Leibwach. Es war Nacht. »Hinweg

Die Lichter!« rief er, »tötet ihn!«


Gesagt, getan.

»Jetzt bringet Licht herbei!«

Der Sultan sah den Leichnam und fiel betend

Zur Erde nieder.

»Gebt mir Speise jetzt!«

Er hielt vergnügt ein armes Mahl und sprach:

»Hört, was ich tat. In meinem Heere, glaubt ich,

Kann niemand die Gerechtigkeit so frech

Verletzen, solche Foderung zu tun,

Als meiner Liebling' oder Söhne einer.

Drum ward das Licht hinweggeschafft, daß dies[274]

Des Richters Auge nicht verblendete.

Ich sah den Leichnam an mit Furcht; und Allah

Sei Dank! es ist nicht meiner Lieben einer.

Ich kenne diesen toten Frevler nicht.

Dafür dann dankt ich Gott und esse jetzt;

Denn seit ich auf den Ausgang wartete,

Aß ich bekümmert keinen Bissen Brot.«


Des Brutus Tat war strenge und gerecht;

Des Sultans strenge, menschlich, fromm und zart.


Das Seerecht

Die See war wild, das Schiff dem Sinken nah,

Und alles Schiffvolk sah den Abgrund vor sich,

Da wagt der edle Hauptmann in den Hafen

Des Feindes sich: »Ich übergebe dir

Mich und mein Volk; ich rettete ihr Leben –«


»Bei Gott!« sprach der Gebieter, »keine Schmach

Werd ich an dir auf meinen Namen laden.

Auf freier See, hätt ich dich da ertappt,

So wärst du mein Gefangner, und dein Schiff,

Dein Schiffvolk wäre mein; doch jetzo, da

Der Sturm dich in den Hafen wirft, so seid

Ihr mir nicht Feinde, seid Unglückliche,

Seid Menschen. Ladet aus, um euer Schiff

Zu bessern; handelt in dem Hafen, frei

Wie wir. Dann segelt fort mit gutem Glück.

Erst, wenn ihr über die Bermudas seid

Auf hohem Meer, dann seid ihr Feinde mir.

Jetzt seid ihr mir vom Unglück und dem Sturm

In meinen Schutz empfohlen. Ladet aus.«
[275]

Der betrogne Unterhändler

Als Irokesen und Franzosen sich

In Kanada bekriegten, lud der Feldherr

Der Gallier die Irokesenhäupter

Zur Friedensunterredung. Ein beglaubter

Missionar bewegte sie dazu

In guter Meinung; doch der Feldherr fand

Es rühmlicher, die Irokesenhäupter

In Ketten der Galeere zuzusenden.


Betäubet von der unerhörten Schmach,

Entflammete die Nation. Da schlich

Der Älteste der Wilden eilig zum

Missionar: »Wir haben dir vertraut

Und sind mit unerhörtem Schimpf betrogen.

Ich weiß, du bist nicht schuld daran; du meintest

Es redlich; doch nicht jeder Jüngling denkt

In unsrer Nation wie ich. Drum flieh!

Flieh, Fremder! Eher laß ich nicht von dir,

Bis ich dich sicher weiß.« – Er ließ ihn über

Die Grenze hin geleiten. – Edler Mann!




118.

Da jetzt im unseligsten Kriege, in dem ein zeitiger Friede so schwer wird, von Entwürfen zum ewigen Frieden viel gesprochen wird, so teile ich Ihnen einen zu diesem Zweck gemachten wirklichen Versuch in den Worten dessen mit, der ihn berichtet.


Zum ewigen Frieden

Eine irokesische Anstalt


Die Delawaren wohnten ehedem in der Gegend von Philadelphia und weiterhin nach der See zu. Von da aus taten sie oftmals Einfälle in die Dörfer der Cherokesen, mischten sich[276] unerkannt in ihre nächtlichen Tänze und ermordeten während derselben plötzlich viele. Noch heftiger und älter waren die Kriege der Delawaren mit den Irokesen. Nach dem Vorgeben der Delawaren waren sie den Irokesen immer überlegen, so daß diese endlich einsehen, daß bei längerer Fortsetzung des Krieges ihr völliger Untergang die unausbleibliche Folge sein müßte.

Sie sandten also Gesandte an die Delawaren mit folgender Botschaft: »Es ist nicht gut, daß alle Nationen Krieg führen; denn das wird endlich den Untergang der Indianer nach sich ziehen. Darum haben wir auf ein Mittel gedacht, diesem Übel vorzubeugen; es soll nämlich eine Nation die Frau sein. Die wollen wir in die Mitte nehmen; die andern kriegführenden Nationen aber sollen die Männer sein und um die Frau herum wohnen. Niemand soll die Frau antasten, noch ihr etwas zuleide tun und wenn es jemand täte, so wollen wir ihn gleich anreden und zu ihm sagen: ›Warum schlägst du die Frau?‹ Dann sollen alle Männer über den herfallen, der die Frau geschlagen hat. Die Frau soll nicht in den Krieg ziehen, sondern soviel möglich den Frieden zu erhalten suchen. Wenn also die Männer um sie herum sich einmal miteinander schlagen und der Krieg heftig werden will, so soll die Frau Macht haben, selbige anzureden und zu ihnen zu sagen: ›Ihr Männer, was macht ihr, daß ihr euch so herumschlagt? Bedenkt doch, daß eure Weiber und Kinder umkommen müssen, wo ihr nicht aufhört. Wollt ihr euch denn selbst vom Erdboden vertilgen?‹ Und die Männer sollen alsdann auf die Frau hören und ihr gehorchen.«

Die Delawaren ließen sich's gefallen, die Frau zu werden. Nun stellten die Irokesen eine große Feierlichkeit an, luden die Delawar-Nation dazu ein und hielten an die Bevollmächtigten derselben eine nachdrückliche Rede, die aus drei Hauptsätzen bestand. In dem ersten erklärten sie die Delawar-Nation für die Frau, welches sie durch die Redensarten: »Wir ziehen euch einen langen Weiberrock an, der bis auf die Füße reicht, und schmücken euch mit Ohrgehängen,« ausdrückten[277] und ihnen damit zu verstehen gaben, daß sie von nun an mit den Waffen sich nicht weiter abgeben sollten. Der zweite Satz war so gefaßt: »Wir hängen euch einen Kalabasch mit Öl und mit Arznei an den Arm. Mit dem Öl sollt ihr die Ohren der übrigen Nationen reinigen, damit sie aufs Gute und nicht aufs Böse hören; die Arznei aber sollt ihr bei solchen Völkern brauchen, die schon auf törichte Wege geraten sind, damit sie wieder zu sich selbst kommen und ihr Herz zum Frieden wenden.« Der dritte Satz, darin sie den Delawaren den Ackerbau zu ihrer künftigen Beschäftigung anwiesen, war so ausgedrückt: »Wir geben euch hiemit einen Welschkornstengel und eine Hacke in die Hand.« Jeder Satz wurde mit einem Belt of Wampum (Gürtel von Muschelschalen) bekräftigt. Diese Belte sind bis daher sorgfältig aufgehoben und ihre Bedeutung von Zeit zu Zeit wiederholt worden.

Seit diesem sonderbaren Friedensschluß sind die Delawaren von den Irokesen Schwesterkinder benannt worden; die drei Delawar-Stämme heißen einander Mitgespielinnen. Diese Titel aber werden nur in ihren Ratsversammlungen, und wenn sie einander etwas Erhebliches zu sagen haben, gebraucht. Von besagter Zeit ist die Delawar-Nation die Friedensbewahrerin gewesen, der der große Friedensbelt in Verwahrung gegeben und die Kette der Freundschaft anvertrauet ist. Sie hat darüber zu wachen, daß dieselbe unverletzt erhalten werde. Nach der Vorstellung der Indianer liegt die Mitte der Kette auf ihrer Schulter und wird von ihr festgehalten; die übrigen Indianernationen fassen das eine Ende und die Europäer das andre an.274

So die Irokesen. Es waren Zeiten in Europa, da die Hierarchie die Stelle dieser Frau vertreten sollte. Auch sie trug das lange Kleid; Öl und Arznei waren in ihrer Hand. Man gibt ihr schuld, daß sie, statt ihr Friedensamt zu verwalten,[278] oft selbst Kriege zwischen den Männern erregt und angefacht habe; wenigstens hat ihr Öl die Ohren der Völker noch nicht gereinigt, ihre Arznei die Kranken noch nicht geheilet.

Sollen wir statt ihrer in der Mitte Europas einer wirklichen Nation Weibskleider anziehen und ihr das Friedensrichteramt auftragen? Welcher?

Wie könnte sie's aber verwalten, da oft über einige Pelze an der Hudsonbai, über einige Flecken am Paraguaistrom in deren Lage bisweilen die Kriegführenden selbst sich geirrt haben, über einen Hafenplatz im Stillen Meer, Über Neckereien der Gouverneurs gegeneinander weltverwüstende Kriege geführt werden? Ja, wie oft entsprangen diese aus einer Grille des Monarchen, aus einer niedrigen Kabale des Ministers! Eine Geschichte vom wahren Ursprunge der Kriege in Europa seit den Kreuzzügen wäre ein siebenfacher Hudibras, das niedrigste Spottgedicht, das geschrieben werden könnte. In einer Welt, in der dunkle Kabinette Kriege anspinnen und fortleiten, wäre alle Mühe der Friedensfrau verloren.

Leider auch bei den Wilden selbst erreichte diese Anstalt ihren Zweck nicht lange. Als die Europäer näherdrangen, sollte auf Erfordern der Männer selbst die Frau an der Gegenwehr mit Anteil nehmen. Man wollte, wie man sich ausdrückte, zuerst ihr den Rock kürzen, sodann gar wegnehmen und ihr das Kriegsbeil in die Hand geben. Eine fremde, unvorhergesehene Übergewalt störte das schöne Projekt der Wilden zum Frieden untereinander; und dies wird jedesmal der Fall sein, solange der Baum des Friedens nicht mit festen, unausreißbaren Wurzeln von innen heraus den Nationen blühet.

Wie manche andre Mittel haben die Menschen schon versucht, streitsüchtigen Nationen Einhalt zu tun und ihnen die Wege zu sperren. Zwischen Gebürgen wurden ungeheure Mauern errichtet, Zwischenländer zur Wüste gemacht, abschreckende Fabeln ersonnen und in diese Wüste gepflanzet. In Asien sollte ein heiliges Reich den Streifereien der Mogolen ein Ziel setzen; der große Lama sollte die Friedensfrau sein.[279]

In Afrika wurden Obelisken und Tempel die Freistätten des Handels, die Mutter von Gesetzgebungen und Kolonien. In Griechenland sollten Orakel, Amphiktionen, das Panionium, Panätolium, der Achäerbund u.f. wo nicht einen ewigen, so doch einen langen Frieden bewirken; mit welchem Erfolg, hat die Zeit gelehret. Am besten wäre es, wenn, wie bei jenem Handel im innern Afrika, die Nationen einander selbst gar nicht sehen dörften. Sie legen die Waren hin und entfernen sich, bieten und tauschen. Einander erblickend, ist Betrug und Zank unvermeidlich. – Meine große Friedensfrau hat einen andern Namen. Ihre Arznei wirket spät, aber unfehlbar; vergönnen Sie mir dazu einen andern Brief.


Al Hallils Rede an seinen Schuh275

Mit Tausenden von meinem Volke zog

Ich auch einher am Tage jenes Zorns,

Der alle Ebnen Ubedas mit Blut

Und Rach erfüllte. Rosse wieherten

Beim Schalle der Trommeten; Staub erhob

Zum Himmel sich. Die Mächt'gen jubelten,

Die Ketten klirrten, die vor Abend noch

Der Überwundnen Träne netzen sollte.

Einmütig reichten Untergang und Tod

Die Hände sich und schritten vor dem Heer.


Da schlug in mir das Herz noch eins so stark:

»O Rüstung zum Verderben!« sprach ich tief

Im Winkel meiner Brust. – »Allmächtiger![280]

Wir können keinen Floh erschaffen, und

Wir töten Menschen. Blut vergießen wir

Und loben dich.«

Mein Herz schlug stärker; ich

Trat in den Sumpf. Vergeblich mühte sich

Mein Fuß, den Schuh hinauszuziehen. Fest

War er. Die tapfern Heere schritten fort;

Die Lanzen blinkten; Schwerter funkelten;

Ein Feldgeschrei, ein wüstes Sausen füllte

Mein Ohr; ich stand betäubt und sprach also

Zu meinem Schuh:

»Wie? mein Begleiter, jetzt

Verlässest du mich und erwartest lieber

Den Moder hier? Und soll ich dich denn auch

Verlassen, wie in dieser Welt zuletzt

Sich alles flieht? Du, Guter, gingest freilich

Nie mit mir böse Wege; keinem Pfade

Der Frevler drücketest du je dich ein.«

Die Auen, die von Blute strömen, blieben

Uns fremd; dem zügellosen Sieger eiltest

Du nimmer nach. Wir gingen sanfte Wege,

Jetzt, wenn die Sonn im Abendmeer ersank,

Jetzt in den Schatten der friedsel'gen Nacht,

Der Ruhegeberin, der Reichen, die

Uns ihre Schätz am weiten Himmel zeigt

Und nieden uns der Freuden schönste schenket.

Dann sagte leise mir der Mond ins Ohr:

›Sohn der Aëscha, geh zu deiner Treuen,

Sie wartet deiner, lieblicher als ich.‹ –


Die Wege gingen wir; nicht jene, denen

Du strenge jetzt unwillig dich entziehst.

Ich folge deinem Rat. Gehabt euch wohl.

Ihr Helden, jetzt durch Mord und Totschlag! – Mögen

Die Löwen eure Siege brüllen! wetze

Der Tiger seine Klaun dazu; es singen[281]

Erschlagne Heere drein, und Drachen zischen

Aus Wüstenein zerstörter Wohnungen. –


Du stiller Mond, den sie mit Mordgeschrei

Erschrecken, scheine nicht auf sie; und nie

Umfange sie mit deinem sanften Arm,

Die sie verscheuchen, du friedsel'ge Nacht.«




119.

Meine große Friedensfrau hat nur einen Namen: sie heißt allgemeine Billigkeit, Menschlichkeit, tätige Vernunft.

Ich habe ein sehr sinnreiches Manuskript gelesen, in dem der Menschengeschichte folgende Sätze zum Grunde lagen: 1. Menschen sterben, um Menschen Platz zu machen. 2. Und da ihrer weniger sterben als geboren werden, so macht die Natur durch gewaltsame Mittel Raum. 3. Dahin gehören nicht nur Pest, Mißwachs, Erdbeben, Erdrevolutionen, sondern auch Völkerrevolutionen, Verwüstungen, Kriege. 4. Wie eine Tierart die andre vermindert, so setzt das Menschengeschlecht sich selbst in Proportion und wehrt der Überzahl. 5. Es gibt in ihm also erhaltende und zerstörende Charaktere. –

Schreckliches System, das uns vor unsrem eignen Geschlecht Schauder und Furcht einjagt, indem wir nach ihm jedem ins Angesicht, auf seinen Gang und auf seine Hände sehen müssen, ob er ein fleisch- oder grasfressendes Tier sei, ob er einen erhaltenden oder zerstörenden Charakter an sich trage. Gewiß hat uns die Natur an Mitteln nicht entblößt, uns vor dieser zerstörenden Gattung unseres eignen Geschlechts zu sichern; nur sie gab uns diese Mittel als Waffen nicht in die Hände, sondern in Kopf und Herz. Die allgemeine Menschenvernunft und Billigkeit ist die Matrone, die Öl und Arznei am Arm, die einen Fruchtstengel in der Hand trägt, nicht etwa nur als Symbole, sondern als die stillwirkenden Mittel, wo nicht zu einem ewigen Frieden, so gewiß doch zu einer allmählichen Verminderung der Kriege. Lassen Sie mich, da wir hier[282] auf des ehrlichen St.-Pierre Wege geraten, auch seiner Methode uns nicht schämen und die große Friedensfrau (pax sempiterna) mit festen Grundsätzen in ihr Amt weisen. Sie ist dazu da, ihrem Namen und ihrer Natur nach Friedensgesinnungen einzuflößen.


Erste Gesinnung

Abscheu gegen den Krieg


Der Krieg, wo er nicht erzwungene Selbstverteidigung, sondern ein toller Angriff auf eine ruhige, benachbarte Nation ist, ist ein unmenschliches, ärger als tierisches Beginnen, indem er nicht nur der Nation, die er angreift, unschuldigerweise Mord und Verwüstung drohet, sondern auch die Nation, die ihn führet, ebenso unverdient als schrecklich hinopfert. Kann es einen abscheulichern Anblick für ein höheres Wesen geben als zwei einander gegenüberstehende Menschenheere, die unbeleidigt einander morden? Und das Gefolge des Krieges, schrecklicher als er selbst, sind Krankheiten, Lazarette, Hunger, Pest, Raub, Gewalttat, Verödung der Länder, Verwilderung der Gemüter, Zerstörung der Familien, Verderb der Sitten auf lange Geschlechter. Alle edle Menschen sollten diese Gesinnung mit warmem Menschengefühl ausbreiten, Väter und Mütter ihre Erfahrungen darüber den Kindern einflößen, damit das fürchterliche Wort Krieg, das man so leicht ausspricht, den Menschen nicht nur verhaßt werde, sondern daß man es mit gleichem Schauder als den St. Veitstanz, Pest, Hungersnot, Erdbeben, den schwarzen Tod zu nennen oder zu schreiben kaum wage.


Zweite Gesinnung

Verminderte Achtung gegen den Heldenruhm


Immer mehr muß sich die Gesinnung verbreiten, daß der ländererobernde Heldengeist nicht nur ein Würgengel der Menschheit sei, sondern auch in seinen Talenten lange nicht[283] die Achtung und den Ruhm verdiene, die man ihm aus Tradition von Griechen, Römern und Barbaren her zollet. So viel Gegenwart des Geistes, so viel zusammenfassende Vorsicht und Voraussieht und schnellen Blick er fodern möge, so wird der edelste Held vor und nach der Schlacht nicht nur das Geschäft beweinen, dem er seine Gaben aufopfert, sondern auch gern gestehen, daß, um Vater eines Volks zu sein, wenn nicht mehr, so doch edlere Gaben in fortgehender Bemühung und ein Charakter erfodert werde, ein Charakter, der seinen Kampfpreis weder einem Tage zu verdanken hat noch ihn mit dem Zufall oder dem blinden Glück teilet. Alle Verständige sollten sich vereinigen, durch echte Kenntnis alter und neuer Zeiten den falschen Schimmer wegzublasen, der um einen Marius, Sulla, Attila, Gengischan, Tamerlan gaukelt, bis endlich jeder gebildeten Seele Gesänge auf sie und auf Lips Tullian gleich heroisch erschienen.


Dritte Gesinnung

Abscheu der falschen Staatskunst


Immer mehr muß sich die falsche Staatskunst entlarven, die den Ruhm eines Regenten und das Glück seiner Regierung in Erweiterung der Grenzen, in Erjagung oder Erhaschung fremder Provinzen, in vermehrte Einkünfte, schlaue Unterhandlungen, in willkürliche Macht, List und Betrug setzt. Die Mazarins, Louvois, Du Terrai und ihresgleichen müssen nicht nur im Angesicht des ehrlichen Volks, sondern der Weichlinge selbst, wie sie sind, erscheinen, so daß es wie das Einmaleins klar wird, daß jeder Betrug einer falschen Staatskunst am Ende sich selbst betrüge. Die allgemeine Stimme muß über den Wert des bloßen Staatsranges und seiner Zeichen, selbst über die aufdringendsten Gaukeleien der Eitelkeit, selbst über früheingesogene Vorurteile siegen. Mich dünkt, man sei im Verachten einiger dieser Dinge jetzt schon weit und vielleicht zu weit fortgeschritten; es kommt darauf an, daß man das Schätzenswerte[284] bei allem, was uns der Staat auflegt, auch redlich und um so höher achte, je mehr es die Menschheit der Menschen fördert.


Vierte Gesinnung

Geläuterter Patriotismus


Der Patriotismus muß sich notwendig immer mehr von Schlacken reinigen und läutern. Jede Nation muß es fühlen lernen, daß sie nicht im Auge andrer, nicht im Munde der Nachwelt, sondern nur in sich, in sich selbst groß, schön, edel, reich, wohlgeordnet, tätig und glücklich werde und daß sodann die fremde wie die späte Achtung ihr wie der Schatte dem Körper folge. Mit diesem Gefühl muß sich notwendig Abscheu und Verachtung gegen jedes leere Auslaufen der Ihrigen in fremde Länder, gegen das nutzlose Einmischen in ausländische Händel, gegen jede leere Nachäffung und Teilnehmung verbinden, die unser Geschäft, unsre pflicht, unsre Ruhe und Wohlfahrt stören. Lächerlich und verächtlich muß es werden, wenn Einheimische sich über ausländische Angelegenheiten, die sie weder kennen noch verstehen, in denen sie nichts ändern können und die sie gar nicht angehn, sich entzweien, hassen, verfolgen, verschwärzen und verleumden. Wie fremde Banditen und Meuchelmörder müssen die erscheinen, die aus toller Brunst für oder gegen ein fremdes Volk die Ruhe ihrer Mitbrüder untergraben. Man muß lernen, daß man nur auf dem Platz etwas sein kann, auf dem man stehet, wo man etwas sein soll.


Fünfte Gesinnung

Gefühl der Billigkeit gegen andre Nationen


Dagegen muß jede Nation allgemach es unangenehm empfinden, wenn eine andre Nation beschimpft und beleidigt wird; es muß allmählich ein gemeines Gefühl erwachen, daß jede sich an die Stelle jeder andern fühle. Hassen wird man den frechen Übertreter fremder Rechte, den Zerstörer fremder[285] Wohlfahrt, den kecken Beleidiger fremder Sitten und Meinungen, den prahlenden Aufdringer seiner eignen Vorzüge an Völker, die diese nicht begehren. Unter welchem Vorwande jemand über die Grenze tritt, dem Nachbar als einem Sklaven das Haar abzuscheren, ihm seine Götter aufzuzwingen und ihm dafür seine Nationalheiligtümer in Religion, Kunst, Vorstellungsart und Lebensweise zu entwenden, im Herzen jeder Nation wird er einen Feind finden, der in seinen eignen Busen blickt und sagt: »Wie, wenn das mir geschähe?« – Wächst dies Gefühl, so wird unvermerkt eine Allianz aller gebildeten Nationen gegen jede einzelne anmaßende Macht. Auf diesen stillen Bund ist gewiß früher zu rechnen als nach St. Pierre auf ein förmliches Einverständnis der Kabinette und Höfe. Von diesen darf man keine Vorschritte erwarten; aber auch sie müssen endlich ohne Wissen und wider Willen der Stimme der Nationen folgen.


Sechste Gesinnung

Über Handelsanmaßungen


Laut empört sich das menschliche Gefühl gegen freche Anmaßungen im Handel, sobald ihm unschuldige frönende Nationen um einen Gewinn, der ihnen nicht einmal zuteil wird, aufgeopfert werden. Handel soll, wenn auch nicht aus den edelsten Trieben, die Men schen vereinigen, nicht trennen; er soll sie, wenngleich nicht im edelsten Gewinn, ihr gemeinschaftliches und eigenes Interesse wenigstens als Kinder kennen lehren. Dazu ist das Weltmeer da; dazu wehen die Winde; dazu fließen die Ströme. Sobald eine Nation allen andern das Meer verschließen, den Wind nehmen will, ihrer stolzen Habsucht wegen, so muß, je mehr die Einsicht ins Verhältnis der Völker gegeneinander zunimmt, der Unmut aller Nationen gegen eine Unterjocherin des freiesten Elements, gegen die Räuberin jedes höchsten Gewinnes, die anmaßende Besitzerin aller Schätze und Früchte der Erde erwachen. Ihrem Stolz, ihrer Habsucht zu dienen, wird kein[286] fremder Blutstropfe willig fließen, je mehr der wahre Satz eines vortrefflichen Mannes anerkannt wird, »daß die Vorteile der handelnden Mächte einander nicht durchkreuzen und daß diese Mächte von einem gegenseitigen allgemeinen Wohlstande und von der Erhaltung eines ununterbrochenen Friedens vielmehr den größten Nutzen haben würden«.277




Siebente Gesinnung

Tätigkeit


Endlich der Kornstengel in der Hand der indischen Frau ist selbst eine Waffe gegen das Schwert. Je mehr die Menschen Früchte einer nützlichen Tätigkeit kennen und einsehen lernen, daß durchs Kriegsbeil nichts gewonnen, aber viel verheert wird, je mehr die schmähenden Vorurteile von einer mit göttlichem Beruf zum Kriege gebornen Kaste, in der von Vater Kain, Nimrod und Og zu Basan an Heldenblut fließe, verächtlich und lächerlich werden, desto mehr Ansehen wird der Ährenkranz, der Apfel- und Palmzweig vor dem traurigen Lorbeer erhalten, der neben dunkeln Zypressen wächst und[287] samt Nesseln und Dornen nur Lazerten und Bubonen unter sich liebet.

Die sanfte Verbreitung dieser Grundsätze sind das Öl und die Arznei der großen Friedensgöttin Vernunft, deren Sprache sich endlich niemand entziehen kann. Unvermerkt wirkt die Arznei, sanft fließt das Öl hinunter. Leise tritt sie zu diesem und jenem Volk und spricht in der Sprache der Indianer: »Bruder, Enkel, Vater, hier bringe ich dir ein Bundeszeichen und Öl und Arznei. Damit will ich deine Augen reinigen, daß sie scharf sehen; ich will damit deine Ohren säubern, daß sie recht hören; ich will deinen Hals glätten, daß meine Worte geschmeidig hinuntergehen; denn ich komme nicht umsonst; ich bringe Worte des Friedens.«

Und der Angeredete wird antworten: »Schwester, dieser String of Wampum soll dich willkommen heißen. Ich will die Dornen aus deinen Füßen ziehen, die dir etwa möchten hineingefahren sein. Ich will die Müdigkeit, die dich auf der Reise befallen hat, wegschaffen, daß deine Knie wieder stark und mutig werden. Das rote Kriegsbeil und die Keule sollen in die Erde verscharret sein, und über sie wollen wir einen Baum pflanzen, der bis in den Himmel wachse. Solange Sonne und Mond scheinen und auf- und niedergehen, solange die Sterne am Himmel stehen und die Flüsse mit Wasser fließen, soll unsre Freundschaft dauren.«278

Wenn, wie ich fast glaube, ein ewiger Friede förmlich erst am Jüngsten Tage geschlossen werden wird, so ist dennoch kein Grundsatz, kein Tropfe Öl vergebens, der dazu auch nur in der weitsten Ferne vorbereitet.




120.

Jede Aufmunterung zu guten Gesinnungen, ohne auf die Förmlichkeit ihrer Ausführung ängstliche Rücksicht zu nehmen, ist eine Trostpredigt. Oft sagt der Blöde: »Wenn wird,[288] wenn kann dies geschehen?« und tut darüber gar nichts. Oft hält er sich zu früh und zu genau an die Bestimmung der Förmlichkeiten des Ausgangs und vergißt darüber das Wesentliche der Hülfsmittel, diesen Ausgang zu fördern. Viele Beispiele der Geschichte legen dies klar an den Tag.

In den alten Schriften der ebräischen Nation z.B. waren schöne Wünsche und Entwürfe für die Zukunft gepflanzet. Hoffnungen eines großen Lichts, das allen Völkern aufgehen, eines Bandes der Freundschaft, das alle Nationen umfassen sollte, einer Religion, die ins Herz geschrieben, eines goldnen Friedens, an dem alles teilnehmen würde, glänzten wie eine Morgenröte. Sobald man in diesen Entwürfen und Ahnungen den Geist des Weissagenden, seinen Zweck und die herrschende Gesinnung der Rede verkannte, als man sich an den Buchstaben hing und die Erfüllung förmlich bestimmte, da kamen Torheiten ans Licht; Träumereien, mit deren jeder man um so weiter vom Sinn der Weissagung abwich, je förmlicher man bestimmte.

Nicht anders war's im Christentum, als man auf die sichtbare Ankunft des Herren hoffte. In allen Schwärmersekten, die das Tausendjährige Reich zustande bringen wollten, war's nicht anders. Mit mancher neuen Philosophie, fürchte ich, ist's eben also. Wie nahe der Erfüllung hat man sich bei manchen Systemen geglaubt, und wie schrecklich ward man betrogen! Die glänzende Höhe, die man dicht vor sich sah, rückte weiter und weiter. Da gibt der Getäuschte dann alle Hoffnung auf und läßt die Hände sinken. –

Verbreiter guter Gesinnungen, schadet ihnen, schadet euch selbst nicht durch Bezeichnung eines Äußern, das bloß von der Zeit und von Umständen bestimmt werden kann! Pflanzt den Baum; er wird von selbst wachsen; Erde, Luft, Sonne werden ihm Gedeihen geben. Sichert gute Grundsätze; durch eigne Kraft werden sie wirken – nicht anders aber als mit Modifikationen, die Zeit und Ort ihnen allein geben können und geben werden.
[289]


Der Fürst

Zerteile dich, trübes Gewölk!

Denn unter dir wandelt der Edle,

Auf dessen Scheitel ein Strahl

Göttliches Glanzes traf.


Es leuchtet Segen durch Länder und Reiche,

Die seinem Winke gehorchen,

Die an den Stufen seines Throns

Suchen und finden ihr Glück.


Lob dem Erbarmenden, der ihn zum Pfleger

Der Menschheit setzte! Heil der Stunde, da

Sein großes Herz zum ersten Male schlug!

Edler! siebenmal edler als Tageslicht,


Was soll dir Glanz des Goldes?

Was soll dir Schimmer des Lobes?

Größe, die du willst, ist Glückseligkeit der Völker.

Name, den du suchst, ist der Name Vater.


Führ ihn! denn dein heilig Herz

Ist Wohnung väterlicher Huld;

Und jedes Blut der Deinen ist das deine,

Und jedes Leben deiner Kinder deins.


Der Fürsten Feinde, das scheue Gevögel der Nacht,

Heuchler und Schmeichler scheuen das Licht,

Welches der Himmel dir gab,

Die Demut, womit er dich hoch belieh;


Sie nahen nicht dem Thron, worauf der Herr der Welt

Dir gab zu sitzen; fern ihm schwärmen sie.

Weisheit und Menschenliebe treten,

Du winkest sie herbei, vor deinen Stuhl –
[290]

Du hörest ihre Rede, die dir sagt:

»Du bist ein Mensch! Auch du, o Fürst, bist Staub!

Sei deines Thrones wert, sei groß und gut.

Sei gut: dann bist du groß.«


Ruhm und Verachtung

Du Tal des Irrtums, dahinab nur selten

Der Wahrheit Sonne scheinet, soll ich mich

Verwundern, wenn, erhitzt von Phantasie,

Die dich bewohnen schneller noch erkalten

Als glühend Eisen unter Schmiedes Hand?


Du mit dem Fluch von Täuschereien schwer-

Beladne Erde, soll ich staunen, wenn

Auf dir Bewundrung bald Verachtung wird?

Da Zufall, Glück und Gunst und eitler Schimmer

Zu deiner Achtung gnug ist.

Jenem, der,

Den Donner in der Hand, auf Nationen

Verderben schleudert und der Völker Glück

Zerschmettert, jenem knieest du und rufst:

»Hier, Arm der Gottheit!«

Und wenn ihn das Glück,

Die falsche Braut, verließ, wenn ihn der Sieg

Nicht seinen Liebling nennet, kehrest du

Dein Antlitz von ihm weg.

Oft führet Wahn

Zum Altar eines Götzen, den auch Wahn

Und Trug erschufen; Schwärmerei und Wahn

Streun ihren Weihrauch ihm; da rufest du

Entzückt: »Hier ist der Weisheit letzter Spruch!«


Weh ihm, dem Götzen! weh dem Altar! Bald

Wird über ihn die Maus hinlaufen, bald

Der Sperling auf ihm hüpfen.[291]

Tolles Ding

Um Ehr und Schand, um Ruhm und um Verachtung

Des Menschenvolks. Mit beiden Händen teilt

Der Tor sie Toren aus.

Du fromm Geschlecht!

O suche Ruhm und Achtung nur bei dem,

Der nicht wie Menschen nur Gebräuchen frönt,

Bei dem der Wert des Guten ewig gilt.


Wer bei dem Ewigen den Wechsel sucht,

Wer bei dem Höchsten Ungerechtigkeit

Erwartet, der verleugnet ihn.

Bewahre

Mich, Herr! bewahre mein Geschlecht für Ruhm

Bei Toren; Schand und Spott ist er vor dir.


Al Hallils Klagegesang

Laßt mich weinen! Das Weinen bringt nicht Schande.

Laßt mich klagen! denn klagen soll der Betrübte.

O Humane!279 wie soll ich dich jetzt nennen?

Himmlische Namen hast du; wer kann sie sprechen?

Schaut, o schauet den Schmerz in meiner Seele,

Engel, die ihn ins Tal des Todes führten.

Gottesboten, ihr führtet ihn als Brüder,

Euren Bruder. Ich seh ihn freundlich lächeln

Mitten im Todestal. Er warf die Hülle

Leicht von sich und ersah den offnen Himmel.

Laßt uns folgen, ihr Brüder! – Beider Welten

Vater wird uns auch dort die Hütte bauen. –

O Humane, wie soll ich dich jetzt nennen?

Himmlische Namen hast du; wer mag sie sprechen?[292]

Heil der keuschen Mutter, die dich geboren!

Denn sie mehrte die Zahl der Engel mit dir.

Wie der Bach, der das Paradies durchschlängelt,

War dein Herz; wie der Morgenstern dein Innres.

Sanft wohltätiges Licht der Sonne, freundlich

Wie die Sommernacht, wie der Silbermondstrahl.

Auge warst du dem Fürsten, wie dem Armen;

Eins nur kanntest du nicht, das Gift der Schlangen.

Worte des Trostes gabst du uns, nicht Wermut,

Heucheltest nie uns Demut, nie uns Freundschaft.

Ungesehen auch warst du edel, übtest

Im Verborgenen Guts, wie Gott, dein Vater.

Nie erwartetest du, was du nicht selber

Leisten konntest, o du der Menschheit Zierde.

Und gewelket sobald sind deine Blüten!

Deine Zweige, wie sinken sie zur Erde!

Klagt mit mir, Jungfrauen! o klagt, ihr Knaben!

Seine schöne Gestalt ist uns entnommen!

Nie eröffnet sich uns sein holder Mund mehr.




121.

Wenn in einem Felde der Wissenschaft menschliche Gesinnungen herrschen sollten, so ist's im Felde der Geschichte; denn erzählt diese nicht menschliche Handlungen? und entscheiden diese nicht über den Wert des Menschen? bauen diese nicht unsres Geschlechts Glück und Unglück?

Man sagt, »die Geschichte erzähle Begebenheiten,« und ist beinah geneigt, diese für so unwillkürlich, ja für so unerklärbar anzusehen, wie man in den dunkelsten Jahrhunderten die Naturbegebenheiten nicht ansah, sondern anstaunte. Ein erregter Krieg oder Aufruhr gilt der gemeinen Geschichte wie ein Ungewitter, wie ein Erdbeben; die ihn erregten, werden als Geißel der Gottheit, als mächtige Zauberer betrachtet; und damit gnug![293]

Eine Geschichte dieser Art kann die klügste oder die stupideste werden, nachdem der Sinn des Verfassers war.

Die stupideste wird sie, wenn sie in einem sogenannt großen und göttlichen Mann alles bewundert und keine seiner Unternehmungen an ein Richtmaß menschlicher Vernunft zu bringen sich erkühnet. Manche morgenländische Geschichten von Nadir-Schah, Timur-Long u.f. sind so geschrieben; wir lesen eine lobjauchzende Epopee, mit einer dürren oder abscheulichen Tatenreihe fröhlich durchwebet.

Europa hat an diesem morgenländischen Geschmack vielen Anteil genommen, nicht etwa nur in den Zeiten der Kreuzzüge, sondern auch in den meisten Lebensbeschreibungen einzelner Helden, in der Geschichte ganzer Sekten, Familien und Familienkriege. Man staunt, wenn man die Andacht und Anhänglichkeit des Schriftstellers an seinen verehrten Gegenstand wahrnimmt, und kann nichts anders sagen als: »Er hat aus dem Becher der Betäubung getrunken; Wein der Dämonen hat ihm die Sinne benebelt.«

Die klügste Geschichte dieser Art ist die kälteste, etwa wie Machiavell Sie trieb und ansah. Auch sie vergißt Recht und Unrecht, Laster und Tugend, indem sie, rein wie ein Geometer, den Erfolg gegebener Kräfte ausmißt und fortgehend einen Plan berechnet.

Daß aus dieser machiavellischen Geschichte, wenn sie scharf siehet und richtig rechnet, viel zu lernen sei, ist keine Frage. Beschäftigt sie sich nicht mit dem verflochtensten, wichtigsten Problem, das unserm Geschlechte vorliegt? Menschenkräfte im Verhältnis ihrer Wirkungen und Folgen.

Wäre nur dies Problem auch rein aufzulösen! Auf dem Schauplatz der Erde, selbst in ihren engesten Winkeln, läuft so vieles durcheinander; gegenseitige Kräfte stören einander, und in alles mischen sich Umstände, Zeit, Glück, der tausendarmige Zufall. Der Klügste ward hintergangen; der Besonnenste verfehlte seinen Zweck. Also wird diese Schule des Unterrichts oft eine Romanschule, da man dem glücklichen Helden Klugheit leihet, die er nicht hatte, und von schimmernden[294] Erfolgen nach einem falschen Kalkül rückwärts rechnet, oder sie wird, wenn die besten Kräfte durch einen Zufall mißraten, eine niederschlagende Lektion, eine Schule der Verzweiflung. Überhaupt aber macht dieser Wetzstein der Klugheit das Gemüt leicht zu scharf, zu schartig.

Wer kann Machiavells »Prinzen« ohne Schauder lesen? Wenn ihm auch alles gelänge, wäre er ein würdiger Fürst? Wäre er in seinem Busen glücklich? Entsetzlich ist's, die Menschheit nur als eine Linie zu betrachten, die man nach Gefallen zu einem Zweck krümmen, schneiden, verlängern und verkürzen darf, damit ein Plan erreicht, damit die Aufgabe nur gelöset werde.

Also können wir uns vom Menschengefühl nicht trennen, indem wir die Geschichte schreiben oder lesen; ihr höchstes Interesse, ihr Wert beruhet auf dieser Menschenempfindung, der Regel des Rechts und Unrechts. Wer bloß für Klugheit schreibt, gerät leicht in Dünkel; wer nur für die Neugierde schreibt, schreibt für Kinder.

Was bestimmt aber diese Regel des Rechts? Auch hier gibt's eine zu warme und zu kalte Geschichte.

Die erhitzte will zur Ehre Gottes alles bewirken und erlaubt sich zu diesem vermeinten Zweck Frevel und Unsinn. So unterjochte Timur eine halbe Welt, den muhammedanischen Glauben auszubreiten, und wollte im höchsten Alter noch das ruhige China bekriegen. So zogen die Nationen Europas zum Heiligen Grabe, so würgten die Spanier in Amerika, so marterte und verfolgte die Inquisition. Schreckliche Leidenschaften der Menschen umhülleten sich mit dem Mantel Gottes und zerstörten und quälten. –

Die kalte Geschichte rechnet unter der Regel eines angeblichen positiven Rechts nach Staatsplanen, und auch sie wird in Befolgung dieser oft sehr warm. Wohl des Vaterlandes, Ehre der Nation wird in ihr das Feldgeschrei und bei trüglichen Unterhandlungen die Staatslosung. Die Athener, die Römer – was rechneten sie nicht zum Wohl ihres Vaterlandes, zu ihrem Ruhm, mithin zu ihrem Recht? Was erlaubten sich[295] der Papst, die Klerisei, die christlichen Könige nicht zum angeblichen Wohl ihrer Reiche? Erzählt die Geschichte dies alles gleichgültig oder gar zutrauend, glaubend, so gerät man mit ihr in ein Labyrinth der verflochtensten, widrigsten Staatsinteresse, persönlicher Anmaßungen und Staatslisten. Ein großer Teil der Begebenheiten unsrer zwei letzten Jahrhunderte, die sogenannten Denkwürdigkeiten (mémoires), Lebensbeschreibungen, politische Testamente sind in diesem Sinn, dem Geist Richelieus, Mazarins und früher noch Karls V., Philipps 11., Philipps des Schönen, Ludwigs Xl., XIII., XIV., kurz, im Geist der spanisch-französischen Staatspolitik geschrieben. Ein fürchterlicher Geist, der sich zum Wohl des Staats, d.i. zum Ruhm und zur größeren Macht der Könige, zur Sicherheit und Größe ihrer Minister alles erlaubt hielt! In welcher Geschichte er durchblickt, schwärzt er das Glänzendste mit dem Schatten der Eitelkeit, der Truglist, der Anmaßung, der Verschwendung. Vergessen ist in ihm die Menschheit, die nach ihm bloß für den Staat, d.i. für Könige und Minister, lebet.

Allgemach sind wir auch diesem Nebel entkommen, aber ein anderes Glanzphantom steigt in der Geschichte auf, nämlich die Berechnung der Unternehmungen zu einer künftigen bessern Republik, zur besten Form des Staats, ja aller Staaten. Dies Phantom täuschet ungemein, indem es offenbar einen edleren Maßstab des Verdienstes in die Geschichte bringt, als den jene willkürliche Staatsplane enthielten, ja gar mit den Namen Freiheit, Aufklärung, höchste Glückseligkeit der Völker blendet. Wollte Gott, daß es nie täuschte! Die Glückseligkeit eines Volks läßt sich dem andern und jedem andern nicht aufdringen, aufschwätzen, aufbürden. Die Rosen zum Kranze der Freiheit müssen von eignen Händen gepflückt werden und aus eignen Bedürfnissen, aus eigner Lust und Liebe froh erwachsen. Die sogenannt beste Regierungsform, die unglücklicherweise noch nicht gefunden ist, taugt gewiß nicht für alle Völker, auf einmal, in derselben Weise; mit dem Joch ausländischer, übel eingeführter Freiheit würde[296] ein fremdes Volk aufs ärgste belästigt. Eine Geschichte also, die bei allen Ländern auf diesen utopischen Plan nach unbewiesenen Grundsätzen alles berechnet, ist die glänzendste Truggeschichte. Ein fremder Firnis, der den Gestalten unsrer und der vorigen Welt ihre wahre Haltung, selbst ihre Umrisse raubet. Viele Schriften unsrer Zeit wird man zwanzig Jahr später als wohl- oder übelgemeinte Fieberphantasien lesen; reifere Gemüter lesen sie jetzt schon also.

Also bleibt der Geschichte einzig und ewig nichts als der Geist ihres ältesten Schreibers, Herodots, der unangestrengte milde Sinn der Menschheit. Unbefangen sieht dieser alle Völker und zeichnet jedes auf seiner Stelle, nach seinen Sitten und Gebräuchen. Unbefangen erzählt er die Begebenheiten und bemerkt, wie allenthalben nur Mäßigung die Völker glücklich mache und jeder Übermut seine Nemesis hinter sich habe. Dies Maß der Nemesis, nach feineren oder größeren Verhältnissen angewandt, ist der einzige und ewige Maßstab aller Menschengeschichte.

»Was du nicht willst, das dir geschehe, das tue keinem andern«; die Rache kommt, ja sie ist da, bei jeder Verirrung, bei jedem Frevel. Alle Mißverhältnisse und Unbilligkeiten, jede stolze Anmaßung, jede feindselige Verhetzung, jede Treulosigkeit hat ihre Strafe mit oder hinter sich; je später, desto schrecklicher und ernster. Die Schuld der Väter häuft sich mit zerschmetterndem Gewicht auf Kinder und Enkel. Gott hat den Menschen nicht erlaubt, lasterhaft zu sein als unter dem harten Gesetz der Strafe.

Wiederum belohnt sich auch in der Geschichte das kleinste Gute. Kein vernünftiges Wort, was je ein Weiser sprach, kein gutes Beispiel, kein Strahl auch in der dunkelsten Nacht war je verloren. Unbemerkt wirkte es fort und tat Gutes. Kein Blut des Unschuldigen ward fruchtlos vergossen; jeder Seufzer des Unterdrückten stieg gen Himmel und fand zu seiner Zeit einen Helfer. Auch Tränen sind in der Saat der Zeit Samenkörner der glücklichsten Ernte. Das Menschengeschlecht ist ein Ganzes; wir arbeiten und dulden, säen und ernten füreinander.[297]

Wie milde, wie sanft aufmunternd, aber auch wie ernst und zusammenhaltend ist dieser Geist der Menschengeschichte! Er läßt jedes Volk an Stelle und Ort, denn jedes hat seine Regel des Rechts, sein Maß der Glückseligkeit in sich. Er schonet alle und verzärtelt keines. Sündigen die Völker, so büßen sie; und büßen so lange und schwer, bis sie nicht mehr sündigen. Wollen sie nicht Kinder sein, so erzieht die Natur sie als Sklaven.

Keiner politischen Verfassung tritt dieser Geist der Geschichte zerstörend in den Weg. Er wirft nicht das Haus dem Ruhigen über dem Kopf zusammen, ehe ein anderes besseres da ist, zeigt aber dem zu Sichern mit freundlicher Hand Fehler und Mängel des Hauses und führt mit stillem Fleiß Materialien herbei zur Stützung des alten oder zum Bau eines bessern.

Nationalvorurteile tastet er nicht an; denn in ihnen als Hülsen oder harten Schalen muß manche gute Gesinnung wachsen. Er läßt sie wachsen. Wenn die Frucht reif ist, verdorret die Hülse, die Schale zerspringt. Ihm ist's recht, wenn der Franzmann und der Engländer sich ihre humanité und humanity englisch und französisch malen; desto weniger wird der Ausländer um sie zu seinem Verderb buhlen. Aus seinem Herzen muß eine Geliebte hervorgehn, die für ihn gehöret.

Am heiligsten sind dem Geist der Menschengeschichte gutmütige Toren und Schwärmer; sie sind ihm unter der besondersten göttlichen Obhut. Ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Erde; die man für Schwärmer hielt, haben dem menschlichen Geschlecht die nützlichsten Dienste geleistet. Trotz alles Spottes, trotz jeder Verfolgung und Verachtung drangen sie durch; und wenn sie nicht zum Ziel kamen, so kamen sie doch weiter und brachten weiter. Lebendige Winde waren sie über dem abgestandenen Sumpf; oder sie dämmeten ihn und machten ihn fruchtbar. Leeren Spott über sie erlaubt sich nie der Geist der Geschichte; höchstens bedauren wird er sie, nicht brandmalen.

Alle überfeinen Einteilungen der Menschen nach Prinzipien,[298] aus denen sie ausschließend handeln sollen, sind dem Geist der Geschichte ganz fremde. Er weiß, daß in der Menschennatur das Principium der Sinnlichkeit, der Einbildungskraft, des Eigennutzes, der Ehre, des Mitgefühls mit andern, der Gottseligkeit, des moralischen Sinnes, des Glaubens u.f. nicht in abgetrennten Kammern wohnen, sondern daß in einer lebendigen Organisation, die von mehreren Seiten geregt wird, viele von ihnen, oft alle lebendig zusammenwirken. Jedem von ihnen läßt er seinen Wert, seinen Rang, seinen Ort, seine Zeit der Entwicklung; überzeugt, daß alle, auch unbewußt, zu einem Zweck, dem großen Principium der Menschlichkeit, wirken. Alle also läßt er zu ihrer Zeit an Stelle und Ort blühn, Sinnlichkeit und die Künste der Phantasie, Verstand und Sympathie, Ehre, moralischen Sinn und heilige Andacht. Er zwingt so wenig den Magen zu denken als den Kopf zu verdauen und quälet niemand mit der Zergliederung, ob auch jeder Bissen Brot, den er in den Mund steckt, ein allgemeines moralisches Grundgesetz aller vernünftigen Wesen im Kauen und Verdauen gebe. Kaue jeder, wie er kann; die Geschichte behandelt die Menschen nicht als Wortfinder und Kritiker, sondern als Täter eines moralischen Naturgesetzes, das in ihnen allen spricht, das zuerst linde warnet, dann härter straft und jede gute Gesinnung durch sich und ihre Folgen reich belohnet. Reizet Sie nicht dieser Geist der Menschengeschichte?


122.

Sie scheinen zu glauben, daß eine Geschichte der Menschheit nicht statthabe, solange man den Ausgang der Dinge nicht weiß oder, wie man zu sagen pflegt, den Jüngsten Tag noch nicht erlebt hat. Ich bin nicht dieser Meinung. Möge sich das Menschengeschlecht verbessern oder verschlimmern, möge es einst zu Engeln oder Dämonen, zu Sylphen oder zu Gnomen werden: wir wissen, was wir zu tun haben. Nach festen Grundsätzen unsrer Überzeugung von Recht und Unrecht[299] betrachten wir die Geschichte unsres Geschlechts, möge sein letzter Akt ausgehn, wie er wolle.

Monboddo z.B. siehet in seiner Geschichte und Philosophie des Menschen280 ihn als ein System lebendiger Kräfte an, in welchem sich das Elementarische, das Pflanzen-, Tier- und Verstandesleben unterscheide. Das animalische Leben, meint er, sei im besten Zustande gewesen, da die Menschen tierähnlich lebten. Er findet hievon noch Ähnlichkeit bei den Kindern. Die Alter, die der Mensch als Individuum durchgehe, hält er auch für die Laufbahn des ganzen Geschlechtes. Dies führt er also in seinen ersten nackten Zustand in freier Luft, in Regen, in Kälte zurück und zeigt, was die Bekleidung, das Wohnen in Häusern, der Gebrauch des Feuers, die Sprache auf das Menschengeschöpf gewirkt haben. Er zeigt die Fähigkeiten, die es hatte, zu schwimmen, aufrecht zu gehen, Übungen anzustellen, und findet in diesem Zustande den Grund jenes längeren Lebens, jener größeren Gestalt und Stärke, von der uns die Sage der Urwelt erzählet. Aus Beispielen und Nachrichten erweiset er, wie durch Veränderung der Lebensweise, durchs Fleischessen und den Trank geistiger Getränke, durch die sitzende Lebensart bei Künsten, Gewerben, Spielen, durch feinere Nahrungsmittel, Wollüste und Zeitvertreibe der Körper des Menschen geschwächt, verkleinert, sein Leben verkürzt worden – Dagegen zeigt er, wie der Verstand des Menschen durch Gesellschaft und Künste zugenommen, wie die Sagazität eines Naturmenschen von der Klugheit des zivilisierten Mannes sich unterscheide, wie alle Künste aus Nachahmung entsprungen und die Idee des Schönen bloß dem zivilisierten Zustande eigen sei. In beiden Altern der Menschheit findet er Nationen, Familien, Individuen unterschieden, unser Geschlecht aber überhaupt in Abnahme animalischer Kräfte und hat hierüber Erinnerungen gegeben, die jeder anwende, wie er mag und kann. –[300]

Gehen wir in dies alles ein (wie denn Monboddos System, einiger Eigenheiten des Verfassers wegen, gewiß nicht lächerlich gemacht zu werden verdienet), nehmen wir an, was auch die Geschichte lehret, daß fast alle Völker der Erde einmal in einem roheren Zustande gelebet und nur von wenigen die Kultur auf andre gebracht sei, was folget daraus?

1. Daß auf unsrer runden Erde noch alle Zeitalter der Menschheit leben und weben. Da gibt's Völkerschaften im Kindes-, Jünglings-, Mannesalter, und wird deren wahrscheinlich noch lange geben, ehe es den seefahrenden Greisen Europas gelingt, durch gebrannte Wasser, Krankheiten und Sklavenkünste sie zum Greisesalter zu befördern. Wie uns nun jede Pflicht der Menschlichkeit gebeut, einem Kinde, einem Jünglinge sein Lebensalter, das System seiner Kräfte und Vergnügen nicht zu stören, so gebietet sie solches auch Nationen gegen Nationen. Sehr angenehm sind mir in diesem Betracht mehrere Unterredungen der Europäer, insonderheit der Missionare, mit ausländischen Völkern, z.B. Indiern, Amerikanern; die naivsten Antworten voll guten Herzens und gesunden Verstandes waren fast immer auf Seite der Ausländer. Sie antworteten kindisch-treffend und richtig; dagegen die Europäer mit Aufdringung ihrer Künste, Sitten und Lehren meistens die Rolle abgelebter Alten spielten, die völlig vergessen hatten, was einem Kinde gehörte.

2. Da die Unterscheidung elementarischer, animalischer, vegetativer und Verstandeskräfte nur ein Gedanke ist, indem jeder Mensch aus allen diesen, wenngleich in verschiedenem Verhältnis, bestehet, so hüte man sich, diese und jene Nation ganz für animalisch zu halten, um sie als Lasttiere zu gebrauchen. Der reine Intellectus bedarf keines Lasttiers, und sowenig also der intellektuellste Europäer der Pflanzen- und Tierkräfte in seinem Lebenssystem entbehren kann, sowenig ermangelt irgendeine Nation ganz des Verstandes. Vielgestaltig ist dieser allerdings in Ansehung der ihn regenden Sinnlichkeit nach der verschiedenen Organisation der Völker; indessen ist und bleibt er in allen Menschengestalten nur ein[301] und derselbe. Das Gesetz der Billigkeit ist keiner Nation fremd; die Übertretung desselben haben alle gebüßet, jede in ihrer Weise.

3. Wenn intellektuelle Kräfte in mehrerer Ausbildung der Vorzug der Europäer sind, so können sie diesen Vorzug nicht anders als durch Verstand und Güte (beide sind im Grunde nur eins) beweisen. Handeln sie impotent, in wütenden Leidenschaften, aus kaltem Geiz, in niedrig-vermessenem Stolze, so sind sie die Tiere, die Dämonen gegen ihre Mitmenschen. Und wer leistet den Europäern Bürgschaft, daß es ihnen nicht an mehreren Enden der Erde wie in Abessinien, China, Japan ergehen könne und ergehen werde? Je mehr ihre Kräfte und Staaten in Europa altern, je mehr unglückliche Europäer einst diesen Weltteil verlassen, um dort und hier mit den Unterdückten gemeinschaftliche Sache zu machen, so können intellektuelle und animalische Kräfte sich in einer Weise verbinden, die wir jetzt kaum vermuten. Wer siehet in die vielleicht schon gepflanzte Saat der Zukunft? Kultivierte Staaten können entstehen, wo wir sie kaum möglich glauben; kultivierte Staaten können verdorren, die wir für unsterblich hielten.

4. Sollte in Europa auf Wegen, die wir zu bestimmen nicht vermögen, die Vernunft einmal so viel Wert gewinnen, daß sie sich mit Menschengüte vereinigte, welch eine schöne Jahrszeit für die Glieder der Gesellschaft unsres ganzen Geschlechtes! Alle Nationen würden daran teilnehmen und sich dieses Herbstes der Besonnenheit freuen. Sobald im Handel und Wandel das Gesetz der Billigkeit allenthalben auf Erden herrschet, sind alle Nationen Brüder; der Jüngere wird dem Älteren, das Kind dem verständigen Greise mit dem, was es hat und kann, willig dienen281

5. Und wäre diese Zeit undenkbar? Mich dünkt, sie müsse selbst auf dem Wege der Not und des Kalküls erscheinen.

[302] Selbst unsre Ausschweifungen und Lastertaten müssen sie fördern. In Verhältnissen des Menschengeschlechts müßte keine Regel, in seiner Natur keine Natur herrschen, wenn nicht durch innere Gesetze dieses Geschlechts selbst und den Antagonismus seiner Kräfte diese Periode herbeigebracht würde. – Gewisse Fieber und Torheiten der Menschheit müssen mit Fortrückung der Jahrhunderte und Lebensalter abbrausen. Europa muß ersetzen, was es verschuldet, gutmachen, was es verbrochen hat, nicht aus Belieben, sondern nach der Natur der Dinge selbst; denn übel wäre es mit der Vernunft bestellt, wenn sie nicht allenthalben Vernunft und das Allgemeingute nicht auch das Allgemeinnützlichste wäre. Die Magnetnadel unsrer Bestrebungen sucht diesen Pol; nach allen Irren und Schwankungen wird und muß sie ihn finden. –

6. Daß also niemand aus dem Ergrauen Europas den Verfall und Tod unsres ganzen Geschlechts auguriere! Was schadete es diesem, wenn ein ausgearteter Teil von ihm unterginge? wenn einige verdorrete Zweige und Blätter des saftreichen Baumes abfielen? Andre treten in der Verdorreten Stelle und blühen frischer empor. Warum sollte der westliche Winkel unsres Nordhemisphärs die Kultur allein besitzen, und besitzet er sie allein?

7. Die größesten Revolutionen des Menschengeschlechts hingen bisher von Erfindungen oder von Revolutionen der Erde ab; wer kennet diese in der unabsehlichen Folge der Zeiten? Klimate können sich ändern; aus mehreren Ursachen kann manches bewohnte Land unbewohnbar, manche Kolonie zum Mutterlande werden Wenige neue Erfindungen können viele ältere aufheben; und da überhaupt die höchste Anstrengung (unleugbar der Charakter fast aller europäischen Staatskunst) notwendig nachlassen oder überstürzen muß: wer vermag die Folgen hievon zu berechnen? Wahrscheinlich ist unsre Erde ein organisches Wesen; wir kriechen auf dieser Pomeranze wie kleine, kaum merkbare Insekten umher, quälen einander und bauen uns hie und da an. Wenn der[303] Himmel fällt, sagt das Sprüchwort, wo bleiben die Sperlinge? Wenn hier oder dort die Pomeranze modert, tritt vielleicht eine andre Generation auf, ohne daß deshalb die erste eben am intellektuellen Teil ihres Systems, am Verstande, untergegangen wäre. Was sie eher hinrichten konnte, war Ausschweifung, Laster, Mißbrauch ihres Verstandes. Gewiß sind die Perioden der Natur in Ansehung aller Geschlechter aufeinander kalkulieret, daß, wenn die Erde Menschen nicht mehr wärmen und nähren kann, Menschen ihre Bestimmung auf ihr auch erfüllt haben werden. Die Blüte welket, sobald sie ausgeblühet hat; sie lässet aber auch Frucht nach. Wäre also die höchste Äußerung intellektueller Kraft unsre Bestimmung, so foderte eben diese von uns, dem künftigen, uns unbekannten von einen guten Samen nachzulassen, damit wir nicht als weichliche Mörder sterben.

Monboddo sieht unsere Erde als eine Erziehungsanstalt an, aus der unsre Seelen gerettet werden. Der einzelne Mensch kann und darf sie nicht anders ansehen; denn er kommt und geht vorüber. Auf der Stelle, auf welcher er ohne sein Wollen erscheinet, muß er sich helfen, so gut er kann, und das System seiner Elementar- und vegetativen, seiner animalischen und intellektuellen Kräfte ordnen lernen. Allmählich sterben sie ihm ab, bis der ausgebildete Geist verflieget. – Auch hier ist Monboddos System konsequent, das ich, unvollendet wie es ist, mancher andern kaufmännisch-politischen Geschichte der Menschheit vorziehe. Zu einer Geschichte unsres Geschlechts gehören kaufmännisch-politische Konsiderationen nur als ein Bruchstück; ihr Geist ist sensus humanitatis, Sinn und Mitgefühl für die gesamte Menschheit.


Der Geist der Schöpfung

Auch ich war Pilgrim in der Wüstenei,

Und matt vom Wege sprach ich: »Herr der Welt!

Ein Blick von dir verjüngt die Schöpfung. – Sieh!

Die Sonne brennt auf mich; im Sande glüht[304]

Mein nackter Fuß, und meine Zunge lechzt.

Ich wanke. Herr, mein Licht erlischt.«

Da sah

Ich vor mir einen schmalen Rasen, rings

Umflochten von Gebüsch. Ein Palmbaum stand

An einer Quelle, und auf Baum und Büschen

Hing unter Blüten manche schöne Frucht.

Ich kostete, ich trank, ich dankte Gott

Und legte mich zur Ruhe nieder. Sanft

Umhüllete der Schlaf mein Auge, bis

Ein Wundertraum mich schnell erweckete.

Der Geist der Schöpfung stand vor mir und sprach:

»Steh auf, o Mensch! Du hast genug geruht

Auf diesem Beet von zehentausend Pflanzen

Und Kräutern meines Herrn. Du bist gestärkt.

Die Hindin dort will auch verschmachten. Scheu

Erwartet sie, daß du aufstehest.« – Auf

Sprang ich und sah die Hindin mir zu Füßen,

Die Mutter war. Sie blickte froh mich an

Und sprang zu ihrer Weide.

»Guter Gott,«

Rief ich, »der du für alles sorgest. Wenn

Dein Wink dort Sonnen lenkt, so denkst du auch

Des Wandrers in der Wüste, daß sein Stab

Nicht breche, daß die Hindin nicht verschmachte.«


Die Zeitenfolge

Komm, Unzufriedner, näher! Tritt herzu,

An dessen Herzen Mißvergnügen nagt.

Schuf irgendwen der Allmacht Hand zur Qual?

Er, der nur Huld ist,

ist, schuf er je zum Unglück?
[305]

Es sprach der Mächtige (die Wahrheit spricht

In allen seinen Werken): »Euer Tagswerk

Sei Seligkeit. Mit diesem Segen laß ich,

Geschöpfe, euch aus meiner Hand.«

Und sieh!

Da standen sie, die Lebenden, unwissend,

Was Leben war. Sie schöpften Odem wie

Nach einem schweren Traum; sie sahn die Welt!


Und Engel ließen sich auf Wolken nieder,

Bewundernd dieser Schöpfung neuen Raum,

Die Wohnung süßer Freuden; sahn im Geist

Glückselige zukünft'ger Zeiten wallen

Und riefen, voll von himmlischem Gefühl:

»Du hast hier reiche Saaten ausgestreut,

Allgütiger! Wer kann die Ernte fassen

In diesen Segensgründen? Trauen wird

Der Gute dir! Gelingen wird sein Werk.«


So sangen sie. Hebt eure Augen auf,

Ihr Menschen, sehet eures Vaters Schöpfung

Und hofft auf ihn. Auch in der Menschheit kann

Sein Werk nicht fehlen.

Du der Welten Vater!

Ich weiß es, Worte tun es nicht vor dir.

Beredsamkeit verstummet. Wie sich Kinder

Der Blumen freun, freun wir uns deiner Schöpfung.

Wie ihrer zeitlichen Versorger sie

Zutrauend harren, hoffen wir auf dich

Und üben froh dein Werk. Die schönste Gabe

Des Sterblichen ist ein zufriednes Herz.


Das Gegengift

Preis sei dem Geber! jede seiner Gaben

Ist huld- und weisheitvoll. Er teilte sie,

Er wog sie ab zur langen Dauer und
[306]

Vollkommenheit der Schöpfung.

Seine Erde

Gab er nicht Engeln; Menschen gab er sie.

Der Menschen Bester ist, wer selten strauchelt,

Ihr Edelster, wer bald vom Fall aufsteht.


Tief keimete das Laster in der neu

Geschaffnen Erde; wild schoß es empor,

Gift seine Blüte, seine Früchte Tod.


Da schuf er ihm ein mächtig Gegengift,

Für Torheit ein Verwahrungsmittel, Arbeit.

Sie macht, er uns zum heiligsten Gesetz,

Den Fleiß zur Pflicht.

Arbeitsamkeit verriegelt

Die Tür dem Laster, das dem Müßigen

Zur Seite schleicht und hinter ihm das Unglück.


Willst du dem Feinde fluchen, wünsch ihm Muße;

Auf Muße folgt viel Böses und des Kummers

Gar viel.

Arbeitsam wirkt die Seele froh;

Langweil'ger Müßiggang beschäftigt sie

Zur Reue, zum Verderben. Torheit leitet

Den Müßigen; Mutwill und Vorwitz führen

Ins Dunkel ihn, wo Gott nicht ist.

Arbeitet,

Ihr Weisen in dem Volk, befördert euer

Und vieler Glück.

Wo wohnt Beruhigung?

Wo Segen der liebreichen Gottheit? Wo

Genuß der Tage? Wo das edelste

Vergnügen? Nur in Arbeit! – – –


123.

[307] Von frühen Jahren habe ich mich auch in die fremdesten Hypothesen zu setzen gesucht, und ich kam fast von allen mit dem Gewinn einer neuen Seite der Wahrheit oder ihrer Bestärkung zurück; darf ich aber bekennen, daß ich der Hypothese von einer radikalen bösen Grundkraft im menschlichen Gemüt und Willen durchaus nichts Gutes abgewinnen kann?282 Ich lasse sie jedem Liebhaber; meinem Verstande bringt sie kein Licht, meinem Herzen keine freudige Regung.

Gewöhnlich leitet man die Hypothese von zweien einander feindseligen Grundursachen der Dinge von den Persern her; ihre böse Anwendung aber sollte man nicht daher leiten. In der Physik war's offenbar Kindheit der Wissenschaft, wenn man die Nacht für böse, den Tag für gut erklärte; die Gesetze, die beide hervorbringen, sind gut und höchst einfach. In der Moral sind sie es ebensosehr; und die Philosophie der Perser ging gerade darauf hin, dies auszuführen. Die Finsternis, sagte sie, sei Unform; das Licht, seiner Natur nach, bilde, leuchte und erwärme. Trotz aller Widerstrebungen sei Ahriman schwach; Ormuzd werde und müsse ihn überwinden. Ihre Religion foderte also in Gedanken, Worten, Handlungen zu diesem Siegeskampf als zum eigentlichen Geschäft des menschlichen Lebens auf. Licht zu schaffen und fortzubreiten, wirksam zu sein in jedem Guten, zu reinigen, zu erfreuen, sei unser Geschäft. Eben deshalb stehen wir zwischen Licht und Dunkel. –

Das Christentum ging mit tiefergreifenden Regungen auf diesem Wege fort. Kein sklavisches Volk, das sich ewig unter dem Joch krümmt und an Ketten windet, sollte nach ihm das Menschengeschlecht sein, sondern ein freies, fröhliches Geschlecht, das ohne Furcht eines machthabenden Henkergeistes das Gute des Guten wegen, aus innrer Lust, aus angeborner Art und höherer Natur tue, dessen Gesetz ein [308] königliches Gesetz der Freiheit, ja dem eigentlich kein Gesetz gegeben sei, weil die Gottesnatur in uns, die reine Menschheit, des Gesetzes nicht bedörfe.

Unverkennbar ist dies der Geist des Christentums, seine native Gestalt und Art. Nur dunkle barbarische Zeiten haben den großen Lehnsherren des Bösen, dessen angebornes Erbvolk wir sei'n, von dem uns Gebräuche, Büßungen und Geschenke zwar nicht wirklich, aber gewandsweise befreien könnten, der Stupidität und Brutalität antichristlich wiedergegeben. Wer wollte in diese Miltonsche Hölle greifbarer Nacht und solider Finsternis zurückkehren? –

Über der Erde sehen wir von dieser massiven Urhölle nichts. Wo Böses ist, ist die Ursache des Bösen Unart unsres Geschlechts, nicht seine Natur und Art. Trägheit, Vermessenheit, Stolz, Irrtum, Hartsinn, Leichtsinn, Vorurteile, böse Erziehung, böse Gewohnheit: lauter Übel, die vermeidlich oder heilbar sind, wenn neues Leben, Munterkeit zum Guten, Vernunft, Bescheidenheit, Billigkeit, Wahrheit, eine beßre Erziehung, bessere Gewohnheiten von Jugend auf einzeln und allgemein einkehren. Die Menschheit ruft und seufzet, daß dieses geschehe, da offenbar jede Untugend und Untauglichkeit sich selbst straft, indem sie keinen wahren Genuß gewähret und eine Menge Übel auf sich und auf andre häufet. Offenbar sehen wir, daß wir dazu da sind, dies Reich der Nacht zu zerstören, indem niemand es für uns tun kann und soll. Nicht nur tragen wir die Last unsres Unglücks, sondern unsre Natur ist zu diesem und zu keinem andern Werk eingerichtet; es ist Zweck unsres Geschlechts, der Endpunkt unsrer Bestimmung, uns dieser Unart zu entladen. Das ganze Universum treibt, wenn uns die Früchte des Werks nicht locken, mit Nesseln und Dornen. – Was soll also Verzweiflung als unter einem nie abzuwerfenden Joch? wozu der Traum einer von der Wurzel aus unwiederbringlichen Menschheit?

Keine Hypothese kann uns wert sein, die unser Geschlecht aus seinem Standort rückt, die es bald an die Stelle der gefallenen[309] Engel stellt, bald unter ihre Vormundschaft und Oberherrschaft erniedrigt. Die gefallenen Engel kennen wir nicht, aber uns kennen wir und wissen, wenn und warum wir gefallen sind, fallen und fallen werden. –

Das Dasein jedes Menschen ist mit seinem ganzen Geschlecht verwebet. Sind unsre Begriffe über unsre Bestimmung nicht rein, was soll diese und jene kleine Verbesserung? Sehet ihr nicht, daß dieser Kranke in verpesteter Luft liegt? Rettet ihn aus derselben, und er wird von selbst genesen. Beim Radikalübel greift die Wurzeln an; sie tragen den Baum mit Gipfel und Zweigen.

Das Werk ist groß; es soll aber auch so lange fortgesetzt werden, als die Menschheit dauret; es ist das eigenste und einzige, das belohnendste und fröhlichste Geschäft unsres Geschlechtes.

Und wie wird dies Geschäft betrieben? Bloß durch Erweiterung und Verfeinerung der Verstandeskräfte? Intelligenz ist des Menschen edler Vorzug, das unentbehrliche Werkzeug seiner Bestimmung. Wissenschaft alles Wissenswürdigen, Verstand alles Brauchbaren, Schönen und Edeln ist erleuchtender Sonnenglanz in der dunkeln Dunstkugel der Erde; er darf und muß sich so weit erstrecken, als er sich erstrecken kann, vom letzten Nebelstern über die gesamte Natur an die Grenzen der werdenden Schöpfung.

Verstand ist der Gemeinschatz des menschlichen Geschlechts; wir alle haben daraus empfangen, wir alle sollen unsre besten Gedanken und Gesinnungen hineintragen. Wir rechnen mit Kombinationen der Vorzeit; die Nachwelt soll mit unsern Kombinationen rechnen, und allerdings geht dieser Kalkül ins Große, Weite, Unendliche hinaus. Wer unternimmt's zu sagen, wohin das Menschengeschlecht in seinen fortgesetzten, aufeinandergebaueten Bemühungen gelangen könne und vielleicht gelangen werde? Jede neuerlangte Potenz ist die Wurzel zu einer zahllosen Reihe neuer Potenzen.

Verstand indessen tut's nicht allein; auch den Dämonen schreiben wir einen dämonischen Verstand zu; der unsre sei [310] menschlich, von tätiger Güte begleitet. Blicke umher! Wieviel wahre und echte Wissenschaft ist ungebraucht in der Welt! wieviel Verstand liegt unterdrückt und begraben! wieviel andrer wird mißgebrauchet! Scheinwahrheit, starres Vorurteil, heuchelnde Lüge, träge Lust, vernunftlose Willkür verwirren unser Geschlecht. Ein gestärkter großer und guter Wille also, Übungen von Jugend auf, Kampfpreise und Gewöhnung, daß uns das Schwerste zum Leichtesten werde, und vor allem jenes unerläßliche Bestreben nach dem Notwendigen, was unser Geschlecht fodert, mit Vorbeilassung alles Entbehrlichen und Schlechten: sie allein können den Verstand zum Guten geltend machen, ihm aufhelfen und das Werk fördern. Wie lange haben wir uns mit dem Unnützen beschäftigt? Zeigen uns nicht Jahrtausende der Menschengeschichte unsern Unverstand, unsre kindische Trivialität und Feigheit?

Einheit unsrer Kräfte also, Vereinigung der Kräfte mehrerer zu Beförderung eines Ganzen im Wohl aller – mich dünkt, dies ist das Problem, das uns am Herzen liegen sollte, weil jedem es sein innerstes Bewußtsein wie sein Bedürfnis stille und laut saget.

»Gesetzgeber, Erzieher, Freunde der Menschheit,« sagt ein edler Mann unsrer Nation,283 »lasset uns unsre Kräfte vereinigen, um dem Menschen zu beweisen, daß in den unendlich verschiedenen Lagen des Lebens er das innere Glück nirgend finde als in der wirksamen und tätigen Einheit seines Charakters. Strebend nach eigner Vollkommenheit, die Vorschriften einer allgemeinen und wohltätigen Vernunft frei und standhaft befolgend, wird er Verirrungen, Verbrechen, inneren Vorwürfen entgehen. Als Mensch und Bürger wird er die Glückseligkeit[311] im Zeugnis seines Gewissens finden. So bringt der Mensch die unendliche Verschiedenheit seiner Empfindungen, Gedanken, Bestrebungen zur Einheit eines wahren, reinen, wirksamen, moralischen Charakters.«

Und darf ich dies edle Bild weiter hinausprägen, so liegt im Menschengeschlecht eine unendliche Verschiedenheit von Empfindungen, Gedanken, Bestrebungen zur Einheit eines wahren, wirksamen, rein moralischen Charakters, der dem ganzen Geschlecht gehöret. Wie jede Klasse von Naturgeschöpfen ein eignes Reich ausmacht, auf andre Reiche bauend, in andre hineingreifend, so das Menschengeschlecht mit dem besondern und höchsten Abzeichen, daß die Glückseligkeit aller von den Bestrebungen aller abhängt und in ihm bei der größesten Verschiedenheit in dieser sehr erhabnen Einheit allein stattfinde. Wir können nicht glücklich oder ganz würdig und moralisch gut sein, so lange z.B. ein Sklave durch Schuld der Menschen unglücklich ist; denn die Laster und böse Gewohnheiten, die ihn unglücklich machen, wirken auch auf uns oder kommen von uns her. Die Anmaßung, der Geiz, die Weichlichkeit, die alle Weltteile betrügt und verwüstet, haben ihren Sitz bei und in uns; es ist dieselbe Herzlosigkeit, die Europa wie Amerika unter dem Joch hält. Dagegen auch jede gute Empfindung und Übung eines Menschen auf alle Weltteile wirket. Die Tendenz der Menschennatur fasset ein Universum in sich, dessen Aufschrift ist: »Keiner für sich allein, jeder für alle, so seid ihr alle euch einander wert und glücklich.« Eine unendliche Verschiedenheit, zu einer Einheit strebend, die in allen liegt, die alle fördert. Sie heißt (ich will's immer wiederholen) Verstand, Billigkeit, Güte, Gefühl der Menschheit.


Freude

Freue dich, edles Herz, das hold der Freude ist!

Schuf nicht der Schöpfer der Welt

Alles zur Freude?

Wer sich freuet, erfüllt der Schöpfung Zweck,
[312]

Süße Gabe des Gebers, gieße dich ganz in mich!

Noch ist mein Herz von Tücke nicht befleckt.

So hüpfe dann das vergängliche Paradies hindurch,

Du nicht mit drückenden Lasten beschwertes Herz.


Sei froh des Vergangenen!

Jeglicher Labung froh, die du dem müden Pilger

Darreichen konntest; danke dem Herrn der Welt,

Der dir zu reichen sie gab.


Häuser, die deine Hände gestützt,

Hütten, die deine Hände befestigten,

Siehe sie froh! – Besuche des Greises Grab,

Der sich an deinen Troststab lehnete.


Komme der große Tag, an welchem der Schöpfung Herr

Gericht hält! wann die Scharen um ihn stehn


Voll heiliger Erwartung. Sanfte Stille

Verbreitet sich die sieben Himmel hindurch.


Du trittst, ein Jüngling, mit tausendmal Tausend

hervor,

Anzubeten. Der Spruch des Richters ist:

»Was ihr der Menschheit tatet, tatet ihr

Mir selbst. Geht ein zu eures Herren Freude.«


124.

Und warum verhehlen wir eine Norm der Ausbreitung des moralischen Gesetzes der Menschheit, die uns so nahelieget? Das Christentum gebietet die reinste Humanität auf dem reinsten Wege. Menschlich und für jedermann faßlich, demütig, nicht stolz-autonomisch, selbst nicht als Gesetz, sondern als Evangelium zur Glückseligkeit aller gebietet und gibt es verzeihende Duldung, eine das Böse mit Gutem überwindende[313] tätige Liebe. Es gebiete nicht als Gegenstand der Spekulation, sondern gibt sie als Licht und Leben der Menschheit, durch Vorbild und liebende Tat, durch fortwirkende Gemeinschaft. Es dienet allen Klassen und Ständen der Menschheit, bis in jeder jedes Widrige zu seiner Zeit von selbst verdorret und abfällt. der Mißbrauch des Christentums hat zahlloses Böse in der Welt verursacht: ein Erweis, was sein rechter Gebrauch vermöge. Eben daß, wie es gediehen ist, es so viel gutzumachen, zu ersetzen, zu entschädigen hat, zeigt nach der Regel, die in ihm liegt, daß es dies tun müsse und tun werde. Der Labyrinth seiner Mißbräuche und Irrwege ist nicht unendlich, auf seiner reine Bahn zurückgeführt, kann es nicht anders als zu dem Ziel streben, den sein Stifter schon in dem von ihm gewählten Namen »Menschensohn« (d.i. Mensch) und im Gerichtsspruch des letzten Tages ausdrückte. Wenn die schlechte Moral sich an dem Satz begnügt: »Jeder für sich, niemand für alle!,« so ist der Spruch: »Niemand für sich allein, jeder für alle!« des Christentums Losung.


Der Himmlische

Heil und Gebet dem Mann in Himmelglanz,

Zu dessen Füßen jetzt die Sterne wallen;

Wie Mond und Sonne glänzt sein Angesicht.


Er denke unser, wenn wir beten, wenn

Sich unser Herz zum Armen freundlich neigt,

Und lasse jeden Wandrer Schatten finden

Und jedem Durstenden zeig er den Quell.


Er war es selbst einst, der Menschlichkeit

Die Menschen lehrte, der Erbarmen, Sanftmut

Und Milde zur Religion uns gab.


Heil und Gebet dem Mann, der Menschlichkeit

Die Menschen lehrte, der Erbarmen, Sanftmut

Und Milde zur Religion uns gab.


241

Die französische Schrift »De la félicité publique ou considérations sur le sort des hommes dans les différentes époques de l'histoire,« Amsterd. 1772, behandelt ein Thema, dem nicht gnug Aufmerksamkeit gewidmet werden kann. Wozu die Geschichte, wenn sie uns nicht das Bild der glücklichen oder unglücklichen, der verfallenden oder sich aufrichtenden Menschheit zeiget?

242

Siehe unter hundert andern des menschlichen Levaillants neuere Reisen ins Innere von Afrika, Berl. 1796, mit Reinhold Forsters Anmerkungen. »Nicht nur am Vorgebürge der guten Hoffnung,« sagt dieser schätzbare Gelehrte (T. 1, S. 69), »sondern auch in Nordamerika, an der Hudsonbay, in Senegal, am Gambia, in Indien, kurz, allenthalben, wohin Europäer kommen, betriegen sie die armen Eingebornen im Handel. Besonders macht England, das neue Karthago, den Namen der Europäer in allen andern Weltteilen verabscheuet.« – So Forster. Und wäre es mit dem Betriegen allein ausgerichtet! Der Hefen von Europa hat Gärungen gemacht und erhält Gärungen in allen Weltteilen. A.d.H.

243

Unparteiische und unübertriebene Bemerkungen darüber findet man in Reinhold Forsters Anmerkungen wie zu mehreren, so zu Hamiltons Reise um die Welt, Berlin 1794.

244

Mit Recht nennen die französischen Geschichtschreiber die Namen derer, die 1572 zum Bartholemäusfest ihre Hände nicht bieten wollten: »... la cour ordonna dans toutes les provinces les mêmes massacres qu'à Paris; mais plusieurs commandants refusèrent d'obéir. Un Sr. Herem en Auvergne, un la Guiche à Macon, un Vicomte d'Orte à Bayonne et plusieurs autres écrivirent à Charles IX la substance de ces paroles, qu'ils périroient pour son service, mais qu'ils n'assassineroient personne pour lui obéir.« Was diese Männer mit gesunder Hand schrieben, zeigte der Neger.

245

Die entehrendste Negerstrafe.

246

»C'est à ce même Cardinal Espinosa que Philippe II donna le coup de la mort par un mot de réprimande: ›Cardinal‹, lui dit-il, ›souvenez-vous que je suis le Président!‹« [...] Espinosa en mourut de douleur quelques jours après. Dans une syncope, qui lui prit, on se pressa tant de l'ouvrir pour l'embaumer, qu'il porta la main au rasoir du chirurgien, et que son cœeur palpita encore après l'ouverture de l'estomac. [...] la crainte qu' on avoit que ce Cardinal ne revînt en santé, fit hâter sa mort, pour contenter le Prince, les Grands [...].« – »Mémoir. historiques, politiques« par Amelot de la Houssaye, T. 1, S. 210.

247

In Jamaika ist eine freie Negerrepublik, deren Unabhängigkeit im Jahr 1738 von den Engländern anerkannt und bestätigt werden mußte.

248

Delaware, ein Fluß in Nordamerika. Die Quacker nennen sich, Freunde.

249

Mich dünkt, der Brief ziele hier auf eine Stelle in Homes Geschichte der Menschheit, der es bei großem Reichtum der Materialien in mehreren Stücken an festen Grundsätzen mangeln dörfte. – In den meisten Kommerz- und Eroberungsreisen werden die Völker auf gleiche Weise geschichtet A. d. H.

250

Als Dunbar, von dem einige Beiträge zur Geschichte der Menschheit auch unter uns bekannt sind, des D. Tuckers, eines eitrigen Staatsschriftstellers, »True Basis of Civil Government« las, sagte er: »When the benevolence of this writer is exaltet into charity, when the spirit of his religion« (er war ein Geistlicher, Dechant von Bristol) »corrects the rancour of his philosophy, he will acknowledge in the most untutored tribes some glimmerings of humanity and some decisive indications of a moral nature.« Manchem Schriftsteller möchte man diesen Geist der Anerkennung der Menschheit im Menschen wünschen. A. d. H.

251

Teils in seinen Pastoralschriften, teils in den Aufsätzen seines Zöglings, des Herzogs von Bourgogne, ist dieses ersichtlich.

252

»Directions pour la Conscience d'un Roi« – nachgedruckt à la Haye 1747.

253

Überhaupt hielt er von bloßen Ergötzungsschriften nicht viel; bei unsern Urenkeln, glaubte er, wurden sie ganz außer Mode sein. Als unter lautem Beifall ein dergleichen Gedicht vorgelesen ward und man ihn fragte, was er von diesem Kunstwerk denke: »Eh mais, cela est encore fort beau,« antwortete er und meinte, dies »encore« werde nicht ewig dauren. Siehe »Eloge de St. Pierre« von d'Alembert.

254

»Œuvres de morale et de politique« de l'Abbé de St.-Pierre (Charles Irenée Castel), T. 1–16, Rotterd. 1741.

255

»Reise nach den Inseln Frankreich und Bourbon,« Altenb. 1774, Vorrede, S. 3.

256

»Études de la Nature,« Par. 1773. Man erwartet jetzt von ihm ein Werk, »Harmonie de la Nature pour servir aux éléments de la Morale,« das nicht anders als in einem guten Geist abgefaßt sein kann. Während der Revolution hat er sich weise betragen.

257

Der Lobspruch ist bekannt: »L'humanité avoit perdu ses titres; Montesquieu les a retrouvés.« Voltairen selbst ist, was man auch dagegen sage, die Menschheit viel schuldig. Eine Reihe von Aufsätzen zur Geschichte, zur Philosophie und Gesetzgebung, zur Aufklärung des Verstandes u.f. bald in spottendem, bald in lehrendem Ton sind ihr geschrieben. Seine »Alzire,« »Zaïre« u.f. desgleichen. A.d.H.

258

»System der Gesetzgebung,« Ansbach 1784.

259

»Principi di una Scienza nunva,« zuerst herausgegeben 1725.

260

Antonio Genovesi »Politische Ökonomie« ist im Deutschen durch eine Übersetzung bekannt; Galanti »Beschreibung beider Sizilien« desgleichen. Des ersten Storia del Commercio della gran Bretagna von Carry und seine Lehrbücher zeigen ebensoviel Kenntnisse als philosophischen und bürgerlich tätigen Geist. Auch Montesquieu hat er mit Anmerkungen herausgegeben. A. d. H.

261

Hierüber hat der Verfasser dieses Briefes eine besondere Abhandlung entworfen, die aber hieher nicht gehöret. A. d. H.

262

Daß Sammlungen von Besonderheiten des Menschengeschlechts hie und da, hierin und darin als Register, als Repertorien zu gebrauchen sind, wollte der Verf. dieses Briefes nicht leugnen; nur sie sind, als solche, noch keine Geschichte. A. d. H.

263

Br. 115.

264

De Pagès, »Voyage autour du monde,« Bern 1783.

265

S. 17; 18–62.

266

S. 137–148; 155–195.

267

T. 2.

268

Unter vielen andern nenne ich G. Forsters und Levaillants, vom letzte insonderheit seine neuere Reisen. Die Grundsätze, die in ihnen herrschen, wie Menschen und Tiere zu betrachten und zu behandeln sind, geben eine Hodopädie, die insonderheit den Engländern zu mangeln scheinet. Ihre Urteile über fremde Nationen verraten immer den divisum toto orbe Britannum, wo nicht gar den monarchischen Kaufmann; da ein Reisebeschreiber eigentlich kein ausschließendes Vaterland haben müßte A. d H.

269

Wer könnte es besser als Reinhold Forster geben? auch nur, wenn er ein schon gedrucktes Verzeichnis von Reisebeschreibungen mit seinen Urteilen begleiten wollte. A. d. H.

270

Vom ehrlichen Dobritzhofer erzählt in seiner »Geschichte der Abiponer,« T. 1, S. 113, Wien 1783. Eine ähnliche erzählt er S. 83 u.f., die eine gleiche Darstellung verdiente.

271

So heißt bei den Paraguayern die Morgenröte.

272

Einer unsrer Dichter versuchte es mit Cortes; er hörte aber weislich auf.

273

Von der Denkart der Römer hierüber in ihren besten Zeiten lese man den Lipsius, doctrina politica mit ihrem Kommentar, den Grotius, »Der iure belli et pacis« oder auch den guten Montaigne, Buch 1, Kapitel 5, Kapitel 6. Sie ist für unsre Zeiten sehr beschämend. A.d.H.

274

Loskiels Missionsgeschichte in Nordamerika, S. 160.

275

Diese und einige der folgenden Beilagen sind aus einer kleinen Schrift von vier Bogen gezogen, »Reden al Hallils,« Stendal 1781. Der Verfasser, den ich zu kennen wünschte, verzeihet gewiß, daß sie hier in einer veränderten Gestalt erscheinen A. d. H.

277

Pinto, Über die Handelseifersucht; übersetzt in der »Sammlung von Aufsätzen, die größtenteils wichtige Punkte der Staatswirtschaft betreffen«. Liegnitz 1776. Der Verfasser erstgenannter Abhandlung hat ihr folgende Stelle aus Bulion vorgesetzt: »Diese Zeiten, wo der Mensch sein Erbteil verliert, diese barbarischen Jahrhunderte, wo alles umkommt, haben jederzeit den Krieg zu ihrem Vorläufer und fangen mit Hungersnot und Entvölkerung an. Der Mensch, der nur durch die Menge etwas vermag, der bloß in der Vereinigung und Verbindung mit seinesgleichen stark ist, der nicht anders als durch den Frieden glücklich ist, hat die Wut, sich zu seinem Unglück zu bewaffnen und zu seinem Untergange zu streiten. Gereizt durch einen unersättlichen Geiz, verblendet durch eine noch unersättlichere Ehrsucht, entsagt er den Empfindungen der Menschlichkeit, wendet alle seine Kräfte gegen sich selbst an, bemühet sich, einer den andern zugrunde zu richten, und verursacht endlich seinen wirklichen Untergang Und nach diesen Blut- und Mordtagen, wenn der Nebel des Ruhms verschwunden ist, so sieht er mit einem traurigen Auge die Erde verwüstet, die Künste begraben, die Nationen geschwächt, sein eigen Glück zugrunde und seine wahre Macht vernichtet.«

278

Lauter Ausdrücke der Amerikaner bei ihren Friedensschlüssen und bei der Einweihung ihrer Friedensfrau.

279

Al Hallil nennet ihn Houmana.

280

»Ancient Metaphysics,« Band 3, Lond. 1784. Dieser Teil des großen Werks wäre wegen der gesammleten Tatsachen eines deutschen Auszuges gewiß wert. A. d. H.

281

Unter vielen andern erinnere ich hier abermals An Levaillants neuere Reise. Der Unterschied, den er zwischen Nationen, die von Europäern verderbt sind oder mißhandelt werden, und zwischen autonomischen Völkern bemerkt, ist schneidend. Seine Grundsätze, wie mit diesen umzugeben sei, sind auf der ganzen Erde anwendbar.

282

Von der sogenannten Erbsünde ist hier nicht die Rede; denn diese ist Krankheit. A. d. H.

283

»Essai sur la Science« 1796, vom Herrn Koadjutor von Dalberg. In diesem Entwurf sowohl als in der Schrift »Vom Bewußtsein als allgemeinem Grunde der Weltweisheit« (Erfurt 1793), in den »Betrachtungen über das Universum« (Erfurt 1777) und in jedem kleinsten Aufsatz ist das Thema dieser Schrift, »l'unité, composée de l'infini,« Inhalt und Sinnbild und »le caractère vrai, pur, énergique et moral« Charakter.

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität. 2 Bände, Band 2, Berlin und Weimar 1971.
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